Politischer Pop als Ideologiekritik
[Auszug aus dem Buch »Blumfeld und die Hamburger Schule. Sekundarität – Intertextualität – Diskurspop«, V&R unipress, 2016]
Die Rede über die »Hamburger Schule« weist folgende Merkmale auf:
a) Die vom lyrischen Ich vorgenommene Reflexion des Verhältnisses Ich – Gesellschaft bzw. Ich – Außen, die dialektisch und im Akt der Reflexion dieses lyrische Ich konstituiert,[1]
b) der Bezug auf bestimmte Referenzpunkte aus dem kulturellen Archiv (Adorno, Sixties-Bands etc.), Zitathaftigkeit und Bezug auf das Außen des Primärtextes als textkonstituierendes Verfahren – vgl. a),
c) ein Hang zur Intellektualisierung und zu einem poetologischen Konzept, das von abstrakten Prämissen (Theorien) ausgeht,
d) korrespondierend mit a): Eine Tendenz zur Selbstreflexion hinsichtlich des ›Ortes‹/des Mediums, von dem aus bzw. in dem der Text geäußert/veröffentlicht wird, d. h. ein reflektiertes Verhältnis zur angloamerikanischen Popmusik, zu anderen deutschsprachigen Strömungen, zur Popkultur, zum politischen Kontext usw.,
e) ein anti-rockistischer Ansatz, ohne formalen Eigenschaften des Rock gänzlich zu verabschieden. Das beinhaltet vor allem eine Kritik an Zuschreibungen wie ›Echtheit‹ und ›Authentizität‹ und eine Überbetonung von Künstlichkeit und Gemachtheit,
f) vorwiegend deutschsprachige Songtexte (Hochdeutsch),
g) ein linkspolitisch motiviertes und kritisches Verfahren, das sich im Gegensatz zum klassischen Protestsong auch als eigenständiges ästhetisches Gebilde begreift und seinen Protest in der Analyse des gesellschaftlichen Kontextes und der Bedingungen von ›Subjektivität‹ entwickelt,
h) eine intellektualisierte Form von Rock- bzw. Popmusik, die sich im Zuge eines ›post-adoleszenten‹ Verfahrens in komplexer und analytisch anspruchsvoller Art und Weise im jugend- und subkulturellen Kontext positioniert.
Diese miteinander korrespondierenden Eigenschaften sollen im Folgenden mit Blick auf zeitgenössische literatur- und kulturtheoretische Impulse zu einem Konzept der ›Sekundarität‹ verdichtet werden – ein Begriff, den Diedrich Diederichsen geprägt hat: »Das beste an bundesdeutscher Popmusik war ihre Sekundarität: ihr Bezugnehmen, Imitieren, Fixiertsein auf anglo-amerikanische Vorbilder« (Diederichsen 1990: o.S.). An dieser der Popkultur in Deutschland zugeschriebenen ›Sekundarität‹ lobt Diedrich Diederichsen ein »gescheitertes Bemühen um Eigenständigkeit«, aber auch das »Anerkennen der Künstlichkeit, des Zusammengesetztsein, des Kolonisiertsein, der westdeutschen Nachkriegspsyche und -kultur« (ebd.). Seine These führt er auf die Einschätzung zurück, dass es, anders als in Großbritannien und den USA, »keine Kontinuität deutscher Geschichte, deutscher Populärkultur, deutschen Widerstands oder deutscher [sic] Dissenz anderswo als bei Intellektuellen oder anderen wirkungslos Vergessenen gibt« (Diederichsen 1990: o.S.).
Nach Diederichsens Aussage besitzt deutschsprachige Popmusik seit ihrer Existenz den Status einer ›sekundären‹ Kunstform, in deren gescheitertem Bemühen um Originalität keine ›Naturalisierung‹ zustande kommt. Stattdessen reflektiert sie ihre ästhetische Praxis, die eigenen Verfahren und das Umfeld, in dem sie ausgeübt wird. Dieses Konzept, so soll gezeigt werden, lässt sich ungefähr seit Ende der 1970er Jahre – immer in Gegnerschaft zu einer emphatischen Verwendung des Rock-Begriffs – im deutschsprachigen Popdiskurs erkennen und wird in der Hamburger Schule Anfang der 1990er Jahre auf spezifische Art und Weise radikalisiert.
Die ›Sekundarität‹ der Hamburger Schule erstreckt sich in dem oben genannten Sinne auf mehrere Ebenen: Man macht nicht einfach nur Popmusik, sondern bringt deutschsprachige Texte hervor, die alles um sie herum mitreflektieren – Entstehungsbedingungen, gesellschaftspolitisches und lokales Umfeld, die eigene Textualität und den eigenen Status als ästhetisches Produkt. Gemäß diesem Konzept erscheint auch der Begriff »Diskurspop« als aussagekräftige Alternativbezeichnung bzw. als Ergänzung zu dem der »Hamburger Schule«.
Um das Sekundaritätskonzept popgeschichtlich zu verorten und zu spezifizieren, ist es sinnvoll, noch einmal einen diachronen Blick auf den popästhetischen Paradigmenwechsel nach dem Punk einzunehmen. Was die sekundaristische Ausrichtung von Popkultur in Deutschland und speziell der Hamburger Schule angeht, lassen sich einige Parallelen zur Musiklandschaft der späten 1970er Jahre aufzeigen, die sich im Übergang der Punk-Bewegung in eine Phase des Post-Punk erkennen lassen.[2]
In England, und dann mit einiger Verzögerung auch in Deutschland, hatte Punk dafür gesorgt, eine subkulturelle Infrastruktur inklusive eines Netzwerks unabhängiger Plattenfirmen zu etablieren – und darüber hinaus durch radikale Brüche mit ästhetischen und sozialen Normen den Nährboden für neuartige, popästhetisch ausdifferenzierte Ausdrucksformen bereitgestellt. Bands wie Blondie, Devo, Gang of Four, Joy Division, PiL, Talking Heads und Wire, um nur einige wichtige Vertreter zu nennen, entwickelten das Punk-Paradigma der späten 1970er Jahre nun unter dem heute gängigen Überbegriff »Post-Punk« ästhetisch weiter.
In Deutschland sorgten der aus dem Punk adaptierte Do-It-Yourself-Gedanke, die ebenfalls vom Punk übernommene, sich unter dem Schlagwort »Neue Deutsche Welle« entfaltende Lokalisierung von Pop im deutschsprachigen Kontext,[3] gepaart mit einer ausgeprägten experimentierfreudigen Offenheit auf Produktions- und Rezeptionsseite, für eine integrative Neuverhandlung dessen, was unter Pop geläufig war: Neben der Deutschsprachigkeit fand eine Vielzahl von bisher artfremden Themen, Motiven und Verfahren ihren Weg in die Popmusik.[4] Die unter diesen Prämissen veröffentlichten Tonträger durften künstlicher, ironischer und intellektuell avancierter sein als noch im Punkrock, der in England über die Station des Post-Punk eine Entwicklung hin zu New Wave und damit zur gesteigerten Artifizialität durchgemacht hatte.
Unter letzterem Oberbegriff wurden Elemente des Punk in ein Pop-Konzept überführt, wobei sich die Orientierung am Punk nicht auf die Domestizierung seiner aggressiven musikalischen Elemente beschränkte, sondern auch modische und allgemein performative Faktoren aus dem Punk übernommen wurden. Das New-Wave-Konzept, so betont Thomas Hecken, trat dabei »noch nicht in Konkurrenz zu punk, sondern betont bloß dessen weniger energetisch-direkten Zweig« (2009: 371).
