Die Republik der Voyeure? Das Elend der Anderen als Programm – am Beispiel von „Hartz und herzlich – Die Eisenbahnsiedlung von Duisburg“
von Marcus S. Kleiner
23.8.2017

Unterschichtenfernsehen?

Wenn es um RTL2-Docutainment-Sendungen wie aktuell „Hartz und herzlich[i] geht, spricht die Fernsehkritik gerne vom zynischen Trash-TV. Diese Sozialdokumentation begleitet vier Monate lang den Alltag von Menschen in der Rheinhauser Eisenbahnsiedlung, die Hartz IV-Empfänger sind und an der Armutsgrenze leben. Das Ziel besteht darin, einen authentischen und intimen Einblick in die Lebensrealität von Menschen zu vermitteln, die am Rande der Gesellschaft leben.

Was wir in dieser Sendung und vergleichbaren Formaten zu sehen bekommen, so die Kritik, ist die verantwortungslose Darstellung stigmatisierter Sozialität: Wir sehen Menschen am Rande der Gesellschaft, die den gesellschaftlich geteilten und medial vermittelten Vorstellungen von Menschen am Rande der Gesellschaft entsprechen. Stigmatisierung erfordert, um sie sozial zu etablieren, fokussierte Wiederholung und Wiedererkennung. In diesen Sendungen werden aus der Perspektive der Kritiker weder Empathie für die vorgestellten Schicksale noch eine konstruktive Auseinandersetzung mit den dargestellten sozialen Verhältnissen ermöglicht. Vielmehr werde durch die plakative und tabulose Zurschaustellung der Lebenswirklichkeit der Protagonisten ausschließlich die voyeuristische Sehlust der Zuschauer angesprochen. Was bleibe, sei eine milieuspezifische Pornographie des Elends als Fernsehunterhaltung.

Schon vor zwölf Jahren attestierte der Stern-Redakteur Hans-Ulrich Jörges, dass sich das deutsche Fernsehen in einer „Legitimationskrise“ befinde, seinen Programmauftrag aus den Augen verloren habe und vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit kapituliere. Diese Einschätzung bezieht sich gleichermaßen auf die öffentlich-rechtlichen und privaten Fernsehsender. An den Privaten kritisiert Jörges im Besonderen, dass sie „kein Wertgerüst mehr“ kennen und sich besonders hinsichtlich der Darstellung von sozialem Elend, Körpern und Sexualität durch einen „sozialdarwinistischen Voyeurismus“ auszeichnen würden. Die Sendung „Hartz und herzlich“ wäre aus der Perspektive von Hans-Ulrich Jörges ein Musterbeispiel für seine Kritik. Die Zuschauer würden die Sender dafür allerdings haltungsvoll abstrafen: „Ein Publikum, das klüger ist, als man ihm unterstellt, straft solche Realitätsflucht gottlob mit Quotenentzug. Der Zuschauer zeigt mehr Würde als der Sender.“ Begeistert sich also nur ein würdeloses Publikum für ein würdeloses Programm? Bekommt also jeder Zuschauer immer das, was er verdient? Sind die eigenen Sehgewohnheiten (unbewusste) Spiegelbilder des Selbst? Jörges würde diese Fragen eindeutig mit Ja beantworten.

Anstatt gründlicher, multiperspektivischer und didaktisch überlegter Informationen, „um den Zuschauer urteilsfähig zu machen“, bekomme man, so Jörges weiter, beim Privatfernsehen nur einen nicht verantwortungsvollen, qualitätslosen und bildungsfernen „Proleten-Guckkasten“ vorgesetzt. Warum der Zuschauer nicht als bereits „urteilsfähig“ angesehen wird, bleibt offen.

Die Einschätzung von Jörges ist prototypisch für die Kritik am Privatfernsehen im Allgemeinen und an mit „Hartz und herzlich“ vergleichbaren Docutainment-Sendungen im Speziellen. Diese Kritik wiederholt sich entsprechend, ohne dabei die Maßstäbe der Kritik selbst zu hinterfragen, die eigene kritische Haltung argumentativ zu plausibilisieren oder die jeweils kritisierten Formate vor der von vornherein feststehenden Fundamentalkritik zunächst differenziert zu analysieren. Die Unterscheidung zwischen gutem und schlechtem Fernsehen, zwischen Qualität und Trash, zwischen Bildung und Volksverdummung, scheint unmittelbar evident und unumstößlich zu sein.

