Im Stahlgezwitscher
Jörg Scheller und Wolfgang Ullrich unterhalten sich über den Twitter-Account von Norbert Bolz.
Wolfgang Ullrich: Wir wollen uns an einem noch nicht etablierten Genre versuchen und einen Twitter-Account rezensieren, nämlich den des Medientheoretikers und Philosophen Norbert Bolz und seine über 1200 Tweets, die er seit August 2012 unter der Losung „Die Wahrheit in einem Satz“ publiziert hat. Vielleicht zählen Twitter-Accounts künftig genauso zum Werk von Wissenschaftlern und Schriftstellern wie Tagebücher und Briefwechsel, zumindest aber wird man kaum von ihnen absehen können, wenn man sich dafür interessiert, welche mentalen und intellektuellen Wandlungen eine Person erlebt hat oder wie sie sich in ihrer öffentlichen Rolle definiert.
Gleich mehrere Gründe sprechen dafür, sich das Twitter-Profil von Norbert Bolz vorzunehmen. So gehört er zu einer Minderheit heutiger Theoretiker, die dieses Medium aktiv und mit Ambition nutzen – vermutlich deshalb, weil es ihm so gut entspricht. Unser gemeinsamer ehemaliger Kollege an der HfG Karlsruhe, Daniel Hornuff, formulierte es 2014 treffend, als er schrieb, „Bolz begann zu twittern, als es Twitter überhaupt noch nicht gab“.[1] Er zeichnete sich immer schon durch einen sentenzenhaft verknappten Stil aus, ebenso hat es ihm bereits in seinen Büchern und bei Vorträgen Spaß gemacht, durch Zuspitzung zu provozieren. Twitter ist dafür umso geeigneter.
Der wichtigere Grund für unsere Beschäftigung mit dem Account von Bolz ist jedoch, dass sich in ihm die Geschichte einer Radikalisierung abspielt. Und eben darin ist er wohl symptomatisch. Bolz gehört zu der Generation älterer Männer, aus deren Reihen seit dem Herbst 2015 vielfach scharfe Kritik an der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung, namentlich an Angela Merkel geübt wird. Wie etwa auch Peter Sloterdijk, Rüdiger Safranski oder Jörg Baberowski steht Norbert Bolz damit auf einmal in der Nähe von Rechtspopulismus, AfD und Pegida. Seine Tweets erfahren von dort viel Zuspruch, der ihn offenbar nicht nur nicht stört, sondern sogar anspornt, noch polemischer zu formulieren und sich die Reiz- und Kampfvokabeln der rechten Szenen zu eigen zu machen.
Als er am 22. Dezember 2017 nach Demonstrationen von Arabern gegen Israel in Berlin die Berichterstattung kritisierte und nicht nur einen Vergleich zur „Kölner Sylvesternacht“ zog, sondern auch die Frage stellte, ob die Medien „warten“ mussten, „bis das Bundeskanzleramt die Richtung vorgab“, der Regierung also in verschwörungstheoretischer Manier eine Beherrschung und heimliche Manipulation der öffentlich-rechtlichen und privaten Medien unterstellte, war für mich endgültig klar, dass von dem Norbert Bolz, dessen medienphilosophischen und konsumtheoretischen Schriften ich über die Jahre hinweg wichtige Anregungen zu verdanken hatte, nicht mehr viel übrig geblieben ist. Wie kann sich jemand, dessen Verständnis von Liberalität immer auch geistige Unabhängigkeit umfasste, ja der es genoss, intellektuelle Überlegenheit mit stilvoller Eitelkeit in Szene zu setzen, auf einmal mit den krudesten Stammtisch-Ressentiments gemein machen?