Auch in intellektuell avancierten Kreisen rezipiert, wurden Punk und New Wave für diese Klientel dadurch reizvoll, dass »aggressive avantgardistische, künstlerische Ideen für Distanz zu den vorherrschenden Formen der Populärkultur jener Tage (besonders zu den um Echtheit und Friedlichkeit bemühten Formen der Alternativkultur)« (ebd.) sorgten. Begünstigt wurde der Zulauf zu Punk und Neuer Deutscher Welle, so analysiert Peter Kemper in einem bereits 1983 verfassten Essay, durch eine »überall gegenwärtige Langeweile, welche viele Heranwachsende zur Neuen Deutschen Welle-Bewegtheit zog« (1998: 302). Weiter hebt Kemper hervor, dass »Kategorien wie ›schön‹, ›harmonisch‹ und ›handwerklich perfekt‹« (ebd.: 303) an Relevanz einbüßten zugunsten von Kriterien wie »›Heftigkeit‹, ›Irritation‹ und ›Härte‹« (ebd.). Erst die allmähliche »Aneignung von Elementen des Punk-Stils durch die allgemeinere, kommerziellere Mode« (Hecken 2009: 372) sorgte für eine Differenzierung zwischen Punk und New Wave, sodass es im New Wave schließlich zu einer Steigerung des Künstlichkeitscodes kam und Diedrich Diederichsen das Jahr 1982 als »rundum gutes Jahr« bezeichnen konnte:
»Das Projekt, durch Historisierung und Relativierung aller Musikelemente eine neue Pop-Musik-Art auf die Beine zu stellen, zeitigte in Form von ABC u. a. seine schönsten Erfolge. Niemand glaubte mehr an den natürlichen Ausdruck. Alle Elemente waren referentiell, bezogen sich auf die Historie der Pop-Kultur, nichts war mehr unschuldig, alles überspitzt bewußt, intellektuell, campy und trotzdem schön und berückend. Alle redeten von Leidenschaft beim Verknüpfen der historischen Elemente. Sänger heulten und emanzipierten das Sprechen von ›Liebe…an einem anderen Ort‹ (Barthes). Das Roxy Music-Projekt einer nicht mehr herausgeschrieenen, sondern analog zum System der Sprache aus bedeutenden musikalischen und außermusikalischen Zeichen angeordneten Pop-Musik hatte sich durchgesetzt. Die Elemente Kleidung, Image, Interview-Statements, die sogenannten Äußerlichkeiten, waren emanzipiert zu eigenständigen Ausdrucksmitteln. Pop-Musik war eine komplizierte, aber lustige und effiziente Kunst geworden.« (Diederichsen 1985: 41f.)
Die intermedial wirksame semiotische ›Aufgeladenheit‹ der Popkultur wurde in der Entwicklung von Punk zu New Wave durch die Hinwendung zur Artifizialität noch verstärkt. Somit vollzieht sich in der Abkehr von »der direkten Rede des Rock« (Büsser 2004: 142) und der gleichsam als ›primär‹ zu bezeichnenden Unmittelbarkeit ›herausgeschrieener‹ Popmusik eine Entwicklung hin zu ›Sekundarität‹, die sich durch eine komplexe Codiertheit der verwendeten Zeichen, ein »maskenhafte[s] Spiel« (ebd.), äußert und eine starke Ausweitung des Repertoires popästhetischer Topoi zur Folge hatte.[5]
Diesbezüglich nahm in Deutschland Alfred Hilsberg mit seinem Label ZickZack eine Vorreiterrolle ein, indem er ein Experimentierfeld für unkonventionelle Entwürfe deutschsprachiger Popmusik bot. Anfang der 1980er Jahre brachte das Label Bands wie Palais Schaumburg oder Die Zimmermänner hervor, die auf eine künstliche und spielerisch-ironische Art und Weise beispielsweise auch Elemente ›hoher Kunst‹ integrierten. Die Zimmermänner betitelten eines ihrer Alben »Goethe« (1984), was im Zuge des Punk und dessen Protest gegen Intellektualismus und Bildungsbürgertum wohl nicht denkbar gewesen wäre.
Palais Schaumburg, die mit einem dadaistischen Stil in Verbindung gebracht wurden, nahmen verschrobene textliche und musikalische Elemente in ihr Werk auf. Die »Sinnzertrümmerung in Dada-Tradition« (Büsser 2004: 133) entsprach keinesfalls der Unmittelbarkeit und Einfachheit des Punkrock. Die Artifizialität in der Phase nach dem Punk lässt sich gut im Werk des Palais-Schaumburg-Sängers Holger Hiller nachvollziehen.[6] Schon während der Zeit bei Palais Schaumburg strapazierten seine Lyrics sowohl die Grenzen von New Wave/Neuer Deutscher Welle als auch der Kategorien »Pop« und »E-Kunst«.
Wo Dieter Wrobel zwischen denjenigen Repräsentanten der NDW unterscheidet, die »im Sprach- und Motivbestand des Schlagers nach Parodiefähigem suchten« und Gruppen wie Palais Schaumburg, die »gewagteste Metaphern zu ungewohnten Konstellationen [konstruierten]« (2007: 437), scheint Hiller in seinem Verfahren als Solo-Künstler über diesen Kategorien zu stehen. Neben seinem ausgeprägten Kunstanspruch finden sich bei Hiller auch Auseinandersetzungen mit schlagerähnlichen Ausdrucksformen, etwa eine »lokalpatriotische Reminiszenz an Hans Albers« (Koch 1987: 153) auf der ersten Palais-Schaumburg-Single »Rote Lichter« (1980). Zu einer Vermischung von E- und U-Ästhetik kommt es in der von Hiller gemeinsam mit Thomas Fehlmann bearbeiteten Kinderoper »Wir bauen eine Stadt« (Hiller/Fehlmann 2006) von Paul Hindemith, die schließlich zum Palais Schaumburg-Song »Wir bauen eine neue Stadt« (Palais Schaumburg 1981) führte. Von Schneider wird dieses Werk als »Hiller-E-Absurdpop« (2008: 270) bezeichnet, womit er auf die Mischung von Avantgarde- und Popelementen verweist.
Auch die in Zusammenarbeit mit Andreas Dorau entstandene Mini-Oper »Guten Morgen Hose« (Hiller/Dorau 1984) stellt ein völlig eigenständiges Format zwischen Pop- und E-Kunst dar: Im Gegensatz zur traditionellen Oper mutet »Guten Morgen Hose« zwar avantgardistisch und ›schwer verdaulich‹ an, ist dafür aber mit einer Länge von knapp zwölf Minuten schnell konsumierbar. Die Entgrenzung der Formate lässt sich auch in einer Annäherung der Spieldauer erkennen – der Popsong wird länger, die Oper kürzer. Wenn Peter Wagner jedoch in Bezug auf Bands wie Palais Schaumburg und Der Plan von einer »kulturbeflissene[n] Avantgarde« (1999: 141) spricht, die Dadaismus, Surrealismus und die Kulturgeschichte zitiert, wird nicht berücksichtigt, dass Hillers, Fehlmanns und Doraus vermeintliche Kulturbeflissenheit durch einen ironischen, bisweilen respektlosen und sicherlich nicht um Distinktionsgewinn bemühten Umgang mit E-Kultur relativiert wird. Dies veranschaulicht etwa die Tatsache, dass auf dem Cover von Hillers und Doraus Mini-Oper das Abzeichen der für die Veröffentlichung von Klassischer Musik bekannten Plattenfirma Deutsche Grammophon zitiert wird (Abb. 11).