Die Bezugspunkte dieser Kritik sind u.a. der öffentlich-rechtliche Programmauftrag, das bürgerliche Bildungsverständnis, der bürgerliche Hochkulturbegriff sowie die daraus hergeleiteten Auffassungen von Qualität, Ästhetik und Geschmack. Die Forderung nach einer unvoreingenommenen und differenzierten Kritik an den Sendungen des Privatfernsehens wird aus dieser Perspektive schnell abgetan, indem man entgegnet, dass es sich sowieso immer nur um relativ gleiche Programme und Programmatiken handele. Die Kritik bleibt letztlich genauso wandlungsresistent wie die von ihr kritisierten Gegenstände.

Die Drastik der Kritik resultiert hierbei zumeist aus dem (impliziten) Wissen um die Ohnmacht der eigenen Position im Kontext der öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Privatfernsehen und seinen Programmen. Die professionelle Fernsehkritik produziert größtenteils nur für diejenigen, die eine vergleichbare Meinung haben. Sie ist dabei weniger meinungsbildend als meinungsverstärkend. Ihr Informationswert ist daher relativ niedrig. Die Kritiker produzieren für ihre Zielgruppen, die Sender für die ihren. Ein Dialog ist somit (fast) unmöglich – und in den meisten Fällen auch gar nicht gewünscht. Dadurch verspielen beide Seiten die kreativen Potentiale, die eine produktive Interaktion von Machern und Kritikern ermöglichen kann.

Darüber hinaus offenbart die explizite Kritik am Programm des Privatfernsehens, wie etwa die von Jörges, eine unangebrachte Arroganz: zum einen gegenüber den Menschen in den jeweiligen Sendungen, zum anderen gegenüber den Zuschauern. Die abwertende Rede von Trash- oder Assi-TV, „Unterschichtenfernsehen“ (Titanic, Paul Nolte u.a.), von der „medialen Klassengesellschaft“ (Peter Winterhoff-Spurk) oder dem Privatfernsehen als „Proleten-Guckkasten“ (Hans-Ulrich Jörges) ist hierfür symptomatisch. Diese Abwertungsrhetorik, die häufig die Absetzung der kritisierten Sendungen fordert, ist fast so bekannt wie die Sendungen selbst und ebenso plakativ bzw. reißerisch, wie sie es diesen Sendungen vorwirft.

Die Überzeugung, dass nur Unterschichtler oder Proleten, d.h. einkommensschwache Menschen mit einem unterstellten Mangel an Geschmack und Bildung, Sendungen wie „Hartz und herzlich“ sehen, hält sich bis heute hartnäckig in vielen Feuilletons: „Guck nicht mit den Schmuddelkindern“ (Christoph Amend). So sind z.B. Docutainment-Sendungen oder Unterhaltungsformate immer informationslos sowie bildungsfern und für sozial Schwächere konzipiert. Eine sehr gewagte These, denn heutzutage ist es nicht mehr möglich, Fernsehgebrauch schichtspezifisch zu unterscheiden. Hinter dieser Haltung verbirgt sich oft die Angst vor dem zunehmenden Bedeutungsverlust hochkultureller Formate.

Diese anhaltende allgemeine Stigmatisierung des Programms und der Zuschauer des Privatfernsehens kritisiert Lothar Mikos, Professor für Fernsehwissenschaft an der Filmuniversität Babelsberg „Konrad Wolf“, deutlich: „Jede Show bildet. Das gehört zu den Prinzipien des Fernsehens. Wer noch immer glaubt, Unterhaltungsshows bilden nicht, zeigt nur, wie borniert er ist und wie wenig er sich mit dem Fernsehen beschäftigt“. Die informelle Bildung durch Unterhaltung wird hierbei, so Mikos, ignoriert.

Die vorausgehende Kritik an der Fernsehkritik behauptet nicht deren Belanglosigkeit. Allerdings weist sie darauf hin, dass das Privatfernsehen und sein Programm die professionelle Fernsehkritik zumeist überfordert. Diese Überforderung ist selbst verschuldet und macht aus der Fernsehkritik ein dauerhaftes Krisenphänomen.