Jörg, Dein Unmut und Unverständnis gegenüber den Tweets von Bolz kam in den letzten Monaten ebenfalls wiederholt zum Ausdruck, nicht zuletzt auch bei Twitter. So liest man am 18. Januar 2018 auf Deinem Account: „Rätsel des Tages: Wenn ein in gesicherten Verhältnissen lebender deutscher Hochschulbeamter sich als Systemopfer erlebt, vor dem Spiegel seine Krawatte zurecht(s)rückt und im Spiegelbild John Wayne erblickt, reimt sich sein Nachname auf ‚Holz‘ und sein Vorname auf fast nichts.“ Gab es einen Schlüsselmoment oder bestimmten Tweet von Bolz, der bei Dir dazu führte, Dich auch öffentlich dagegen aussprechen zu wollen?
Jörg Scheller: Als ich im vergangenen Jahr begann, Bolzʼ Tweets zu lesen, dachte ich zunächst, es handle sich um Satire: „Die Wahrheit in einem Satz.“ Wer könnte das ernst meinen? Auch die Liste derer, denen er folgt, erschien mir kurios: nur Männern, nur Deutschen, nebst einem (deutschen) Blog, einer (deutschen) „Social Media Think Unit“, einem dem deutschamerikanischen Philosophen Leo Strauss gewidmeten Account sowie einer national schwer zu verortenden Person. Damit zeigt er: Andere folgen. Mir wird gefolgt.
Im Laufe der letzten Jahre wurde jedoch immer deutlicher, wie ernst es Bolz ist. Wie Du erwähnt hast, radikalisierte er sich offenbar vor allem im Zuge der Flüchtlingskrise. Sein liberaler Konservatismus, der früher teils erfrischend dialektisch daherkam und im „Konsumistischen Manifest“ einen stellenweise irren – im positiven Sinne! – Höhepunkt fand, hat müder Regression Platz gemacht.
Es ist eine Sache, Kritik an Merkels Entscheidungen zu üben und konstruktive Vorschläge in die öffentliche Debatte einzubringen. Etwas anderes ist es, Öl ins Feuer zu gießen, Radikale zu umgarnen und die Krise für die Verbreitung von Ressentiments zu missbrauchen. In Bolzʼ Tweets finde ich Klagen, Sorgen, Beschwerden, Untergangsprophetie und typisch Spengler’sche Kulturkritik von distanzierter Warte aus – aber wenig mehr, sieht man einmal vom häufig implizierten Zurück-in-die-Zeit-als-alles-besser-war ab.
Bolz twittert heute bevorzugt über pappkameradenhafte Kollektivsingulare wie „der Islam“, wobei er Islam mit Islamismus verwechselt. Dabei stehen seine Aussagen auf Twitter, anders als etwa in Wissenschaftspublikationen, in keinem differenzierenden Kontext. Eine Satzkeule wie „die Journalisten von ARD und ZDF machen Werbung für den Staat“ könnte von Reichsbürgern stammen. In diesen grellen Erregungsteppich webt Bolz zwar immer wieder mattere Flicken ein: „Man lasse sich nicht durch die Lautstärke täuschen: Fanatiker sind schwache Menschen.“ Wie aber wollte man diese Diagnose in Einklang bringen mit dem folgendem, doch eher fanatischen Verschwörungstweet: „Der ‚neue Mann‘ ist nicht das Ergebnis der Selbstbesinnung des alten, sondern ein Züchtungsprojekt größten Ausmaßes“? Wer, zumal in Deutschland, ein „Züchtungsprojekt“ unterstellt, weiß genau, welche Geister er weckt. Bolz unterstellt: Heute züchten nicht die Nazis, sondern die Illuminati der linken Gutmenschen! Aus welcher Ecke da Applaus kommt, ist klar. Auch die Botschaft „Wir haben die Kontrolle über unsere Vergangenheit verloren, die mittlerweile umgeschrieben wurde und nun als Kette von Schandtaten erscheint“ ist ganz im Sinne des völkischen Flügels der AfD. Mitunter verbreitet Bolz auch banale Fake News als performativen Selbstwiderspruch: „Es gibt keine Redefreiheit für die Gegner der Gutmenschen.“ Es ist ein Treppenwitz, dass die Rede derer, die Redeverbote beklagen, derzeit so laut und allgegenwärtig ist. Bei Bolz zumindest dominiert eine einzige verhärtete Sichtweise: aufrechte Rechtskonservative gegen weltfremde Gutmenschen.