Zutreffend bleibt freilich, dass anhand der von Wagner genannten Bands gut beobachtet werden kann, wie Popästhetik nach dem Punk für Einflüsse aller Art – unter anderem avantgardistische Ansätze – anschlussfähig gemacht wurde und sich Pop hier endgültig als ›sekundaristische‹ Kunstform erwies. Der spätestens Anfang der 1980er Jahre stattfindende popkulturelle Paradigmenwechsel verdrängt demnach die in den 1960er und 1970er Jahren dominante »authentizistische Sicht auf Rock- und Popmusik« (Hinz 2003: 307) zugunsten eines semiotisch-spielerischen Künstlichkeitscodes. Diese Entwicklung wird anschaulich von Thomas Groß beschrieben:
»Es war Ende der Siebziger. Den Rock’n’Roll ereilte seine erste Ölkrise. Plötzlich tauchte ein Bewußtsein dafür auf, daß die Ressourcen begrenzt sind, daß die Rockträume von grenzenloser Mobilität, von niemals endenden Straßen und Sex auf dem Rücksitz etwas Gestriges haben. Eine Generation, die noch unter dem Einfluß ihrer älteren Hippiebrüder aufgewachsen war, begriff, daß Popmusik nicht einfach ein Stück Natur ist, das aus den Körpern strömt, sondern etwas Zerrissenes, Künstliches, Zusammengesetztes – ein Stil oder Text. Das neuerwachte Bewußtsein für die Textualität von Pop ging unter der Bezeichnung ›Zitat-Pop‹ in die Annalen ein. ABC, Scritti Politti, Heaven 17 – bereits die Namen der neuen Bands betonten den Schriftcharakter, die artifizielle Seite des Stils. Es war ein Sieg des Dandytums, des Künstlertypen, der den schlichten Rocker kurzfristig als Ikone der Coolness ablöste.« (1999b: 276)
Martin Büsser spricht in diesem Zusammenhang von einer »Rockismus-Debatte«:
»Mit ihrem lebensfrohen und opulenten Pop eröffneten Bands wie ABC und Haircut 100 bereits Anfang der Achtziger die so genannte Rockismus-Debatte. ›Rockismus‹ wurde als Schimpfwort gegenüber jenen verwendet, die noch an die Authentizität und den rebellischen Gehalt von Rockmusik glaubten, der sich jedoch meistens in Machoposen ausdrückte.« (2004: 140)
Büsser bezieht sich darüber hinaus auf einige Ausschnitte aus Interviews mit Haircut 100, die sich darin als nette Jungs inszenieren, die Wollpullover tragen, Selbstzuschreibungen wie ›frisch‹ und ›clean‹ benutzen und sich im Zuge des ›Anti-Rockismus‹ ausdrücklich einem exzessiven, von Sex, Drogen und Rock’n’Roll geprägten Lebensstil verweigern (vgl. ebd.). In Deutschland, so Büsser, wurde für diese Haltung der Ausdruck Popper geprägt. Als Popper galten alle, die bevorzugt Markenkleidung trugen und finanziellen Erfolg zum obersten Lebensprinzip erklärten. Für Popbands wie ABC, Haircut 100 und The Human League war das smarte Auftreten allerdings in erster Linie Strategie, sich vom Männlichkeitsgepose abzugrenzen, aber auch vom allgegenwärtigen politischen Anspruch. Der Mix aus Rock und politischer, selbstverständlich linker Gesinnung wurde von Kritikern noch immer mit Relevanz und Niveau gleichgesetzt. (Ebd.: 141)
Im Zeichen der in diesen Zitaten erkennbar werdenden ›Textualität‹ von Popmusik, die auch unter dem Begriff »New Pop« geläufig war, beziehen sich die Hamburger-Schule-Bands zum Teil emphatisch auf den »Sommer 1982« (Büsser 2004: 138), den Büsser als »Blütezeit des Pop« (ebd.) beschreibt, in dem sich ein »Zitatpop« (ebd.: 142) herausbildete als Entwurf einer »›textuelle[n]‹ Musik« (ebd.) und eines »aus Zitaten und Kommentaren zusammengesetzten Pop« (ebd.).[7]
Offensichtlich wird im Zusammenhang mit Blumfelds Album »Old Nobody« auf diesen Bezugsrahmen verwiesen: Hier kommt es auf dem Cover des Albums zu jener oben beschriebenen ›cleanen‹ Inszenierung der Bandmitglieder, die sich freundlich lächelnd mit Seitenscheiteln sowie durch das Tragen von Markenklamotten (Andre Rattay trägt ein Ralph-Lauren-Polohemd) als Popper in Szene setzen. In dem Song »So lebe ich« (Blumfeld 1999a) beschreibt sich das lyrische Ich als »Milchgesicht« und äußert die Zeile »songs to remember« (ebd.) – gleichlautend mit dem Titel eines dem New Pop zugerechneten Album von Scritti Politti (1982). Weitere Bezüge des Albums zum 1980er-Jahre-Pop werden im dritten Kapitel der vorliegenden Studie ausführlich diskutiert. Im Folgenden wird von der These ausgegangen, dass die Hamburger Schule in der Tradition des Zitat-Pop einen Entwurf sekundaristischer und anti-rockistischer Popmusik etablierte, allerdings ohne sich zunächst von den Formen des Rock gänzlich zu verabschieden.
Die landläufigen Zuschreibungen hinsichtlich Rock (authentisch, echt, rebellisch) und Pop (kommerziell, eingängig, unkritisch) erschienen durch New Wave und speziell durch die »Mehrdeutigkeit [des] 82er Zitatpop« (Büsser 2004: 143) ihre Gültigkeit eingebüßt zu haben; im Ergebnis entstand eine »Welle an distinguiertem, von Zitaten beinahe überfrachtetem Indiepop« (ebd.). Diese Entwicklung beinhaltete nicht nur eine »künstlich-künstlerische Abkehr von der eingängig vehementen Punk-Direktheit« (Hecken 2009: 373), sondern auch einen veränderten Umgang mit politischen Haltungen, den der Musikjournalist und -theoretiker Simon Reynolds treffend herausstellt: Bestand die Artikulation politischer Inhalte im Punk noch – letztlich konform mit der Rock-Tradition – in »raw rage and agitprop protest« (2006: 6), stehe der Post-Punk ganz im Zeichen von »more sophisticated and oblique techniques« (ebd.). Die aggressive Art des Vortrags, die Äußerung einfacher Parolen und die Inszenierung eines offen politischen Ansatzes wurde von den Vertretern des Post-Punk als zu direkt, zu ›unästhetisch‹ und bisweilen, wie Reynolds betont, dem Hörer gegenüber als herablassend empfunden (vgl. ebd.). In den Textverfahren von Bands wie Gang of Four und Scritti Politti erkennt Reynolds eine neuartige Form, Machtmechanismen im Alltag zu analysieren. Die Ideologiekritik dieser Bands bezieht sich weniger auf einen gesellschaftlichen Makrokosmos, sondern nimmt einen ›gesellschaftlichen‹ Blickwinkel ein, indem politische Ereignisse in ihren unmittelbaren Konsequenzen auf das eigene Leben und die Psyche diskutiert werden:
»These bands demonstrated that ›the personal is political‹ by dissecting consumerism, sexual relationships, commonsense notions of what’s natural or obvious, and the ways in which what feels like spontaneous, innermost feelings are actually scripted by larger forces. At the same time, the most acute of these groups captured the way that the political is personal, illustrating the processes by which current events and the actions of government invade everyday life and haunt each individual’s private dreams and nightmares.« (Ebd.)