Fernsehkritik erfordert einen nüchternen, interessierten, offenen und multiperspektivischen Blick auf die Gegenstände ihrer Kritik. Eine kontinuierliche Neugier auf das Neue. Beurteilt werden sollten diese Gegenstände zunächst mit Blick auf das, was sie selbst sein wollen, nicht aber ausgehend von den normativen Erwartungshaltungen der Kritiker an das, was Fernsehen aus ihrer Sicht zu sein hat. Ohne ein intensives Einlassen auf die konkreten Gegenstände ist Fernsehkritik sinn- und nutzlos. Nur dadurch kann Fernsehkritik – im besten Fall – produktiv zu einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Privatfernsehen und seinem Programm beitragen. Ausgehend von dieser bewertenden Auseinandersetzung könnte die Fernsehkritik Vorschläge machen, wie die von ihnen kritisierte Umsetzung von Themen verbessert werden könnte – gerade auch mit Blick auf Sendungen, die sie für besonders wertvoll im Umgang mit den jeweiligen Themen hält.

Ein Blick auf die Sendung „Hartz und herzlich“ soll diese Kritik an der Fernsehkritik beispielhaft plausibilisieren. Als Einstieg bietet sich die Frage nach dem Selbstverständnis der Macher an. In einem Interview formuliert der RTL2-Docutainment-Leiter Stefan Albrecht die Intentionen der Sendung:

Die sozial relevanten und angstbesetzten Themen Arbeitslosigkeit, Hartz IV und das Leben an der Armutsgrenze in Deutschland werden anhand von einigen konkreten Schicksalen anschaulich gemacht. Der Fokus liegt auf den individuellen Schicksalen, die ungefiltert gezeigt werden und nicht nur stellvertretend für das Leitthema der Sendung sind. Insofern sind auch nur wenige Schicksale dokumentiert worden, um diesen Raum geben zu können.

Immer wieder wird auch die Frage aufgeworfen, ob sich Arbeit in Deutschland überhaupt noch lohnt. In der Sozialdokumentation werden „unverstellte“, „authentische“ und „ereignisoffene“ Einblicke „auf Augenhöhe“ in die Lebenswirklichkeit der vorgestellten Menschen vermittelt. Jede klischeehafte Darstellung wird vermieden. Von einer Kommentierung oder Betroffenheitsinszenierung wird abgesehen. Ausschlaggebend für das Zustandekommen der Sendung ist die Bereitschaft der Menschen, das Kamerateam an ihrem Leben, an ihrem Leiden, ihrem Elend, ihren Ängsten, Sorgen, Wünschen oder Widersprüchen ebenso teilhaben zu lassen wie an ihrer Herzlichkeit, mit der sie ihr Leben am Rand der Gesellschaft jeden Tag mehr oder weniger meistern. „Hartz und herzlich“ verdeutlicht, dass es häufig die Betroffenen selbst sind, die wollen, dass man ihr einmaliges Leiden darstellt.

Die Geschichte der vorgestellten Schicksale wird in „Hartz und herzlich“ mit der Geschichte eines Duisburger Stadtteils, der Rheinhauser Eisenbahnsiedlung, in Verbindung gebracht – einem Ort, der den Wandel von Tradition, d.h. einer milieuspezifischen Arbeiter- und Lebenskultur, zu wachsender Armut abbilden soll. Der Bezug zur Eisenbahnsiedlung ist allerdings äußerst konstruiert, denn die Protagonisten der Sendung sind, abgesehen vom Trinkhallenbesitzer Julian ,Julz’ Spies, seiner Schwester Jana, seiner Mutter und dem Hilfsarbeiter Klaus, keine Siedler, sondern leben nur wohnungsbedingt in der Siedlung.

Darüber hinaus fokussiert sich die Sendung nur auf wenige Orte der Siedlung. Eine Fahrt durch die Eisenbahnsiedlung vermittelt einen ganz anderen als in der Sendung vermittelten Eindruck. „Die Echtheit ist somit Stilprinzip der Erzählung“ – so beschreibt Albrecht das entscheidende Qualitätsmerkmal der Sozialdokumentation. Albrecht blendet dabei aber aus, dass kein Medium die in ihm dargestellte Wirklichkeit authentisch repräsentieren, sondern im besten Fall einen authentischen Wirklichkeitseindruck erzeugen kann. Die Entscheidung, ob „Hartz und herzlich“ dies schafft, liegt bei den Zuschauern.