Wolfgang Ullrich: Einseitig ist der Account von Bolz noch in anderer Hinsicht. Du hast bereits darauf hingewiesen, wie wenigen anderen er folgt; vor allem aber beteiligt er sich nie an Debatten und antwortet nicht auf Fragen oder Gegenreden zu seinen Tweets. Er nutzt Twitter also eigentlich wie ein altes Medium, das nur einen Sender kennt und alle anderen – darunter mehr als 5500 Follower – auf Empfänger reduziert. Das wirkt schnell etwas von oben herab, so als sei es unter seiner Würde, sich mit anderen überhaupt abzugeben. Anfangs sah er Twitter offenbar als einen Ort für Kalendersprüche an und veröffentlichte ziemlich regelmäßig einen Tweet pro Tag. Dann änderte er seine Strategie. Mittlerweile folgen nach etlichen Tagen Pause meist mehrere Tweets unmittelbar hintereinander. Das wirkt wie ein Stakkato und kommt auf den Timelines seiner Follower als geballte Ladung rüber, die sich kaum ignorieren lässt.
Das Motto „Die Wahrheit in einem Satz“ wird durch diese Häufung an Sätzen allerdings konterkariert. Übrigens hat er selbst dieses Motto in einem seiner ersten Tweets interpretiert: Es sei „natürlich ironisch“ zu verstehen, was jedoch gerade nicht heiße, dass es „nicht ernst“ gemeint sei. Eine ironische Haltung konnte man ihm 2012 auch noch abnehmen, sie passte sogar gut zu dem Dozieren aus Distanz und dem leicht überheblichen Tonfall seiner Tweets. Manchmal waren diese sogar durchaus geistreich-witzig, so wenn es im Oktober 2012 hieß „Design beginnt, wenn nichts mehr in Form ist“.
Nur der kleinere Teil der Tweets sind in der Anfangszeit von Bolz’ Account politisch – und nie überschreiten sie den Rahmen dessen, was zu einer forsch liberalen Position gehört. Geäußert wird die Sorge vor zu viel staatlichen Eingriffen und Reglementierungen, und es gibt eine Abneigung gegenüber 68ern, Grünen und Menschen, die die Moral über den Markt stellen. In diesem Zusammenhang fallen bereits Reizworte wie ‚Gutmenschen‘ oder ‚Political Correctness‘, aber nicht in rechtspopulistischer Agitation, sondern als Polemik eines freiheitsliebenden Menschen, der seinen Widerwillen gegenüber Bevormundung und Anpassung zum Ausdruck bringt. Sein Glaube an freie und globalisierte Märkte geht umgekehrt so weit, dass Bolz im Januar 2013 sogar twittert: „Einwanderer sind sozialer Reichtum.“
Auch sonst finden sich zumindest bis 2015 immer wieder Tweets, die aus heutiger Sicht überraschen. Angela Merkel sei „für uns ein Glücksfall“, heißt es im Juni 2014, ja Deutschland habe „seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs“ ein „unglaubliches Glück“ mit seinen Kanzlern gehabt. Das schreibt Bolz im Januar 2015 – wenige Tage vor dem islamistischen Attentat auf die Redaktion von Charlie Hebdo in Paris. Dieser Anschlag scheint für ihn eine Zäsur zu bedeuten, denn von diesem Zeitpunkt an wird der Islam zu einem wichtigen Thema auf seinem Account. Gegen den Islam ist er aber nicht nur als Liberaler, sondern auch als Christ, weshalb er besonders der Aussage, der Islam gehöre zu Deutschland, des öfteren widerspricht. Provoziert Bolz mit christlich-konservativen Standpunkten sonst bei den Themen ‚Familie‘ und ‚Geschlechter‘, ja mit Thesen gegen den Feminismus, so erweist sich seine Ablehnung des Islam nun als deutlich stärker. Wenn er im August 2015 den Satz „Der Feminismus ist das stärkste Bollwerk gegen die Islamisierung der Welt“ twittert, erscheint er ausnahmsweise sogar als Verbündeter von Alice Schwarzer.
