Social Media August
von Annekathrin Kohout
28.8.2017

Ernährungsideologien: Reinheitskult auf YouTube

In seinem neuesten Video erklärt Tobi vom YouTube-Kanal „Rawletics“, wie der menschliche Körper im Laufe seines Lebens Schadstoffe ansammle. Was Tobi etwas umständlich ausführt, soll eine Kritik an der Schulmedizin und damit auch an dem wissenschaftlichen Konsens sein. Wie notwendig eine regelmäßige Entgiftung sei, veranschaulicht er, indem er den Körper mit einem „Müllfass“ vergleicht:

Sei es im Säuglingsalter noch relativ leer (nur mit den Giften, die ihm von den Eltern vermacht wurden, gefüllt), steige der Pegel mit zunehmenden Alter stetig an, weshalb „Ventile“ benötigt würden, die immer wieder Giftstoffe ablassen, damit das Fass nicht überläuft; sprich: der Körper nicht stirbt. Ein solches Ventil kann Schweiß sein, aber auch eine Krankheit. Unterdrücke man diese – etwa mit Medikamenten –, verstopfe man die Ventile und provoziere damit ein schnelles Anfüllen des Fasses.

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In den 1980er Jahren hat der Philosoph Paul Feyerabend dafür argumentiert, dass Wissenschaft  – etwa neben Religion oder Kunst – als eine unter vielen Möglichkeiten angesehen werden soll, Erkenntnis zu gewinnen. Damit kritisierte er umfassend den Dogmatismus der Wissenschaft seiner Zeit. „Man sagt nicht: manche Leute glauben, daß sich die Erde um die Sonne bewegt, andere dagegen betrachten die Erde als eine Hohlkugel, in der sich die Sonne, die Planeten, die Fixsterne befinden. Es heißt: Die Erde bewegt sich um die Sonne – alles andere ist reiner Blödsinn.“[1] Für Feyerabend war Wissenschaft, insofern diese behauptet, über die einzig richtigen Methoden und Ergebnisse zu verfügen, Ideologie. Doch anstatt für mehr Selbstreflexivität zu plädieren, fordert er die Ausgrenzung der Wissenschaft aus Staat und Bildungswesen. „Man mag sie lehren, aber nur denen, die sich entschlossen haben, sich diesen besonderen Aberglauben zu eigen zu machen.“[2]

In gewisser Weise ist eingetroffen, was Feyerabend sich wünschte: ob Wissenschaft, Politik, Religion, Esoterik oder Kunst – im Zeitalter der Sozialen Medien findet sich eine Wahrheit gleichberechtigt neben der anderen. Es ist daher keinesfalls überraschend, dass Tobi, der sichtlich kein Mediziner ist, so viel Vertrauenswürdigkeit für seine Zuschauer besitzt, dass er im Kommentarbereich seines Videos ‚Fachfragen‘ gestellt bekommt: „Wie kann ich die Hypophyse heilen oder wieder anregen?“ – zum Beispiel.

Schaut man genauer hin, ist sogar zu fragen, ob es die Wissenschaft nicht sogar zunehmend schwer haben wird, mit komplizierten Fachausdrücken und komplexen Beschreibungen langfristig ihre Stellung als Erkenntnis- und Wahrheits-Monopol zu halten. Denn es zeichnet sich bereits ab, dass es für ihre Vertreter nicht so leicht sein wird, genügend Follower im Social Web zu generieren. Doch es sind immer öfter Click- und Followerzahlen, nach denen bemessen wird, wie anerkannt eine Idee oder Erkenntnis ist.

Besonders eindrücklich konnte man den Streit zwischen anerkannter Wissenschaft und sogenannter Pseudowissenschaft in den letzten Jahrzehnten (lange vor YouTube & Co.) anhand der Auseinandersetzungen von Medizin und alternativen Heilpraktiken nachvollziehen. Dass letztere zunehmend an Einfluss und Wirkmacht gewinnen, wird bereits seit einigen Jahren und wiederholt festgestellt – insbesondere im Zuge des Anstiegs von psychosomatischen Krankheitsbildern wie ADHS oder Depression sowie der Popularität von entsprechenden Heilmethoden, allen voran der Entgiftung, die mittlerweile unter dem Modewort Detox be- und vertrieben wird.