Ein Politikverständnis geht hier also vor allem von einer persönlichen Sicht auf die Welt aus, die mit größeren Zusammenhängen kontextualisiert wird und sich an das Bewusstsein individueller Hörer richtet (vgl. ebd.). Ein solches Programm erscheint nahezu identisch mit demjenigen des Diskurspop. So äußert Jochen Distelmeyer, weniger auf Post-Punk, sondern auf die Tradition des Liedermachers Bezug nehmend, einen ähnlichen Ansatz:
»Sobald von mehreren Leuten Interesse besteht, über ihre private Wahrnehmung von Wirklichkeit zu sprechen, wird aus diesem Privaten ein Politikum, wie es zum Beispiel bei Leuten wie Dylan, Cohen, Degenhardt oder derzeit beim Hip Hop passiert ist. Die erzählen auch ihre ganz persönlichen Probleme von ihrer Straße, ihrem Viertel. Das betrifft dann aber viele, so entsteht ein übergreifendes Verständnis.« (Galenza 1992: 39)
Von der Einsicht, dass die private und subjektive »Wahrnehmung von Wirklichkeit« aus einem dialektischen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft resultiert, ist im Werk Blumfelds die folgende Textpassage geprägt, die als Anknüpfungspunkt an die von Reynolds in Bezug auf den Post-Punk herausgehobenen ›analytischen‹ Qualitäten zitiert sei:
»Und der Staat ist kein Traum
ist sogar in meinen Küssen
ein mich gestaltender, die Fäden, die rissen
und Welt verwaltender Zustand
eher Raum als Position
und so organisiert er sein Verschwinden
indem er sich durch mich bewegt
durch Gedanken aus Stein aus Licht eine Mauer
eine Sonne aus Eisen eine Sprache aus Trauer«
(Blumfeld 1994: »Eine eigene Geschichte«)
Entsprechend dem von Reynolds dargelegten Verfahren wird hier beschrieben, wie »der Staat« (ebd.) in das Leben des lyrischen Ichs eindringt. Ein das lyrische Ich »gestaltendes« (ebd.) Marionetten-Modell, in dem der Staat mit repressiven Methoden Einfluss auf das Individuum nimmt, wird verabschiedet (»die Fäden, die rissen«, ebd.). Stattdessen »bewegen« sich Regeln und Machtstrukturen durch das lyrische Ich, wodurch sie als sichtbare Repressalien ihr »Verschwinden« (ebd.) organisieren und vom Individuum internalisiert werden – selbst in den privaten Bereichen, in denen es scheinbar ›wahre‹, also von staatlichem Einfluss unaffizierte Gefühle äußert (»sogar in meinen Küssen«, ebd.).
Anhand des Bildes »Gedanken aus Stein« (ebd.) wird erkennbar, wie sich eine immaterielle Ideologie im Bereich des Privaten zunehmend materialisiert und verfestigt (›versteinert‹). Der Staat wird durch eine Form von Organisation zur alles durchdringenden Instanz; er ist »kein Traum« (ebd.) mehr, sondern ›gemachte‹ Realität. Blumfeld äußern in ihrem Verfahren Ideologiekritik also ausgehend von einem dialektischen Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, ein deutlicher Fokus liegt dabei aber auf dem Individuum. In diesem Zusammenhang erscheint es nachvollziehbar, dass Blumfeld zwar immer wieder an politischen Aktionen wie den »Wohlfahrtsausschüssen« beteiligt waren, dabei aber entsprechend ihrem Verfahren eine Skepsis gegenüber politischen Organisationen hegten.[8] Beispielsweise kritisieren sie, wie in ihrem Song »Ghettowelt« (Blumfeld 1992a), starre Ordnungssysteme, auch wenn diese gemeinsame politische Ziele verfolgen – ganz anders als etwa die Polit-Rocker von Floh de Cologne, die mit dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und mit der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) eng zusammenarbeiteten und z. T. mit ihnen affiliiert waren.
Es wird hier das von Blumfeld favorisierte ›sekundaristische‹ Verfahren erkennbar, bei dem ein politisches Anliegen nicht durch Parolen, sondern in der Reflexion des persönlichen und gesellschaftlichen Umfeldes artikuliert wird. Dies kann durchaus als ästhetische Praxis verstanden werden, bei der allerdings keine Kunst um der Kunst willen produziert wird, sondern gerade durch die Verweise auf den Produktionszusammenhang soziale Kategorien etabliert werden.[9]
In diesem Sinne bietet auch die musikalische Dimension keinen beliebigen musikalischen Hintergrund für die Verbaltexte: In der Hamburger Schule wie im Post-Punk wird auch die Musik ›diskursiv‹ und funktioniert nicht wie noch im Punk als »mere neutral platform for agitprop« (Reynolds 2006: 6). Die formale Ebene des Songs wird zum Gegenstand der Reflexion. Stellvertretend für den ›diskursiven‹ und sekundaristischen Zugriff auf die musikalische Dimension ihrer Textmusik wären etwa Die Sterne zu nennen, die Soul- und Funkmusik dekontextualisieren, indem sie sie in die deutschsprachige Popmusik importieren und in ihrer bedeutungstragenden Funktion produktiv machen: Als tanzbares Gegengewicht zu ihren abstrakten und intellektualisierten Lyrics und in Anspielung auf bzw. in Solidarität zu internationalen Widerstandsbewegungen, in diesem Fall den emanzipatorischen Bestrebungen der afroamerikanischen Bevölkerungsminderheit in den USA. Nicht zuletzt wird die Musik der Sterne, gemäß Diederichsens These (1990: o.S.), als sekundaristisches Produkt markiert, das trotz deutschsprachiger Texte offensiv amerikanisch geprägte Zeichen benutzt.[10]
Der aus der Popmusik der frühen 1980er Jahre hergeleitete Sekundarismus der Hamburger Schule impliziert, wie gezeigt wurde, immer auch eine Gegnerschaft zum Authentizitätsparadigma des Rock wie auch zur Artikulation politischer Inhalte gemäß der Agitprop-Tradition. Wenn in der vorliegenden Studie von einer Radikalisierung des Sekundaritäts-Konzepts durch die Hamburger Schule gesprochen wird, muss erläutert werden, von welcher Basis aus diese Radikalisierung vonstatten geht. Ausgehend von Diederichsens These (1990) lässt sich Sekundarität als Grundeigenschaft der deutschen Popkultur erachten und kann als Verfahren vermutlich in jeglichem popkulturellen Erzeugnis nachgewiesen werden. In der Tat scheint das Konzept der Sekundarität in einem weiter gefassten Sinne schon seit Ende der 1950er Jahre in der sich zu dieser Zeit in den Bereichen Musik, bildende Kunst und Literatur global entwickelnden Popkultur gültig zu sein. Es zeichnet sich durch popkulturelle Verfahren aus, die sich aus »präfabrizierte[n] Zeichensysteme[n]« (Schäfer 1998: 26) speisen und dabei »keine kulturkritische Anklage gegen die ausufernde Zeichenproduktion der populären Kultur« erheben, sondern diese »als Ausgangsmaterial des literarischen Schreibens« (ebd.) nutzen, wie Jörgen Schäfer mit Fokus auf popliterarische Texte der 1960er Jahre, insbesondere auf diejenigen Rolf Dieter Brinkmanns, verdeutlicht.