Gleichzeitig ändert sich seine Einstellung gegenüber Einwanderern, ja gegenüber einer multikulturellen Gesellschaft. Gerade an diesem Sujet lässt sich seine politische Radikalisierung exemplarisch nachvollziehen. Sein erster Tweet gegen Multikulturalismus stammt vom Januar 2015 und behauptet, dieser sei „das stillschweigende Eingeständnis, dass die Integration gescheitert ist“. Drückt sich darin die Sehnsucht nach kultureller Homogenität aus, ja wird unterstellt, Vielfalt bedeute zwangsläufig Chaos, Multikulturalismus also Schwäche, so sieht Bolz drei Jahre später in ihm eine Strategie, ja ein Programm. Nun heißt es: „Im Multikulturalismus steckt eine Lektion: Wir sollen lernen, uns selbst zu verachten.“ Wer sich selbst verachtet, gibt sich aber auch selbst preis oder widersetzt sich zumindest nicht gegen die eigene Abschaffung. Bolz behauptet in seinem Tweet also nicht weniger als den gezielten – doch von wem lancierten? – Plan, „wir“ – die Deutschen?, die westlichen Kulturen? – sollten mit der Waffe ‚Multikulturalismus‘ in den Untergang getrieben werden. Das erinnert stark an die Lieblingsformel der Identitären Bewegung, die vor einem „Großen Austausch“ warnt und damit ihrerseits suggeriert, es gebe geheime Strategien und Verschwörungen gegen die eigene Kultur und Identität.
Noch weiter aber treibt Bolz es in einem Tweet vom März 2018. Nun bietet er eine alternative Erklärung dafür an, wie dasselbe Ziel, nämlich dass „sich diejenigen, die ‚schon länger hier leben‘, alles gefallen lassen“, also jegliche Selbstbehauptung aufgeben, erreicht worden sei. So unterstellt er, „das vollends entnazifizierte Deutschland ist das Land der unbegrenzten Zumutbarkeiten“. Für Bolz führt also, man mag es kaum glauben, ein direkter Weg von der Entnazifizierung zum Untergang. Zugleich stimuliert er auch noch den Hass ultrarechter Verschwörungstheoretiker auf Angela Merkel, von der bekanntlich der Vorschlag stammt, alternativ zu ‚Volk’ lieber von Menschen zu sprechen, „die schon länger hier leben“. Ein solcher Tweet bringt Bolz innerhalb von Stunden viele hundert Likes, während sein erster Tweet gegen Multikulturalismus gerade mal gut zwanzig erklärte Anhänger fand. So sieht also die Twitter-Karriere von jemandem aus, der seine liberal-konservative Haltung einem Verfolgungswahn opfert.