Nirgendwo werden die Heilmethoden und Entgiftungskuren so ausführlich beschrieben, diskutiert und beworben wie auf YouTube – meistens unter dem Deckmantel von Ernährungsideologien. Deshalb tragen besagte Kanäle auch nicht zufällig „vegan“ oder „raw“ bereits im Titel.

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Extreme Ernährung auf YouTube

Tobi von Rawletics möchte seine Zuschauer dazu inspirieren, wieder ihren Herzen zu folgen, mehr „in den Moment zu kommen“, etwas zu tun, was sie wirklich erfüllt. Das entnimmt man dem Trailer für seinen Kanal. Tobi selbst, so scheint es, findet insbesondere in der Natur zu sich selbst. Sein Titelbild zeigt eine Meeresbucht mit feinem Sand, man stellt sie sich auf einer einsamen Insel vor, wie in dem Film „The Beach“. Er dreht viele seiner Videos im Freien, im Sommer auch oberkörperfrei. Dann sieht man einen schlanken und gut gebauten jungen Mann, mit leuchtend blauen Augen und blonden Haaren.

Nur das Reden fällt ihm manchmal schwer, ist träge, so als hätte er gekifft. Dieses kleine Laster habe er aber längst aufgegeben, sagt er in einem seiner Videos. Tobi isst nur Rohkost und erklärt auch alles in seinem Leben mit dieser Ernährungsweise. Auch schlechte Gefühle kommen von schlechtem Essen und gute Gefühle von gutem Essen. Daher ist Fasten auch eine emotionale „Entgiftung“.

Tobi hat bereits das ein oder andere Video mit Silke Leopold gedreht, ebenfalls Rohköstlerin, denn die Szene ist sehr gut vernetzt. Silke ist seit drei Jahren auf YouTube und hat mehr als 20.000 Abonnenten. Darüber hinaus betreibt sie einen Blog, auf dem ihre Ebooks gekauft und Ernährungsberatungen in Anspruch genommen werden können. „Möchtest Du endlich Deinen Körper entgiften und reinigen?“ Dann bist du bei Silke Leopold richtig.

Auf YouTube-Kanälen wie denen von Tobi oder Silke haben sich verschiedene Themen durchgesetzt, die in ihrer Gesamtheit ein nahezu festgelegtes Setting bilden: die Ernährung (Rohkost), das Gefühlsleben („Emotionale Entgiftung“), die Periode („Freie Menstruation“ oder das Ausbleiben der Monatsblutung), Wohnen („Minimalismus“), Krankheiten (Alternativmedizin, Heilung durch Ernährung), Kinder (z.B. das „Familienbett“), Unterwäsche („BH- und Slip-frei“), der Stress durch das „moderne“ Leben und immer wieder: die Reinigung (z.B. durch Fasten und Einläufe).

Typisches Themen-Setting von einem Rohkost-Kanal. Hier: Silke Leopold

Typisches Themen-Setting eines Rohkost-Kanals. Hier: Silke Leopold

Wenn hier also von Ernährungs-‚Ideologien‘ die Rede ist, dann deshalb, weil viele YouTube-Kanäle, in denen es etwa um rohköstliche Ernährung geht, in der Summe ihrer Themen ein geschlossenes Weltbild darstellen. Und zwar so geschlossen, dass keine Gegenrede mehr zulässig ist, vermeintliche Einwände zwar manchmal aufgegriffen, aber immer revidiert werden; Falsifikationskriterien gibt es schon gar nicht. Außerdem lassen die Kanäle ihren Zuschauern kaum eine Möglichkeit der individuellen Variation ihrer Tipps. Für einen glücklichen und gesunden Lebensstil reicht es eben nicht, kleine Änderungen der Lebensgewohnheit vorzunehmen, sondern man muss seinen kompletten Lifestyle umkrempeln.

Gesund sein heißt sauber sein

Je mehr Videos man ansieht, desto stärker kristallisiert sich ein Grundmotiv heraus: die Reinigung. Zu einer vermeintlich gesunden Ernährung gehört allen voran die regelmäßige Entgiftung. Diese erfolgt meistens über das Fasten und über Einläufe. Überhaupt ist der Einlauf ein überaus beliebtes Thema unter YouTubern geworden. Auf fast jedem Vegan- oder Rohkost-Kanal wird die Dringlichkeit eines regelmäßigen Einlaufs suggeriert. Das mutet zunächst befremdlich an, ist man mit der Szene nicht vertraut, doch nach mehr als fünf Videos zum Thema kommt es selbst (oder gerade) einem fachfremden Zuschauer ziemlich plausibel vor.