Sekundarität, in diesem Sinne verstanden, bringt keine originäre Ästhetik hervor, ihre Originalität entsteht vielmehr in einer Transformation bestehenden Materials aus Hoch- und Populärkultur in einen neuen Pop-Text. Von einer Transformation spricht auch Diederichsen, der erklärt, Pop sei »immer Transformation im Sinne einer dynamischen Bewegung, bei der kulturelles Material und seine sozialen Umgebungen sich gegenseitig neu gestalten und bis dahin fixe Grenzen überschreiten« (1996: 38f.).[11] Dieser Prozess wird im folgenden Passus – wie bei Diederichsen ausgehend vom Begriff eines ›sekundären‹ Verfahrens – von Brigitte Weingart expliziert und im Blick auf Pop-Literatur auf das Zitat als adäquates Stilmittel hin zugespitzt:
»Pop-Literatur hat einen Hang zum Sekundären. ›Stoff- und Materialpräsentation‹ [so lautet der Veröffentlichungskontext von Weingarts Artikel, Anm. T.H.] erfolgen auffällig oft über Zitate, die – auch ohne Fußnoten – überdeutlich als solche ausgewiesen werden. Besonders beliebt sind Verfahren des direkten Zitats, gelten sie doch als besonders radikale Infragestellung traditioneller Vorstellungen von Autorschaft und Kreativität – man denke an das an der Pop-Art geschulte Konzept des ›bloßen Abschreibens‹, wie es von Uwe Nettelbeck und Rainald Goetz ins Extrem getrieben bzw. zum Statement an sich erklärt wurde, oder an die Verwendung von Bildzitaten in Pop-Texten. In beiden Fällen bedienen sich die Autoren vorgefundenen Materials, das bereits in Form weiterverwertbarer Zeichen vorliegt.« (Weingart 2006: 191)
Weingart betont darüberhinaus, dass eine popspezifische Kommunikation zwischen Produktions- und Rezeptionsseite dadurch begünstigt werde, dass »dem Autor (als ›Leser‹) die Dinge selbst bereits als zeichenhaft erscheinen« (ebd.) und also »die Wirklichkeit als zeichenhaft wahrgenommen« (ebd.) werde. Es ist dieser semiotisch-spielerische und ›parasitäre‹ Umgang mit vorgefundenem Material, der Pop-Kunst bisweilen synonym mit ästhetischen Verfahren der Postmoderne in Erscheinung treten lässt.[12]
So bezieht sich Manfred Pfister in einer kritischen Diskussion des Postmoderne-Begriffs hinsichtlich des kleinsten gemeinsamen Nenners der vielen Definitionsversuche explizit auf das Element des Parasitären (vgl. Pfister 1991: 207f.) und betont den spielerischen Umgang mit Zeichenmaterial aus unterschiedlichsten Quellen:
»Postmodernist culture presents itself as a playful mise en scène of pre-given materials and devices, and these may be taken either from the imaginary museum of historical styles, from consumer society’s storehouse of pop artefacts yet untouched by High Culture […], or from the repertoire of modernist aesthetics and practices.« (Ebd.: 208)
Verabschiedet werden laut Pfister Originalität und Kreativität im Sinne eines ›Schöpfungsaktes‹ zugunsten eines spielerischen Synkretismus, in dem Originalität nur in Form von »sophisticated games with extant texts and traditional structures« (ebd.) überleben könne.[13]
Diese Distanzierung von der Idee eines künstlerischen Schöpfungsaktes bei emphatischer Aneignung schon existierenden, nicht durch eine Autorinstanz hervorgebrachten Materials bedingt eine Poetik der Sekundarität, die sich im Diskurs um die Begriffe »Postmoderne« und »Popkultur« herauskristallisiert. Diesem Konzept entsprechend hebt Diedrich Diederichsen schon 1982 auf eine Pop-Definition ab, die das parasitär-intertextuelle Verfahren mit einem marxistisch gefärbten Konzept von Widerständigkeit kombiniert:
»Eine schöne Definition von Pop lieferte mir unfreiwillig die Zeitschrift ›Spex‹. In einem Verriß einer der größten Pop-Künstlerinnen, Debbie Harry, schreiben sie nörglerisch vorwurfsvoll: ›daß die Gruppe Stilelemente nie wirklich spielt, sondern nur benutzt‹. Eben. Das ist es seit Bertolt Brechts ›ich gestehe, daß ich in Dingen des geistigen Eigentums…‹; das ist 20. Jahrhundert; das ist der Fortschritt des menschlichen Bewußtseins, daß Kunst nach der Epoche des ›Gegen‹ (gegen den Kapitalismus, böse Menschen, Lieblosigkeit, Schweine, Hörgewohnheiten, Sehgewohnheiten) eine neue Haltung hervorbrachte, die, immer gewahr der Widersprüche, um die herum und durch die sie entsteht, diese in respektlosen, naseweisen, plumpen und grellen Mini-Analysen vereint. Diese Mini-Diskurse schließen alle möglichen Überlebenskampf-Taktiken ein. Sie stehen jedem kämpfenden Genossen zur Verfügung, der sich von der Peinlichkeit des echten Anliegens freigemacht hat und nur noch mit der ultimativen Fröhlichkeit einer nahezu aussichtslosen Lage sich die Wahrheit erkämpfen will, wissend, daß alles, was er in der Sprache des Pop sagt, in mehreren Anführungszeichen erscheinen wird.« (Diederichsen 1982: 93f.)
Das ›Gegen‹ in der Kunst, das in der vorliegenden Studie im Kontext der deutschsprachigen Popmusik anhand des Polit-Rock diskutiert wurde, wird also durch eine Auseinandersetzung mit den »Widersprüchen« wie auch durch »grelle Mini-Analysen« ersetzt, die von Diederichsen aber durchaus noch als kämpferisch markiert werden.
Schon im Jahr 1990 hält es Diederichsen für nötig, in Bezug auf das von ihm explizierte Verfahren eine Abgrenzung vorzunehmen: Das »sekundaristische[ ] Ergebnis« deutscher Popmusik sei »mehr wert als billige Postmodernität, die die Unmöglichkeit von Authentizität nicht einmal mehr als Verlust empfunden hat, sondern von vornherein als ›natürliche‹ Maxime eines unendlichen Unterhaltungsuniversums.« (1990: o.S.) Auch wenn Diederichsens und Pfisters in etwa zeitgleich erschienene Texte gänzlich unterschiedlichen Kontexten entstammen – bei Pfister handelt es sich um einen akademischen, vorwiegend an amerikanistischen Fallbeispielen durchgeführten Beitrag zur Literaturtheorie, bei Diederichsen um den Begleittext zur CD-Veröffentlichung eines kleinen Hamburger Plattenlabels – befinden sie sich doch bis in den Wortlaut hinein im Einklang darüber, dass mit postmoderner Kunst nur begrenzt eine kritische Haltung verknüpft werden kann. So stellt denn auch Pfister in Bezug auf eine literarische Postmoderne in den USA fest, dass die von John Barth proklamierte »Literature of Exhaustion« (1967) zwar noch um »the sorrows of lost authenticity and reality« wisse und unter dem Zwang »to repeat the déjà vu, the déjà lu, the déjà vécu again and again« (Pfister 1991: 221) leide, dabei aber letztlich drohe, in eine unreflektierte, d. h. rein konsumistische Affirmation dieses Zustandes umzuschlagen:[14]
»Postmodern art threatens to decay into what postmodern consumerism and the entertainment industry have already become – a ploy of social engineering that helps us to repress our anxieties as regards diminishing natural resources, through stimulating an artificial euphoria of abundance.« (Ebd.)
Neben dem Befund, dass ›unreine‹, ›sekundäre‹, ›parasitäre‹, sprich: nicht-originäre Schreibverfahren als besonders adäquate Ausdrucksformen in Bezug auf das zuvor skizzierte Diskursfeld geschätzt werden, enthalten die zitierten Passagen von Pfister und Diederichsen eine Kritik an der Dominanz der unterhaltenden Funktion popkultureller bzw. postmoderner Kunstwerke. Was diese unmittelbar vor dem Auftauchen von Bands wie Blumfeld oder Die Sterne veröffentlichen Texte fordern, ist, dass das Bewusstsein über die Unmöglichkeit von Originalität – das sich formal in einem sekundären Verfahren manifestiert – auf analytische und kritische Art und Weise artikuliert werden sollte. Das sekundäre Verfahren in der Popkultur bzw. der postmodernen Kunst wird demnach als Möglichkeit einer ästhetischen Auseinandersetzung mit der Gegenwartskultur der 1990er Jahre lobend hervorgehoben, wobei eine solche Auseinandersetzung – zu diesem Schluss kommen Diederichsen und Pfister jeweils – zugleich die Gefahr in sich berge, mit den kulturindustriellen bzw. konsumistischen Anwandlungen dieser Kultur zu verschmelzen, statt sich ihnen kritisch zu nähern.
