Ein Mann sieht rot
Der Bundestagswahlkampf 2017 ist der erste, in dem auch Bilder der Sozialen Medien, vor allem Bilder auf den Instagram-Accounts von Parteien und Abgeordneten eine Rolle spielen. Statt nur Reden zu halten oder Kundgebungen zu veranstalten, machen Politikerinnen und Politiker mittlerweile also auch zunehmend selbst Bilder, um für ihre Botschaften zu werben. Bis zur Bundestagswahl wird Wolfgang Ullrich einzelne dieser Bilder in loser Folge genauer betrachten und Instagram als Medium politischer Ikonografie in der Phase seiner Entstehung begleitend kommentieren.
Teil 6 der Kooperation von Ideenfreiheit und pop-zeitschrift.de
In den 1920er Jahren kam das Diktum auf, dass künftig nicht nur diejenigen, die nicht lesen und schreiben könnten, als Analphabeten bezeichnet würden, sondern genauso alle, die unkundig im Fotografieren seien. Das war zu der Zeit, als sich Rollfilmkameras durchsetzten, die es auch Laien erlaubten, in großem Stil Fotos zu machen. Aber erst durch Digitalisierung, Smartphones und Social Media-Plattformen wie Instagram ist die damals vorhergesehene Zukunft endgültig Gegenwart geworden: Wer sich nicht tagtäglich mit Fotos beschäftigt, nicht selbst fotografiert und die Bildplattformen nicht aktiv nutzt, gilt mittlerweile vielen als rückständig – als Analphabet insofern, als er oder sie das neben der Sprache wichtigste Medium der Kommunikation nicht beherrscht und schlimmstenfalls nicht einmal versteht.
Künstler und Theoretiker wie László Moholy-Nagy, Franz Roh oder Jan Tschichold, die prophezeiten, das das Fotografieren künftig zu den grundlegenden Kulturtechniken gehören würde, waren zugleich Protagonisten eines ‚Neuen Sehens’. Für sie war klar, dass die von Apparaten erzeugten Bilder auch die Wahrnehmung verändern würden. Das Sehen würde technischer und abstrakter werden; es würden Aufnahmen aus Perspektiven und in Ausschnitten entstehen, die mit der herkömmlichen Welterfassung nicht viel zu tun hätten. Das ‚Neue Sehen’ wollte nicht das Wesen der Dinge offenbaren, vielmehr wurde ein Muster, ein Rapport, ein rechter Winkel – ein formales Ereignis – zum Anlass für ein autonomes Bild.
Auch noch ein knappes Jahrhundert später verfallen fast alle, die eine Kamera zur Hand nehmen, immer wieder darauf, Fotos im Stil des ‚Neuen Sehens’ zu machen. Dazu verleitet die Lust an der Verfremdung des Alltäglichen oder die schmeichelhafte Vermutung (bei manchen sogar Überzeugung), über einen besonderen Blick zu verfügen, wenn man das Abstrakte im Gegenständlichen zu entdecken vermag. Nicht zuletzt bei Erstsemestern an Kunsthochschulen sind abstrahierend-verfremdende Fotos daher nach wie vor sehr beliebt.
Aber selbst auf den Accounts von Politikern und Wahlkämpfern finden sich solche Bilder. Sie stechen unter sonst ziemlich profanen Aufnahmen heraus, die nur schnappschussartig etwas festhalten und ohne formale oder ikonographische Ambition entstanden sind. Der Account des SPD-Politikers Niels Annen, ehemaliger Juso-Vorsitzender und nun u.a. Bundestagsabgeordneter für Hamburg, ist dafür ein gutes Beispiel. Brav präsentiert Annen fast täglich Fotos seiner Termine, Reden, Begegnungen, gibt Einblicke in den Haustürwahlkampf, macht Werbung für die Themen und den Spitzenkandidaten seiner Partei. Vieles sieht dabei etwas angestrengt aus, als sei Politik ein höchstens durchschnittlich spannender Beruf mit überdurchschnittlich vielen Pflichten.
Doch am 1. August postete Annen plötzlich ein Bild, das viel mehr mit ‚Neuem Sehen’ als mit Schnappschussroutine zu tun hat. Das Foto besteht aus einer Reihe horizontaler Streifen in Weißnuancen und graubraun melierten Tönen. Ein grell roter Streifen im oberen Bereich des Bildes dominiert jedoch alles; ein Echo – wie ein Schatten oder Abklatsch – findet er in einem fast schwarzen Streifen in der Bildmitte. Vertikal teilt das Bild (zumindest in der unteren Hälfte) eine dunkle Linie, etliche weitere hellere und dünnere Linien verlaufen achsensymmetrisch zur Mittellinie in leichter Schräge.
Der Bildausschnitt zeigt einen Bahnsteig sowie den unteren Teil eines ICE. Annen selbst teilt via Hashtags mit, das Foto vor einer Fahrt zu einem Wahlkampftermin in Münster am Bahnhof Hamburg-Dammtor geknipst zu haben: Für einen Moment, während des Wartens auf seinen Zug, hat der Parteifunktionär sich von seiner üblichen Rolle befreit und hat die Anwandlung, nicht nur eine Aufnahme, sondern ein künstlerisches Bild zu machen. Als wollte er sich und seinen Followern zeigen, dass in ihm verborgene Talente schlummern. Vielleicht ist er sogar ein wenig stolz darauf, überhaupt in eine poetische Stimmung geraten zu können.
Aber selbst dann kommt er nicht so richtig los von der Politik. So dürfte der Auslöser – und letztlich die Legitimation – für sein Bild allein jener rote Streifen gewesen sein. Er gehört zum Corporate Design der Deutschen Bahn, aber Niels Annen erkennt darin vor allem das Corporate Design seiner Partei – der SPD – wieder. Vermutlich hat er den Ausschnitt seines Fotos sogar bewusst so gewählt, dass der rote Streifen nicht länger mit der Deutschen Bahn assoziiert werden muss, sondern markant freigestellt ist und daher gleichsam neu verfügbar wird. Mit den Techniken des ‚Neuen Sehens’ erobert Annen das Rot also, zumindest auf seinem Account, für seine Partei. Das zeugt von Treue, Disziplin, Pflichtbewusstsein, aber man könnte auch eine ‚déformation professionelle’ darin erkennen, dass der SPD-Mann im Wahlkampf nur noch rotsieht.
Der Wahlkampf auf Instagram:
Teil 1: Mit dem Regenbogenherz ins politische Sommermärchen
Teil 2: Martin Schulz in der Schule
Teil 3: Wochenende eines protestantischen Läufers
Teil 4: Körpersprache statt Dingsymbole
Teil 5: Wer gewinnt den großen Fotowettbewerb?