Dieses von Albrecht formulierte Selbstverständnis der Sendung wirft drei Fragen auf, durch deren Beantwortung die Qualität der Sendung bewertet werden kann.

Was können die Bilder des Elends im Betrachter auslösen, wenn diese als Fernsehunterhaltung präsentiert werden? „Hartz und herzlich“ ermöglicht zwei Rezeptionsweisen: Zum einen kann die Sendung als affektiver Katalysator für die Gefühlswelten der Zuschauer, aber auch der Kritiker, fungieren. Im Lästern über das Format und die Figuren erhöht sich der Zuseher selbst, weil man scheinbar besser weiß, wie man zu leben, zu reden, zu lieben, sich selbst zu präsentieren hat (Republik der Voyeure). Zum anderen kann „Hartz und herzlich“ als Appell an die Betrachter aufgefasst werden, eine eigenständige Auseinandersetzung mit den Leitthemen der Sozialdokumentation anzustellen. Aus dieser Perspektive kann die Sendung als Medium der Selbstreflexion dienen.

In der Sendung liegt daher, wie bei vergleichbaren Docutainment-Formaten auch, eine ästhetische Doppelmoral, die einerseits imstande ist, etwas vollkommen Unterhaltungsfremdes, also das reale Leben mit Hartz IV und an der Armutsgrenze, als Unterhaltung zu präsentieren, die man distanziert konsumieren kann; andererseits aber auch, uns eindringliche Einblicke von diesem Leben zu vermitteln, dass in uns, ohne moralischen Zeigefinger, eine unwiderrufliche Betroffenheit auslöst. Die mediale Distanz (der Kamera und des Fernsehens) kann einen reellen Schock erzeugen und einen Eindruck vom Elend der Anderen vermitteln.

Wer ist das Publikum, an das sich „Hartz und herzlich“ wendet? Beim Betrachten des Elends anderer sollte man kein Wir als selbstverständlich voraussetzen, denn es besteht ein deutlicher Unterschied zwischen den direkt Betroffenen und den Zuschauern, die nicht von den dargestellten Themen in Mitleidenschaft gezogen sind und sich in Sicherheit vor dem sozialen Abstieg wiegen. Diese Einschätzung gilt aber auch für Menschen, die sich in einer vergleichbaren Lebenssituation befinden. Der Fokus von „Hartz und herzlich“ auf individuelle Schicksale ist daher konsequent und überzeugend. Die Geschichten der Sendung sollen berühren, erregen und Beispiel geben, sie liegen aber jenseits dessen, was man verändern könnte.

Allerdings ist der Appetit auf Bilder und Geschichten, die das Elend anderer zeigen, fast so stark wie das Verlangen nach Bildern, die nackte Körper zeigen (Republik der Voyeure). Die demonstrative Verbindung von sozialem Elend und (fast) nackten Körpern fokussiert sich in der Sendung auf „Olaf (46)“, der (physisch und psychisch) krank und stark übergewichtig ist, einen sehr beschädigten Körper hat und dadurch kaum in der Lage ist, sein Leben zu bewältigen. Die drastische und wiederholte Inszenierung seines Körpers ist für die Darstellung seiner Geschichte irrelevant und potenziert nur den voyeuristischen Blick auf ihn. Das Gleiche gilt für die kontinuierlichen Nahaufnahmen seiner Wohnung – aber auch für alle anderen Wohnungseinblicke. Die Themen soziales Elend und Körperinszenierungen sind zudem zwei Leitthemen des Privatfernsehens.

Welchen Beitrag leistet die Sendung im Kontext der gesellschaftlichen Auseinandersetzung mit den Themen „Hartz IV“, „Arbeitslosigkeit“ und „Armut“? Dokumentationen wie „Hart und herzlich“ können versuchen, die Lebenswirklichkeit von Menschen, die langzeitarbeitslos sind, Hartz IV beziehen und an der Armutsgrenze leben, verständlich zu machen. Sie müssen sich dabei aber, etwa mit Blick auf die begrenzte Sendezeit und die Komplexität der Thematik, stark beschränken. Daraus resultiert die häufig dichotome und stereotype Auseinandersetzung mit den jeweiligen Themen.