Aus diesem Grund fordert Pfister eine neue Form von »post-postmodernism that remains resistent to these pressures of assimilation« (1991: 222). Denn, so Pfister in der Herausarbeitung eines spezifisch postmodernen Intertextualitätskonzepts, »the dialogue of texts and discourses no longer serves to play off differences with a critical and analytic purpose; it rather serves to stimulate the sophisticated pleasures of the disparate and heterogeneous.« (Ebd.: 221) Kritisiert wird also, dass das intertextuelle Spiel mit heterogenen Prätexten nicht mehr in kritischer Absicht, sondern entweder als l’art pour l’art oder als Unterhaltungskunst betrieben wird – diese Kritik geht bei Pfister verurteilend mit Begriffen und Formulierungen wie »decay«, »euphoria« »cheerful«, »abundance«, »pleasures« und »random disposability of everything« (ebd.) einher; innerhalb der postmodernistischen Strömung mit kritischem Ansatz diagnostiziert er dagegen »suffer«, »sorrow« und »compulsion« (ebd.) als Indizien für ein gleichsam anthropologisch ausgerichtetes Problembewusstsein. Hier begibt sich der von Pfister vorgeschlagene Post-Postmodernismus in der Verwendung intertextueller Verfahren auf die Suche nach Bereichen außerhalb eines entfremdenden Verblendungszusammenhangs: »[Post-postmodernism] would have to find new ground in those remnants of nature which have still managed to survive around us, and in us. Here, in the material and psychological ecology, it might, perhaps, find its Archimedian point of leverage.« (Pfister 1991: 222)
In einem sechs Jahre später veröffentlichten Spex-Artikel von Diedrich Diederichsen kann beobachtet werden, dass sich Pfisters und Diedrichsens Thesen im Hinblick auf die zeitgenössische Kultur möglicherweise als zutreffend erwiesen haben: Diederichsen spielt darin zwei idealtypische Hörertypen gegeneinander aus: Der eine davon goutiere ein »nachvollziehendes oder mitvollziehendes, tendenziell immanentes Hören« (Diederichsen 1997: 43) und damit eine möglichst ›reine‹ Musik, frei von zitierenden, referentiellen Verweisen:
»Die Gewahrheit, daß bei musikalischen Systemen (im Unterschied zur Sprache) ein weitaus größerer Anteil an Elementen keine Verweisfunktion übernimmt, wird […] von anderen Musiken – am Rande der Popmusik oder in den E-Musiken – regelmäßig und oft ideologisch vertreten. Gerade ›Reinheit‹ von Musik meint, daß sie weder vage ablenken noch konkret an einen ganz bestimmten Ort lenken darf. « (Ebd.: 44)
Ein weiterer Hörertypus favorisiere dagegen das »zeichenhaft auf Abwesendes verweisen[de]« (ebd.) Moment, als dessen Merkmal Diederichsen das Zitat identifiziert. Diederichsens Hörertypologie erinnert hier stark an Jacques Derridas Konzeption zweier Weisen des Interpretierens, nach der die eine Interpretationsform, basierend auf der Annahme eines transzendentalen Signifikats, danach strebe, »eine Wahrheit und einen Ursprung zu entziffern, die dem Spiel und der Ordnung des Zeichens entzogen sind« (Derrida 1976: 441), wohingegen die andere Form einen spielerischen Modus bejaht als »Welt aus Zeichen ohne Fehl, ohne Wahrheit, ohne Ursprung, die einer tätigen Deutung offen ist« (ebd.). Analog zu letzterem Interpretationsverfahren schreibt Diederichsen das Zitat als ein auf Abwesendes verweisendes Zeichen dem Pop-Verfahren zu und folgert schließlich:[15]
»Natürlich ist der metaphysische Authentizismus des ersten Hörtypus immer noch verbreiteter. Aber der popistische Sekundarismus des zweiten wirkt nicht weniger ideologisch und ist gerade in Zeiten der ›zweiten Postmoderne‹ durch Phänomene wie Easy Listening oder Zitatkino an einigen Orten hegemonial geworden.« (Diederichsen 1997: 44)
Diederichsen bleibt damit bei seinem Standpunkt gegen die in seinem Text von 1990 so bezeichnete »billige Postmodernität« (o.S.) und fühlt sich durch zwischenzeitlich aufgekommene Phänomene wie das Easy-Listening-Revival oder zitierende Filme wie Pulp Fiction (1994) in den zuvor diskutierten Thesen zum Verlust des kritischen Impetus postmoderner Kunst bestätigt.[16]
Unabhängig davon, ob man Pfisters und Diederichsens Einschätzung teilt, lässt sich doch nicht von der Hand weisen, dass ihren Forderungen gegen eine ›billige‹, ›hegemoniale‹ und marktwirtschaftlich konforme Postmodernität innerhalb der Hamburger Schule häufig entsprochen wurde. Auch wenn der Begriff mitunter als Marketingstrategie (vgl. Fromm 2012: o.S.) bzw. als »marktökonomische Schublade für Jungsbands« (Behrens 2002b: 26) und die damit assoziierten Bands selbst teilweise als marktwirtschaftlich erfolgreiche Geschäftsmodelle fungierten, befinden sie sich auf Verfahrensebene einerseits im Einklang mit einer ›postmodernen‹ Ästhetik, grenzen sich andererseits aber in ihrer politischen und kritischen Positionierung häufig von einer ideologischen Beliebigkeit derartiger Verfahren ab.
Wir haben gesehen, dass das Diskurspop-Ich sich in besonderem Maße Einflüssen von außen – mit Diederichsen gesprochen einem ›popistischen Sekundarismus‹ – öffnet, und dass dabei ein sich über dieses Außen konstituierendes ›unreines‹, bastardisiertes Textgewebe entsteht. Im Diskurs zur Hamburger Schule kommt aber auch, wiederum von Diederichsen, die Einschätzung zur Sprache, dass das postmodern bzw. poststrukturalistisch gedachte Intertextualitäts- und Sekundaritätskonzept als eine Art Verfallserscheinung zuungunsten politischen Engagements Überhand gewinnt, auch wenn es ursprünglich mit ideologiekritischen Implikationen versehen war.[17]
Wenn hier also eine Synthese von zeitgemäßen, ›postmodernen‹ Verfahren und einer Artikulation ideologiekritischen Bewusstseins gefordert wird, scheint diese ›Marktlücke‹ im Spektrum postmoderner Pop-Kunst durchaus von Bands wie Blumfeld oder Die Sterne gefüllt zu werden. Der entsprechende Platz im Diskurs wird insbesondere von Blumfeld zwischen 1992 und 1999 besetzt. Ihr ›unreines‹ intertextuelles Verfahren wird als eine Form von ästhetischem Protest wertgeschätzt. Zugleich wird die von Diederichsen und Pfister kritisierte Dominanz der unterhaltenden Funktion popkultureller bzw. postmoderner Kunstwerke thematisiert. Der Diskurspop der Hamburger Schule entspricht in vielerlei Hinsicht der von Pfister favorisierten Adaption postmoderner und popkultureller Formen ohne die Verabschiedung eines kritischen Ansatzes, selbst wenn dessen Unmöglichkeit verhandelt wird.[18]
Carsten Klook verdeutlicht diesen ideologiekritischen Ansatz in Bezug auf Blumfelds Album »L’Etat et Moi« (Blumfeld 1994). Hier ist dezidiert von einem »Versuch« die Rede:
»Von dem Versuch zu ergründen, was Leben sein könnte, handelt diese Platte, von dem Begehren nach einem anderen Leben, das noch keine Gestalt hat, dessen Nichtgestalt aber Kraft mobilisiert, nach dieser noch leeren Form auf die Suche zu gehen. Diese politische Absicht erzeugt einen Handlungsbedarf und ist gleichfalls ein Muntermacher für die erschöpfte Linke, die so etwas wie Widerstand nur im Hinblick auf einen vorhandenen Utopie-Begriff zu leisten imstande sich fühlt. Blumfeld setzen der Macht des Staates, die das Begehren geködert und Lüste gezüchtet hat, etwas entgegen, ein Begehren nach etwas noch Undefiniertem. Der Freiraum bedeutet hier erst einmal, wegzukommen von einer idealistischen Fixiertheit. Das Unaussprechliche wird zur dringenden und drängenden Melodie.« (Klook 1994: 40)
Klook spricht von der Vermeidung »idealistischer Fixiertheit«, die auf Verfahrensebene auch ein Zulassen von ›unreinen‹ Formen nach sich zieht. Wenn er die Erstarrung der Linken hinsichtlich des »vorhandenen Utopie-Begriffs« thematisiert, reagieren Blumfeld mit dem Aufbrechen idealisierter Strukturen, wozu gerade auch die Auseinandersetzung mit dem Medium Pop, und hier insbesondere der Diskurs einer scheinbaren Unmöglichkeit des Projekts »politischer Pop« gehört.