Jörg Scheller: Vielleicht beruht dieses Opfer nicht – oder nicht nur – auf Verfolgungswahn, sondern schlicht auf Social-Media-Opportunismus: negativity sells. Der Like-Button ist der kleine Bruder der Apokalypse. Verletzte Eitelkeit mag ein weiterer Grund sein. Bolz fühlt sich bei seinem Arbeitgeber, der Technischen Universität Berlin, nicht ausreichend wertgeschätzt. Auf Twitter indes erfährt er Anerkennung, ohne, wie Du erwähnt hast, an kritischen demokratischen Debatten teilnehmen zu müssen. Was die Nicht-Reaktion auf Kommentare betrifft, hat Bolz seine Haltung im November 2015 immerhin, nun ja: begründet: „Wer versucht, sein Ansehen in der Öffentlichkeit zu verteidigen, verspielt es.“
In Bolzʼ Tweets waltet der ‚Thymos‘‚ also der von der Neuen Rechten beschworene ‚Zorn‘ und ‚Stolz‘, in Beamtengestalt. Aus komfortabler Distanz, umhegt von Väterchen Staat, gut abgesichert durch ein unkündbares Beschäftigungsverhältnis, das Bolz all seinen Klagen über das Elend der Universitäten zum Trotz aufrechterhält. Was das mit dem von ihm häufig beschworenen liberalen Geist und Mut zu tun haben soll, ist mir schleierhaft. Bolz zählt ja zu denjenigen Professoren, die auch in der Privatwirtschaft überleben könnten. Er ist in den Massenmedien präsent, er ist ein gefragter Redner und er verdient gut damit.
Interessant ist, welche Bolz-Tweets seit 2015 die meisten Likes erhalten haben. Im besagten Jahr bewegen sich die Like-Zahlen meist im einstelligen und unteren zweistelligen Bereich. Seine liberalkonservative Dialektik blitzt, ganz im Sinne von Günther Andersʼ „Übertreibung in Richtung Wahrheit“, noch häufiger auf: „Aller Probleme zum Trotz: Dass Deutschland das Gelobte Land aller Flüchtlinge ist, könnte uns mit Stolz erfüllen.“
Die ersten Tweets, mit denen Bolz an der Hundert-Likes-Grenze kratzt und sie dann überschreitet, handeln, wenig überraschend, von Gutmenschen, die andere qua Medienpolitik mundtot machen, und Denkverboten mit Blick auf den Islam. Im Laufe des Jahres 2016 steigen die Likes-Werte an, es gibt kaum noch solche im einstelligen Bereich. Wiederkehrende Themen sind Gesinnungsethik, Elitenherrschaft, Bevormundung, Islam, Meinungsfreiheit, linke Gutmenschen und Intellektuelle, Flüchtlinge, deutscher Schuldkult, falsche Toleranz, politische Korrektheit, usw. Entscheidend ist, was nicht erwähnt, was nicht kritisiert wird, beispielsweise Gewalt oder Terror von rechts sowie die unbestreitbaren Verdienste von Umweltschützern – das klassische Prinzip der Ideologie. Überraschungen werden seltener, der eben noch kritisierte Gesinnungskanon verfestigt sich. Gleichwohl begegnet man immer noch gewitzten, lesens- und bedenkenswerten Aphorismen: „Frei ist, wer die Kontingenz der eigenen Existenz anerkennen kann“; „Naiv ist, wer an Fakten glaubt.“ Punktlandungen!
In der zweiten Jahreshälfte steigen die Likes-Höchstwerte weiter an, Bolz eilt von Rekord zu Rekord: 313 für einen Tweet gegen die „deutsche Angst, als rechts zu gelten“, 135 für einen Tweet gegen Gender-Mainstreaming – in der Tat ja ein ähnlich idiotischer Begriff wie ‚Political Correctness!‘ –, 162 für einen Tweet gegen den „politischen Unsinn“ der „Willkommenskultur“, 282 für einen Tweet gegen Moral auf Kosten politischer Kompetenz, 241 für einen Tweet gegen „regierungstreue Journalisten“, 357 für einen Tweet, der „Postfaktizität“ in den Sozialen Medien verteidigt, und so fort.