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Die Plausibilität wird durch eindrückliche Metaphern erreicht. Da wird der Darm etwa zum Abflussrohr, an dessen Innenwänden sich Dreckreste absetzten. Aber es gibt auch kreativere Analogien. So beschreibt Emma vom Kanal „Raw Nourishment“ den Darm wie folgt:

„Stellt Euch mal einen Mülleimer vor, aber ohne den Plastikbeutel. Jeden Tag füllt Ihr den Abfall in den Eimer und irgendwann geht Ihr dann zur großen Tonne und entleert Euren Mülleimer. Was passiert aber ohne Plastikbeutel? Es bleiben Reste von Eurem Müll im Eimer hängen. Und das macht Ihr jeden Tag, ohne den Mülleimer zu waschen. Und jetzt stellt Euch vor, Ihr macht das auf Euer ganzes Leben bezogen. Ihr entleert Euren Eimer nur, aber reinigt ihn nie. Das führt natürlich nach einer Zeit dazu, dass sich an den Innenwänden Eures Mülleimers eine immer dickere, stinkendere, braunere, schleimigere, giftigere Abfallschicht bildet. Und genau das könnt Ihr jetzt auf Euren Darm übertragen.“

„Dr. Ehrenberger“ vergleicht den menschlichen Körper hingegen mit einem Aquarium: „Nun stellen Sie sich einmal vor, Sie haben zuhause ein Aquarium. In diesem Aquarium sind viele Fische drin und Sie haben vergessen, es zu reinigen. Die Fische werden so langsam in Schräglage kommen, und manche werden unnatürlich mit dem Bauch nach oben schwimmen. Das Becken wird grün sein. Würden Sie nun auf die Idee kommen, dass Sie die Fische austauschen? Oder würden Sie einen Wasserwechsel vornehmen. Genau das gleiche meint Paracelsus damit, wenn er sagt: „Willst Du Deinen Körper heilen, dann reinige Deine Säfte.“

In allen Metaphern wird Sauberkeit mit Gesundheit gleichgesetzt. Dreck wird den Magen nicht reinigen – wie es der Volksmund sagt –, sondern ihn krank machen. (Das gilt aber offenbar nur für das Innere des Körpers, tägliches Waschen der Haut etc. gilt hingegen überwiegend als unnatürlich.) Das Erschreckende an derart vereinfachten Analogien ist, dass sie kompromisslos sind. Schlichtweg jede Nahrung – führt man sie seinem Körper zu – wird zu Müll degradiert, ihre nährende Funktion  wird hingegen ausgeblendet. Und dieser Müll, so wird suggeriert, kann nicht vom Körper selbst gereinigt werden, sondern braucht – um bei den Metaphern zu bleiben – Putzhilfe.

Der Reinheitskult auf YouTube

Oftmals erinnern die Videos über Entgiftung in ihrer Wortwahl und ihrem Habitus an frühere Reinheitskulte, da sie nicht mehr nur ‚frei von Schmutz‘, sondern auch ‚frei von Krankheiten‘ und darüber hinaus ‚frei von Sünde‘ meinen. Man denke nur an Jungfräulichkeit und sexuelle Askese, die für kultische und magische Handlungen verlangt wurden, weil sie als ‚unbefleckt‘ und damit als rein gegolten haben, oder sogar an sogenannte „Entsühnungsreinigungen“[3] gegenüber Personen oder ganzen Bevölkerungsgruppen – die dann etwa zu einer faschistischen Rassen-Reinheitspolitik geführt haben.

Zwar sind derartige Assoziationen von den YouTubern mutmaßlich nicht intendiert, finden aber seltsamer Weise doch immer wieder Erwähnung. Zudem lässt sich in der vehementen Bewerbung ihres Glaubens eine Diffamierung all jener erkennen, die nicht rein sind, weil sie sich falsch ernähren; die nicht frei von Schmutz sind, weil sie keinen Einlauf machen; die nicht frei von Krankheiten sind, weil sie sich nicht regelmäßig reinigen; und die nicht frei von Sünde sind, weil sie sich an der korrupten Ernährungsindustrie beteiligen.