Anmerkungen
[1] Tobias Rapp bemerkt in der taz anlässlich der Veröffentlichung des Blumfeld-Albums »Verbotene Früchte« zum Begriff »Diskurspop«: »Es war eine Musik, die genauso laut Ich! rief, wie sie durch eine hohe Durchlässigkeit für die verschiedensten Diskurse aus Politik, Theorie und Literatur die Bedingungen unterstrich, unter denen dieses Ich überhaupt erst produziert wurde.« (Rapp 2006: 13) Auch charakterisiert Rapp »Diskurspop« durch die Absage an die »Idee, Politik müsse sich eins zu eins auf der Aussageebene in Songs wiederfinden« (ebd.).
[2] In den letzten Jahren erfuhr Post-Punk verstärkt eine kulturgeschichtliche Aufarbeitung, etwa durch Simon Reynolds’ im englischsprachigen Raum und auch in Deutschland und in deutscher Sprache breit rezipiertes Sachbuch »Rip it up and start again« (2006); im Kino durch »Control« (2007, Regie: Anton Corbijn), einen Spielfilm über die Band Joy Division und speziell deren Sänger Ian Curtis.
[3] Als konstituierendes Vorhaben der Neuen Deutschen Welle sieht Schneider die Überwindung einer »lokalen Betäubung an den Rändern und in den Provinzen von Pop. Das eigene Umfeld – Pausenhof, Dorf, Stadt, Gegend – umkrempeln und auf die Landkarte setzen, das meint ›Neue Deutsche Welle‹ zum Zeitpunkt der Begriffsentstehung.« (2008: 12f.).
[4] Dieses integrative Moment von Pop-Kunst kann in Bezug auf die Geschichte der Popkultur als übergeordnete Konstante angenommen werden: »pop is inclusive both in its form and its sociology. In the same way that its aesthetics ignore the high/low culture polarity, its Afro/America roots have given it a special place in the wider enfranchisement that occurred between the fifties and the eighties. Always inherent in pop is the drive, defined by Dave Marsh, ›to give a voice and a face to the dispossessed‹ and it continues to grant visibility and audibility to voices often excluded from the mainstream« (Savage 1995: xxxii f.). Ähnlich spricht John Fiske von einer Hybridität des Pop: »Die Populärkultur muss mit dem auskommen, was sie hat; populäre Kreativität zeigt sich im kreativen Umgang mit Ressourcen, die ihr fremd sind, um etwas Eigenes zu schaffen; in der Populärkultur finden sich stets tiefe Spuren dessen, was sie nicht ist; sie ist von den Spuren von dominanten anderen durchsetzt, deren Herrschaft bezwungen und verändert worden ist. In einer multikulturellen Welt kann Populärkultur nicht rein oder authentisch sein, sondern sie ist immer hybrid und mit widersprüchlichen Kräften durchsetzt, die kreuz und quer durch das Leben von untergeordneten sozialen Formationen verlaufen.« (2001: 302).
[5] Die Dichotomie von ›primärem‹ Rock und sekundaristischer Popmusik, wie sie hier dargestellt wird, hat freilich etwas Idealtypisches an sich und lässt sich letztlich nicht trennscharf aufrechterhalten. So lassen sich auch im Rock-Spektrum Spielarten sekundaristischer, also ironischer und zitathafter Verfahren finden, etwa im Glam-Rock der 1970er Jahre oder bei Bands wie AC/DC, Kiss und Queen. Moritz Baßler spricht sich dafür aus, dass nicht nur die mit ›Pop‹ in Verbindung stehenden Verfahren, sondern auch der Rock es verdient habe, im Modus der ironischen Durchstreichung »sous rature geadelt zu werden. Schon das Geschäft von Mick Jagger und Angus Young war im Grunde: Dekonstruktion (Postmoderne)« (2005c: 134). Martin Büsser macht in ähnlich relativierender Weise auf die Eigentlichkeit scheinbar ›sekundaristischer‹ Bands und auf Ironie im Rock aufmerksam: Das »neue Texten« sei »subjektiver und persönlicher, als es sein möchte (sowohl BLUMFELD, Schorsch Kamerun wie auch SLEATER KINNEY und STELLA sprechen auf je eigene Weise häufiger und letztlich authentischer von sich selbst als Image-Rock à la MOTÖRHEAD das je tat« (1998: 12).
[6] Vgl. hierzu ausführlich Huber (2012). Hiller wurde nach Erscheinen des ersten Albums (Palais Schaumburg 1981) als Sänger von Walter Thielsch abgelöst.
[7] Zur Begriffs- und Diskursgeschichte des »New Pop« vgl. Hecken (2009: 378–423) sowie den Abschnitt zum Blumfeld-Album »Old Nobody« der vorliegenden Studie.
[8] Bei den Wohlfahrtsausschüssen handelte es sich um ein 1992 ins Leben gerufenes anti-nationalistisches Bündnis bestehend aus Musikern, Künstlern und Journalisten aus dem Umfeld der ›Pop-Linken‹ wie auch politischen Aktivisten im engeren Sinne (z. B. aus Antifa-Gruppen, Ausländerinitiativen und der Hochschulpolitik). Blumfeld beteiligten sich (gemeinsam mit Künstlern und Gruppen wie Die Sterne, Kastrierte Philosophen, Eric IQ Gray, Absolute Beginner, Die Goldenen Zitronen, Easy Business, Extended Versions, Cpt. Kirk &., Think About Mutation, Station 17 und Rulin Sound) an einer anlässlich verstärkter rechtsradikaler Gewalt in den ›neuen Bundesländern‹ durchgeführten Konzert- und Vortragstournee durch Rostock, Dresden und Leipzig vom 18.–20. Juni 1993. Vgl. hierzu ausführlich Groß (2000a), Heiser (1995), Wohlfahrtsausschüsse (1994) sowie als Anlage der vorliegenden Studie die Flugschrift »Etwas Besseres als die Nation«. In letzterer Schrift wird insbesondere die »Untrennbarkeit politischer und kultureller Arbeit« (o.S.) betont; man wolle »nicht als ›schwarzer Block‹ durch den Osten der Republik reisen« (ebd.).
[9] Eine Parallele lässt sich hier im Bezug auf den politischen HipHop von Public Enemy erkennen. Auf den Zusammenhang von Blumfelds »Ich-Maschine« und HipHop wird in Abschnitt II.1.3 der vorliegenden Studie eingegangen. Zur Verbindung von ästhetischen und sozialen Kategorien bemerkt Joshua Clover am Beispiel von Public Enemy: »aesthetic success must accompany political content as pedagogical necessity, and communication must cross lines of class, race, and geography to exceed subcultural status. This double synthesis, then, is the program for a political art. This is the measure of Public Enemy’s achievement, rather than articulacy or militancy as such. That is, their significance lies in their realization of an explicitly social-political, confrontational problematic in relation to an aesthetic form that expressed the same problematic otherwise: a total work that solicits engagements and generates affects in multiple ways.« (2009: 31f.).
[10] Vgl. hierzu Huber (2008: 142–144).
[11] Vgl. hierzu auch Schumacher (2001, 2003).
[12] Vgl. hierzu Jameson (1991: 2f.) und McCaffery (1995: xiv).