Im Jahr 2017 setzt sich der Trend zu mehr als 100 Herzchen fort. Die gibt es vornehmlich für Bolzenschüsse gegen Merkel, „Völkerfreundschaft“, „Champagner-Sozialisten“, „Tugendterror“, die Groko, die „schwere geistige Krankheit“ der evangelischen Kirche, den „Zeitgeist“ im Allgemeinen, „deutschen Selbsthass“, die „Schuldenunion“, und so fort. Diesem Schreckenskabinett werden autofahrende, männliche Konservative mit gesundem Menschenverstand und starkem Rückgrat entgegengestellt. Nebenbei fabuliert Bolz dann noch von der „Allgegenwart des Terrors“, nur um wenig später zu zwitschern: „Am leichtesten kann man in Deutschland Geld verdienen, indem man Gefahren erfindet …“ Hagen Rether hat einmal sinngemäß und sehr richtig gesagt: Nicht Terror, sondern Reaktionen auf Terror bringen Staaten zu Fall.
Obwohl Bolz viele Positionen vertritt, die mit dem Programm der AfD kompatibel sind, gibt er im September 2017 an, man könne diese wegen ihres „rechten Rands“ nicht wählen. Hat er etwa Angst, als „zu rechts“ zu gelten? Dennoch fliegen die Herzen der Wutbürger und der Wutbots Bolz auch 2018 zu. Es gilt weiterhin: Je polemischer, je polarisierender, desto mehr Likes. Auf einen seiner infamen „Kollektivschuld“-Tweets, in denen er immer wieder für „die“ und von „den“ Deutschen spricht, antwortete ich im Januar dieses Jahres: „Die real existierenden Deutschen, werter Herr Bolz, sind längst weiter als die imaginären Deutschen Ihrer thymosdurchpulsten Kalenderspruchsammlung. Theodor Heuss sprach von kollektiver Scham, Werner Schmalenbach von kollektiver Befangenheit. Ach wäre sie doch nicht, die Empirie!“ Dahingehend stören mich nicht nur Bolzʼ politische Einseitigkeit und seine gesinnungsethische Befangenheit – die gibt es auf Seiten der Vulgärlinken auch –, sondern seine intellektuelle Unredlichkeit und sein fehlender Anstand. Bolz unterbietet sein eigenes Potential und Niveau. Seine Einseitigkeit ist strategisch, nicht, wenn man so will, „authentisch“; wie er eben auch nicht der Lonesome Cowboy ist, als der er sich ausgibt, sondern ein Berliner Beamter. Er könnte anders. Er weiß es besser. Aber vielleicht dient sein Account ja einfach nur der Verifizierung einer These, die er 2015 – in einem Satz – verkündete: „Wenn man viele Anhänger hat, kann man seine Meinung nicht mehr ändern.“
Wolfgang Ullrich: Damit lieferst Du schon eine Erklärung dafür, warum Bolz sich so stark radikalisiert haben könnte: Beifall. Ja, die große Nachfrage nach deftigen Provokationen bestärkt ihn darin, immer häufiger Entsprechendes zu liefern. Zugleich bekommt er natürlich mit, dass er sich viele neue Feinde macht. Unter einigen seiner Tweets finden sich mehr kritische Kommentare als zustimmende Äußerungen. Ich schließe auch nicht aus, dass Bolz bereits weniger Vortragseinladungen und Textaufträge als früher erhält – und schlimmstenfalls bald sogar darauf angewiesen sein wird, sein Geld vom Staat – demnächst als Emeritus – zu bekommen. Aber vielleicht motiviert ihn der Widerstand, den er erfährt, genauso wie der Beifall. Beides zusammen sorgt für den Eindruck, etwas Wichtiges, Umstrittenes, gar Existenzielles zu tun. Und das kann sehr verführerisch sein. Denn normalerweise leiden Geisteswissenschaftler ja darunter, dass das, was sie machen, als müßig, als beliebig und völlig folgenlos eingeschätzt wird – oft sogar von ihnen selbst. Einige werden mit wachsender Routine deshalb zynisch oder auch depressiv. Eine Radikalisierung, die für klare Freund-Feind-Gegensätze sorgt, stellt eine alternative Reaktion dar. Zumindest kurzfristig mag die eigene Arbeit damit wieder sinnvoll erscheinen. – Vermutlich gibt es noch ganz andere Erklärungen für die Eskalationen auf dem Twitter-Account von Norbert Bolz. Doch müsste jede These dazu zumindest dreierlei berücksichtigen:
1. Die Radikalisierung der politischen Haltung kann in diesem Fall nicht durch eine Veränderung in den Lebensumständen ausgelöst worden sein. Bolz hat durch die Ankunft von Flüchtlingen oder andere Ereignisse keine persönlichen Nachteile oder Einbußen erlitten – zumindest gibt sein Account keinen Hinweis darauf, und seine sozioökonomische Situation lässt das ebenfalls nicht vermuten. Wieso also wird jemand zum Radikalen, zum Büttel des ‚Thymos‘, der noch genauso privilegiert leben kann wie zuvor?