Besonders deutlich wird das in einem Video auf Rawletics, das sich mit der Monatsblutung der Frau auseinandersetzt. Hierzu hat Tobi die Rohkost-YouTuberin Marielle Markstein eingeladen, weil man als Mann nicht legitimiert sei, über ein Frauenthema zu sprechen (es aber als Video zum Setting eines Rohkost-Kanals und seinem geschlossenen Weltbild dazugehört). Gleich zu Beginn wird festgestellt: „Viele Frauen wissen nicht, für was eine Monatsblutung da ist und dass eine Monatsblutung eigentlich gar nicht normal ist!“ Und weiter: „Bei Rohköstlern ist es eigentlich so, dass nach ein bis zwei Jahren, wenn man sich richtig reinigt mit Einläufen und Fasten und so, dann hört die Monatsblutung einfach auf.“ Und Marielle setzt hinzu: „Und die Stimmungsschwankungen hören auch auf!“

Eigentlich, so stellt sich heraus, ist die Monatsblutung ein Entgiftungsprozess: „Die Blutung ist eine Reinigung vom Körper. Der Körper will das Baby schützen, deshalb wird der Dreck durch das Blut rausgehauen. Wenn man aber rein ist, dann muss nichts mehr gereinigt werden.“ Deshalb bekomme eine Frau dann nicht mehr ihre Tage. „Es ist einfach nur eine Entgiftung“, beteuern sie, „ja, es ist einfach eine Reinigung. Es ist wie beim Fasten.“ Eine abenteuerliche Erklärung, die man jedoch ernst und genau nehmen sollte, weil sie für viele suggestiv ist und auf den ersten Blick glaubwürdig erscheint.

„Gerade Rohköstlerinnen, die sehr jung sind und somit viel schneller einen höheren Reinheitsgrad bekommen, fragen mich dann: ‚Ich habe keine Regel mehr, ist das normal?‘ Und ich finde es ganz wichtig, dass wir gerade den jungen Mädels die Angst davor nehmen, dass es nicht unnormal ist, wenn die Regelblutung aufhört. Das ist dann halt normal, eigentlich“, erzählt Marielle.

Der Reinheitsgrad findet mehrmals im Video Erwähnung. Fast mit Wehmut beteuert Marielle, dass er viel schneller gesteigert werden kann, wenn man jung und noch nicht so verschmutzt ist. Dahinter verbirgt sich übrigens eine alte Logik: Der Körper sammelt Schadstoffe kontinuierlich an, heißt, je älter er ist, desto unreiner und vergifteter (und man möchte ergänzen: schuldbelasteter) ist er auch.

„In der Bibel wird, glaube ich, auch immer von Unreinheit geschrieben. Seit die Frauen nicht mehr so clean gegessen haben, gab es dann ein Frauenhaus, wo sie dann hinkamen, wenn sie unrein waren. Weil sie unrein waren, wenn sie geblutet haben“, berichtet Tobi. Dann ergänzt Marielle völlig unkritisch und unreflektiert: „Und in der Bibel ist es halt auch so, dass die Frauen an den Festlichkeiten nicht teilnehmen durften, wenn sie geblutet haben. Und beim Islam ist es so, dass Frauen, die ihre Regel haben, auch nicht fasten dürfen.“

„Aber bei Religionen heutzutage immer vorsichtig sein, da ist viel verdreht worden!“, fällt Tobi von Rawletics noch ein. Schließlich zitiert er Arnold Ehret, der 1909 seinen ersten Artikel über Stoffwechsel und Fasten veröffentlichte und für viele als Begründer gegenwärtiger Rohkostdiäten gilt. Auch Steve Jobs war jahrelang Anhänger des „Ehretismus“ und ernährte sich nur von Obst und Säften.