Bilder hingegen sind suggestiver als die Erzählungen. Sie können heimsuchen und einen nicht mehr loslassen. Dadurch können sie, etwa mit Blick auf „Hartz und herzlich“, zu Sinnbildern des Elends sowie des Leidens und dadurch zu Gegenständen einer kontemplativen Auseinandersetzung werden. Die Bilder dieser Dokumentation sind, auch bei aller Redundanz, bedeutend instruktiver, um die Lebenswirklichkeit der Protagonisten zugänglich bzw. empathiefähig zu machen, als die erzählten Geschichten oder die Sprecherkommentare.

So sehr diese Bilder Mitgefühl wecken können, gerade aufgrund der durch sie glaubwürdig vermittelten Traurigkeit und Ausweglosigkeit der Lebenssituationen, so sehr können sie auch abstumpfen lassen und das informative Potential der audiovisuellen Elends- und Leidensbilder neutralisieren. Bilder verlieren ihre suggestive Kraft durch die Art, wie sie benutzt werden und wie oft man sie sehen kann. Häufig führt der Bilderfluss zu einer Erschlaffung der Betrachter. Die permanente Wiederholung von Elends- und Leidensbildern im Privatfernsehen, etwa hinsichtlich der in „Hartz und herzlich“ behandelten Themen, trägt hierzu bei und führt durch die häufige Verwendung vergleichbarer Bildinszenierungen zur visuellen Stereotypbildung. Hierbei sind die Betrachter allerdings herausgefordert, sich zu fragen, woher sie diese visuellen Stereotype kennen und, warum sie ihnen zumeist als vertraut bzw. unmittelbar evident erscheinen. Auch aus dieser Perspektive kann „Hartz und herzlich“ als Medium der Selbstreflexion genutzt werden.

Gleichwohl ist es wichtig, die Bilder von sozialem Elend und Leiden immer wieder zu vergegenwärtigen und diese Themen zum Programm zu machen, weil sie uns, wie „Hartz und herzlich“, zum Nachdenken aus der Distanz auffordern. Dem lauten Nachdenken der Protagonisten wird in der Sendung zwar viel Raum eingeräumt, allerdings dreht sich dieses Nachdenken nur um wenige Themen. Hier hätten die Produzenten mehr Themen anstoßen können, über die sich die Protagonisten der Sendung äußern, damit man einen noch umfassenderen Eindruck von ihrer Lebenswirklichkeit und deren Selbstreflexion bekommt. Darüber hinaus wird zu viel Sendezeit für die diversen Nachbarschafts- und Familienstreitigkeiten verbraucht, die nur peripher etwas mit den Leitthemen der Sendung zu tun haben.

Nichtsdestotrotz bietet „Hartz und herzlich“, bei aller Kritik, die man an der Sendung üben kann, einen intimen und glaubwürdigen Einblick in die Lebenswirklichkeit von Menschen, die ein Leben an der Armutsgrenze führen. Ein Eindruck, der nicht verallgemeinert werden muss, auch wenn sich einige Stereotype in der Sendung finden, denn individuelle Schicksale sind bedeutend aussagekräftiger als die bloße Verwendung von individuellen Schicksalen als Stellvertreter des Allgemeinen.

Bei der Medialisierung des Elends und Leidens der Anderen sollten sich Fernsehproduzenten aber grundsätzlich an einer Maxime des französischen Filmemachers Jean-Luc Godard orientierten, die er, mit Blick auf den Kriegsfilm, in seiner Dokumentation „Geschichte(n) des Kinos“ formuliert hat: „(D)as Leiden ist kein Star“.

 

Anmerkung

[i] Bisher sind zwei Mini-Serien von „Hartz und herzlich“ erschienen: „Hartz und herzlich – Die Eisenbahnsiedlung von Duisburg“ (2016) und „Hartz und herzlich – Die Benz-Baracken von Mannheim“ (2017). Die allgemeine Themendarstellung und die Figurenkonstellationen sind in beiden Serien fast identisch. Insofern fokussiere ich mich exemplarisch nur auf eine der beiden Serien: „Hartz und herzlich – Die Eisenbahnsiedlung von Duisburg“.

 

Dr. Marcus S. Kleiner ist Professor für Kommunikations- und Medienwissenschaft an der SRH Hochschule der populären Künste in Berlin und dort Studiengangleiter des Master-Studiengangs Erlebniskommunikation. Beim SWR hat er die beiden Radio-Rubriken „Musik-Professor“ und „Ansichtssache“.