[13] Der hier konstatierte Anspruch auf sophistication trifft auf die Produktion und Rezeption eines Großteils popästhetischer Erzeugnisse nicht immer zu, auch wenn hier innerhalb einer Vielzahl und in Wechselwirkung heterogener Szenen und stilistischer Ausprägungen ständig neue Formen von sophistication – im jeweiligen Diskurs – ausgehandelt werden. Pfister nimmt in der zitierten Passage vor allem Bezug auf literarische Texte postmodernistischer Strömungen, die einen avantgardistischen Anspruch vertreten, etwa auf US-amerikanische Autoren wie John Barth und Raymond Federman oder in Deutschland Botho Strauß. Deren sophistication entsteht durch ihre literaturtheoretisch reflektierten Schreibverfahren und ausdrücklich nicht auf Ebene der Auswahl intertextueller Versatzstücke, im Gegenteil: »American postmodernism […] gives priority to the myths and clichés of pop-culture over the time-honoured works of High Culture. The verbal garbage and the flood of images produced by an ever-growing industry, set up to entertain our consumer society, thus become the privileged pretexts of postmodernist art.« (Pfister 1991: 218).
[14] Vgl. hierzu auch Schöpp (1990: 184).
[15] Ähnlich argumentiert Diederichsen auch schon in einer früheren Schrift – mit einer klaren Positionierung zugunsten des ›pop-modernen‹ Paradigmas: »Epochen der buchstäblichen Erneuerung sind seit Urzeiten vorbei; Debbies [Deborah Harry, Anm. T.H.], [David, Anm. T.H.] Bowies und aller anderen (bewußtes oder unbewußtes) Prinzip, Stilelemente nur noch zu verwenden, gehört die Zukunft (und auch ein größeres Stück Vergangenheit). In der klassischen Musik ist die kleinste Einheit der Ton, im Pop ist es der stilistische Verweis. Pop-Musiker bedienen sich nicht mehr bei einer Ton-Palette, sondern bei einem Sound-Stil-Klangfarben-Supermarkt; über Qualität entscheidet die Haltung zum Material und ob das Resultat in den Erfordernissen des Alltags funktioniert. Das entscheidet sich oft im Verhältnis der spezifischen Nuancen zum bekannten, jeweiligen Pop-Code. Popmusiker sind semiotische Alchimisten, keine Tonsetzer.« (Diederichsen 1982: 94).
[16] Entsprechend heißt es in Diederichsens 1997 verfasstem (und in Diederichsen 1999 anthologisiertem) Essay mit dem Titel »Die 90er, und dahinter die Unendlichkeit«: »Phänomene wie der Easy-Listening-Kult von 1995 und die in deutschen Großstädten dazugehörige Kultur von Cocktail-Lounges in ehemaligen Animierbars, besucht von Flexibilisierungsgewinnern, die den klassisch-popkulturellen Zusammenhang zwischen ästhetischer Kennerschaft und ethischen Konsequenzen aufgekündigt haben, haben auch zu der Reaktion geführt, nun besonders trotzig an der kleinen kontrollierbaren Gegenkultur und ihren Regeln über die Beziehungen zwischen politischen Inhalten und den dazugehörigen Zeichen festzuhalten.« (Diederichsen 1999: 279) Vgl. hierzu auch Hecken (2011: insbes. 19).
[17] Gemeint sind vor allem diejenigen ideologiekritischen Ansätze, die in der Tradition von Julia Kristevas Prägung des Intertextualitätsbegriffs stehen. Demgemäß ist »jeder Text […] Absorption und Transformation eines anderen Textes. An die Stelle des Begriffs der Intersubjektivität tritt der Begriff der Intertextualität« (Kristeva 1972: 348). Ihre Definition fußt auf Michail Bachtins Konzept der Dialogizität, nach dem bestimmte literarische Texte – insbesondere der neuzeitliche Roman – als Manifestation einer »Redevielfalt« (Bachtin 1979: 192) gedacht werden, d. h. einer »offenen Auseinandersetzung divergierender Standpunkte« (Pfister 1985: 2), die eine Opposition zur »›monologischen‹ Bekräftigung von Tradition und Autorität« (ebd.) bildet. Bachtin verweist hier noch auf eine intratextuelle Dialogizität bestimmter Textsorten (vgl. Pfister 1985: 4f.), wohingegen das Konzept durch Kristeva eine (als ›poststrukturalistisch‹ zu bezeichnende) Entgrenzung im Sinne einer intertextuell-dialogischen Unhintergehbarkeit aller Texte erfährt. Bachtins Gedanke der Dialogizität wird folglich dahingehend ideologiekritisch produktiv gemacht, dass Kristeva mit ihrem Intertextualitätsbegriff die Möglichkeit aufzeigt, »die Vorstellung von der Identität des Werks sowie von seiner Zurückführbarkeit auf die personale Identität eines Autors wie schließlich auch die Auffassung von der referentiellen Determiniertheit des Werks als literarische Mythen des bürgerlichen Bewußtseins zu entlarven.« (Stierle 1984: 142f.) Wenn mit Kristeva also Textualität und Intertextualität als synonym gelten, wird damit ein subversives und ideologiekritisches Paradigma der »Dezentrierung und der Offenheit« (ebd.: 142) gegenüber einer konservativen (bzw. konservierenden) und affirmativen Monologizität betont, die Pfister als Feindbild Kristevas identifiziert und hinsichtlich des Entstehungskontextes der »revolutionär erregten sechziger Jahre« spezifiziert als »›bürgerliche Ideologie‹ der Autonomie und Identität individuellen Bewusstseins sowie der Abgeschlossenheit von Texten und ihres Sinns« (Pfister 1985: 6). Dies gilt in gesteigertem Maße für die Ausweitung von Kristevas Textbegriff im Sinne einer allgemeinen intertextuellen Verfasstheit von Kultur. Kristeva postuliert damit einen kultursemiotischen Ansatz, demzufolge jegliche (also auch nicht-sprachliche) kulturellen Erzeugnisse grundsätzlich nur in ihrer Textualität als analysierbar erachtet werden. Von dieser kulturtheoretischen Prämisse ausgehend markiert Matías Martínez, analog zu Diederichsens historisierender Beobachtung, die ideologiekritische Rolle von Intertextualität als Leitbegriff des Poststrukturalismus deutlich ambivalent: »Die intertextuelle Verfassung der kulturell codierten Wirklichkeit [erscheint] als repressive Repetition, aber auch als subversive Differenz: Einerseits gleicht sie als allumfassendes Reservoir ideologischer Diskurse einem Gedankengefängnis, andererseits unterläuft sie wegen der Unkontrollierbarkeit diskursiven Sinns jede ideologische Fixierung.« (Martínez 2008: 442).
[18] So wird auch im Wikipedia-Beitrag zur Hamburger Schule vermerkt, dass sie sich »vor allem durch deutschsprachige Texte aus[zeichnet], denen oft ein hoher intellektueller Anspruch zugemessen wird und die umfangreich mit Gesellschaftskritik, linkspolitischer Einstellung und postmodernen Theorien verbunden sind«. URL: http://de.wikipedia.org/wiki/Hamburger_Schule_(Popmusik) (Letzter Zugriff: 08.03.2011, Herv. T.H.). Schlieckau benennt in nahezu identischem Wortlaut »das herausragende Merkmal dieser Bewegung […]. Texte, die aufgrund ihrer Gesellschaftskritik, politischen Einstellung, der Nähe zu postmodernen Theorien und ihres intellektuellen Anspruches auch in den Rezensionen immer gesondert Beachtung fanden.« (Schlieckau 2007: 538) Vgl. hierzu auch Schlösser (2007: 504) und Weissmann (2011: 255).
»Blumfeld und die Hamburger Schule. Sekundarität – Intertextualität – Diskurspop« von Till Huber ist bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienen. Bei dem veröffentlichten Auszug handelt es sich (mit Ausnahme kleiner Anpassungen) um das Kapitel 4 (S. 89-104).