In einem der Bücher von Ehret hat Tobi eine „schöne“ Stelle gefunden: „Die wirkliche Unreinlichkeit lagert als fauler Speiserest im Verdauungskanal des Menschen und vergiftet seinen Blutstrom fortwährend. Zur Zeit der Geschlechtsreife wird der Blutstrom in höchstem Maße von den Geschlechtsorganen in Anspruch genommen. Und dabei werden die natürlichen Schleimabsonderungen der Keim- und Mutterdrüsen mit unnatürlichem Schleim, mit unreinlichen Fundstoffen und Giften vermischt.“  Dieses unreflektierte Zitieren aus einem um 1900 entstandenen Buch eines Heilpraktikers ist mehr als erschreckend.

Nicht normal

Viele Kanäle bedienen sich verschwörungstheoretischer Strategien. Etwa, wenn offensichtlich unseriöse Quellen herangezogen werden, um die eigene Anschauung zu belegen. So stammt ein in den Rohkost-Szenen vielfach gepriesenes Video über die verschiedenen Zustände der Unreinheit des Darms durch Schlacken von dem okkultistischen Kanal „dertröster.de“, der ansonsten Videos mit Titel wie „Satan´s Engel (Dämonen) sind die Außerirdischen, die bald sichtbar erscheinen werden“ veröffentlicht.

Aber auch, wenn ständig betont wird, etwas, das wir für selbstverständlich hielten (z.B. die Menstruation), sei „nicht normal“, klingen verschwörungstheoretische Töne an. Das gilt insbesondere für die Erkenntnisse der Schulmedizin: Was in diesem Bereich als mehr oder weniger unabwendbare Erscheinung gilt, ist für ihre Gegner ‚in Wahrheit‘ die Folge einer falschen Ernährung und Lebensweise. Neben der Monatsblutung wird auch die Erkältung als etwas angeführt, das „nicht normal“ sei. Zum Beispiel auf dem Kanal „Holistisch Gesund“ von Benjamin Weidig.

Überhaupt fühlt sich Benjamin Weidig von der Schulmedizin – die uns vorgebe, was normal, was unnormal ist – verarscht. In seinem Video „SCHULMEDIZIN IST PSEUDOWISSENSCHAFT – Warum Medikamente wirkungslos sind“ erklärt er Ärzte zu Betrügern. Medizin sei für viele der „Heilige Gral“, dabei sei sie rein manipulativ. Was ihre Manipulationstaktik ist, erklärt Benjamin Weidig in einem anderen Video („AUFGEDECKT: Es gibt keine Schlacken?“): „Im Endeffekt ist es Begriffsmanipulation. Es gibt in der Schulmedizin keine Schlacken, weil man gesagt hat, man möchte diesen Begriff nicht verwenden, sondern alles, was man konkret benennen kann, auch konkret benennen. Man will also nicht sagen: ‚Hey, das sind einfach nur Schlacken‘, sondern ‚Das sind Verhärtungen von Cholesterin.‘ Es gibt also nur nicht den Begriff von Schlacken, aber es gibt Schlacken!“

Die Begriffe würden nur Eindruck schinden, ohne verständlich zu sein, und wenn, dann nur schwer vermittelbar. Somit erzeugten sie Autorität, die nicht überprüft werde. Dabei bemerkt Weidig nicht, dass er die gleiche Technik anwendet, wenn er einen Satz sagt wie; „Cellulite ist auch nur das Ergebnis von eingelagerten Neutralsalzen.“ Auch was die Kritik an der fehlenden Anerkennung der Medizin von individuellen Körpern – zugunsten von allgemeinen Diagnosen – betrifft, müssen sich die Betreiber der besagten YouTube-Accounts an die eigene Nase fassen. Zwar stigmatisieren sie ihre Erfahrungen mit einer Ernährungsumstellung als höchst individuell, doch sind sie zugleich derart normiert, dass nicht nur das Setting der Videos auf ihren Kanälen, sondern auch die Erfahrung mit Einlauf, Minimalismus und Co. sowie die verwendeten Produkte erstaunlich gleich sind. Das liegt, nebenbei bemerkt, unter anderem daran, dass hier das Geschäftsmodell „Gesunde Ernährung“ professionell ausgeübt wird und Influencer oftmals dieselben Produkte zur Verfügung gestellt bekommen.

Braucht es eine neue Kritik?