2. Die Radikalisierung überrascht bei jemandem, der dank Alter und Beruf eigentlich davor geschützt sein müsste, auf eine gesellschaftliche Unruhesituation mit starken Meinungsausschlägen zu reagieren. Wenn ein Zwanzigjähriger sich zu Tabubrüchen verführen lässt und deshalb einer radikalen Partei anschließt, ist das nachvollziehbar, und wenn sich jemand ohne intellektuelle Schulung, ja ohne ideengeschichtliche Kenntnisse auf verschwörungstheoretische Denkfiguren einlässt, kann man das auch hinnehmen. Aber wieso kann ein Mann mit jahrzehntelanger Erfahrung und intellektueller Kraft einem Erregungsstrudel nichts mehr entgegensetzen und zieht sogar noch andere in diesen Strudel hinein?
3. Schließlich verwundert, dass die Radikalisierung, bisher zumindest, nicht sämtliche Bereiche erfasst. Wir haben ja beide auf Tweets verwiesen, in denen Bolz sich nicht anders äußert als früher auch, ja in denen der freie und gewitzte Denker nach wie vor präsent ist. Wie aber kann man einerseits zur Anerkennung von Kontingenz auffordern und andererseits verschwörungstheoretische Szenarien stimulieren? Und wie lässt sich eine rechtsradikale Haltung mit wirtschaftsliberalen Ideen oder mit christlich-wertkonservativen Überzeugungen in Einklang bringen? Ist sie in seinem Fall vielleicht doch vor allem einer Sehnsucht danach geschuldet, endlich einmal etwas zu machen, das weh tut und Folgen hat?
Jörg Scheller: Letztlich lässt sich in diesen Zusammenhängen nur spekulieren. Bolz könnte natürlich entgegnen, dass es ihm gerade nicht um sich selbst gehe – in der Tat könne er sein privilegiertes Leben wie bislang fortsetzen –, sondern dass er sich um Land, Leute, Heimat sorge. Dass er sogar ein Opfer bringe: Er werfe seine Reputation als Wissenschaftler in die Waagschale, sehe sich angesichts der Drastik der Lage leider gezwungen, zu drastischen Methoden zu greifen – man befinde sich eben im Ausnahmezustand, in welchem die üblichen Gepflogenheiten und Routinen hinfällig würden.
Das wäre eine (Schein)Argumentation, wie man sie oft von Hasardeuren hört: Eigentlich würden sie gar nicht tun wollen, was sie da täten, aber die da drüben, die hätten schließlich angefangen, da könne man doch gar nicht anders, da müsse man sich doch wehren, da müsse man doch mit den gleichen Waffen … und überhaupt, wenn die Merkel, wenn die Lückenpresse nicht wäre, würden auch sie ganz anders… Kurzum: Der Zweck heiligt die Mittel. Gerade der Medientheoretiker Bolz sollte aber wissen: the medium is the message.