Nun ließe sich ganz im Sinne Paul Feyerabends einwenden: Jeder Glaube hat die gleiche Berechtigung, wenn sie dem Einzelnen nützt und ihn bestärkt. Tatsächlich aber wandte sich Feyerabend vor allem gegen den real existierenden Wissenschaftsbetrieb, der seinerzeit als erstarrt empfunden wurde und sich durch Wissenschaftsgläubigkeit auszeichnete. Heute und unter dem Stichwort ‚Fake News‘ ist die Lage ganz anders und die Kritik an Dogmen, Wissensmonopolen und allem, was objektive Wahrheit für sich beanspruch, Konsens.

Bräuchte es also in Zeiten der Sozialen Medien, in denen nicht nur alle denkbaren Glaubenssätze formuliert, sondern auch vermeintlich nachgewiesen werden, nicht wieder einen Ort der Differenzierung und Genauigkeit? Und zwar nicht mit dem Anspruch, allgemein gültige Erkenntnisse oder gar Handlungsanweisungen zu generieren, sondern in Hinblick auf die Überprüfung dessen, was sich als gültig oder richtig oder gesund in Szene setzt?

Gerade am Beispiel der Ernährungsideologien zeigt sich deutlich eine Gefahr. Durch die Vorschläge von YouTube, aber auch durch die Vernetzung der Mitglieder kommt der Zuschauer von einem Video zum nächsten. Und was sich anfänglich noch radikal oder extrem anhörte, erlangt schnell eine gewisse Selbstverständlichkeit. Je mehr Videos angesehen werden, desto mehr entsteht am Ende der Eindruck, Nahrung sei ein Gegner, mit dem man es mehrmals täglich aufzunehmen habe. Es wird glaubhaft gemacht, Nahrung habe kaum eine andere Funktion, als Müll in unserem Darm zu hinterlassen. Das bestärkt Essstörungen und kann zugleich eine Legitimation für sie werden. So ist es wohl kein Zufall, dass die Ernährungsideologien oft eine vorhandene Essstörung ablösen oder ersetzen. Zudem machen die Videos ihre Zuschauer zu Schuldigen. Schlechte Haut? Falsch gegessen. Cellulite? Falsch gegessen. Monatsblutung? Falsch gegessen. Krankheit? Falsch gegessen.

Natürlich ist diese Auslegung der Videos nicht immer, vielleicht sogar selten von den YouTuber*innen intendiert. Deshalb lassen sie sich im Einzelnen auch nur schwer für das, was sie auslösen, verantwortlich machen. Sieht man ein Video zum Thema Einlauf, überlegt man sich noch, ob das gut für den eigenen Körper wäre. Sieht man zehn Videos und mehr, bekommt man ein schlechtes Gewissen, dass man erst jetzt damit anfängt. Wenn der Zuschauer trotzdem kritisch bleibt, dann stellt sich ihm die Frage: Wenn wöchentliche bis tägliche(!) Einläufe schädlich sein könnten, warum gibt es dann keine Kennzeichnung? Denn in jedem Fall dürfte die Fetischisierung der Darmreinigung und mit ihr die Reduzierung von Nahrung auf Müll weitaus gefährlicher sein als „Germany’s Next Topmodel“. Weil sauber mit gesund gleichgesetzt wird und derart „gesunde Ernährung“ mehr Legitimation bietet, sehr wenig zu essen.

Zu Feyerabends Zeiten gab es keine ernstzunehmende Konkurrenz zu Wissenschaft und Schulmedizin. Aber das ändert sich nun. Heute würde Feyerabend möglicherweise eine Kritik an der Kritik üben. Weil sie nämlich das Herzstück seiner Motivation verfehlt: Dass es dem Einzelnen mit seinem Glauben gut geht, den er sich individuell und in Austausch mit seinem persönlichen Umfeld zusammenstellt. Und genau darin wird man durch die Ernährungsvideos auf YouTube – die die eigene Wahrheit unter Ausschluss der anderen proklamieren – nicht bestärkt.

 

Anmerkungen

[1] Paul Feyerabend: Wider den Methodenzwang. Frankfurt am Main 1976, S. 386.

[2] Ebd. S. 395.

[3] Mit diesem Begriff bezeichnet das Lexikon für Aberglauben Entsühnungen als Selbstzweck. Vgl. Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens, hg. von E. Hoffmann-Krayer, Band VII, Berlin und Leipzig 1936, Spalte 634.