Das setzt eine Spirale der Idiotie in Gang, über die die Initiatoren letztendlich die Kontrolle verlieren, ja die kontrollieren zu können schlechthin eine Utopie ist. Wie oben erwähnt, richtet sich Bolz mit seinem Stahlgezwitscher nicht an eine Experten-Community, sondern an ein größtenteils anonymes Massenpublikum. Das ist etwas gänzlich anderes, als beispielsweise auf einer Konferenz mit kritischen Kollegen zu diskutieren. Verantwortung kann man nur übernehmen, wenn man Kontrolle über seine Handlungen hat. Im offenen Internet ist dies nur bedingt möglich.
Gerade deshalb sollte man in den Sozialen Netzwerken einen umso höheren diskursethischen Anspruch vertreten und, im Sinne von John Rawls, nur solche Argumente in den Diskurs einbringen, die dazu beitragen, ein geordnetes politisches Gemeinwesen zu generieren und die öffentliche Vernunft zu stärken. Aber das ist natürlich ein frommer, ja ein realitätsferner Wunsch. Der Fall Bolz zeigt, dass sich die Pubertät von der Physiologie emanzipiert hat, dass sich gerade auch unter unseren älteren Semestern – Matthias Matussek wäre ein weiteres Paradebeispiel – eine Lust am Provozieren, Polarisieren und Radikalisieren breitgemacht hat.
Das bestätigt eine These des Philosophen Leszek Kołakowski: Wohlstandsgesellschaften der Nachkriegszeit zeichneten sich durch Neotenie aus, durch den Fortbestand jugendlich-adoleszenter Merkmale bis ins hohe Alter.[2] Ökonomisch sei das von Vorteil, sind Menschen so doch länger innovativ und dynamisch. Die Kehrseite ist, dass auch die pubertäre Lust am Vernunftwidrigen und Zündeln bestehen bleibt. Vielleicht ist Bolzʼ Twitter-Account ja ein Beleg dafür, dass die Pubertät geriatrisch geworden ist.
Zu Deinem dritten Punkt würde ich abschließend sagen: Rechtsradikalismus, Wirtschaftsliberalismus und christlicher Wertkonservatismus sind nur um den Preis eines Sacrificium Intellectus – eines Opfers des Verstandes – amalgamierbar. Was nicht passt, wird passend gemacht. Wo gehobelt wird, da fallen Späne. Wir machen uns die Welt, widde-widde wie sie uns gefällt. Derlei doch eher grobe Tätigkeiten übernehmen Internettrolle, auf Klickzahlen schielende Massenmedien sowie neuerdings gewisse Präsidenten sehr gewissenhaft. Aber warum sollten Wissenschaftler und Akademiker in dieselbe Kerbe hauen? Warum sollten gerade sie zur Eskalationsspirale beitragen? Wäre es nicht ihre Aufgabe, ein Korrektiv zu bilden und mit nüchternen, fundierten, aber durchaus engagierten und pointierten Beiträgen der Polarisierung der Gesellschaft entgegenzuwirken? Auch das wäre ja eine Handlung, die Folgen zeitigt; zumal eine ehrenhafte, und damit Thymos-kompatible. Aber diese Chance hat Bolz wohl bereits verspielt. Eine ästhetische Komponente mag dafür mitausschlaggebend sein: Wie prasselt und lodert es doch erhaben, wie dramatisch wallet doch der schwarze Rauch, wenn das Öl ins Feuer schießt!
Jörg Scheller ist Dozent für Kunsttheorie und Kunstgeschichte sowie Leiter des Bereichs Theorie im Bachelor Kunst & Medien an der Zürcher Hochschule der Künste.
Wolfgang Ullrich ist freier Autor.
Anmerkungen
[1] Daniel Hornuff: Denken designen. Zur Inszenierung der Theorie, Paderborn 2014, S. 57.
[2] Vgl. Leszek Kolakowski: Die Gegenwärtigkeit des Mythos, München 1973, S. 43 ff.