Höher und niedriger?
[Auszug aus dem Buch »Camp als Konzept«, Posth Verlag, 2017]
Wegen der Bedeutung der Populärkultur für viele Camp-Konzeptualisierungen der 1960er Jahre wurde ›Camp‹ auch in den Wissenschaften in ein Verhältnis zu massenhaft produzierten Gütern der Populärkultur gestellt. Der Begriff ›Camp‹ wird unter anderem zur Erläuterung der avantgardistischen Aneignung populärer Kultur und der Erweiterung des intellektuellen Interesses durch den so genannten ›bad taste‹ verwendet. ›Camp‹ wird eine entscheidende Rolle in der Neubeschreibung zeitgenössischer Geschmackscodes und eine zentrale Position innerhalb der Evolution der Popkultur attestiert. Dem gegenüber steht die Annahme, dass Camp die progessive Rolle innerhalb der Popkultur und eine kritische Rolle in Bezug auf die herrschende Kultur verliert – aus ›Camp‹ werde ›Cheese‹. Diesen Positionen soll im Folgenden nachgegangen werden.
Neubeschreibung zeitgenössischer Geschmackscodes
Bereits Susan Sontag begründet die nostalgische Note von Camp: »Time liberates the work of art from moral relevance, delivering it over to the Camp sensibility«1 . Für Andrew Ross wiederum entsteht der Camp-Effekt, wenn Produkte eines früheren Produktionsmodus nutzbar gemacht werden: »The camp effect, then, is created not simply by change in the mode of cultural production, but rather when the products (stars, in this case) of a much earlier mode of production, which has lost its power to dominate cultural meanings, become available, in the present, for redefinition according to contemporary codes of taste.«2
Daher bestehe die Funktion von Camp in einer Neubeschreibung zeitgenössischer Geschmackscodes:3 »Camp, in this respect, is the re-creation of surplus value from forgotten times of labor«4 . Camp sei charakterisiert durch eine Sichtbarmachung des historischen Verbrauchs und unterscheide sich gegenüber Pop folgendermaßen: »In reviving period style, or elements of a period style that were hopelessly, and thus safely, dated, camp acted as a kind of memento mori , a reminder of Pop’s own future oblivion, as I have argued, Pop contains within itself.«5
Bereits George Melly betonte Anfang der 1970er Jahre in »Revolt into Style. The Pop Arts«6 , dass Camp eine zentrale Position in einem transitorischen Moment innerhalb der Evolution der Popkultur einnimmt: »it’s central to almost every difficult transitional moment in the evolution of pop culture«7 . Welchen Bestimmungen Camp in Pop nun unterliegt, fasst Melly mit bekannten Formulierungen zusammen: »›dated and/or ridiculous‹ and yet somehow available«8 . Camp habe dabei ›geholfen‹, dass Pop sein Referenzsystem erweitern konnte: »It allowed pop to expand its terms of reference, its bank of images«9 . Dank Camp habe Pop einen Bogen um den guten Geschmack gemacht und Vulgarität zurück in die Popkultur gebracht. Doch bereits Anfang der 1970er kommt Melly zu dem Schluss, dass Camp zu einem ermüdenden Manierismus geworden sei.10
Die Rolle von Camp innerhalb eines transitorischen Moments innerhalb der Popkultur ist auch bei Dick Hebdige in »Subculture. The Meaning of Style«11 von Relevanz. Hebdige fokussiert jedoch die Wandlung der Geschlechterdarstellungen, die eine zentrale Rolle innerhalb des Camp-Konzeptes spielen. Der Terminus ›Camp‹ wird am Beispiel des Sängers David Bowie und seinen »›camp‹ incarnations«12 in den 1970er Jahren verwendet. Bowies verkörperte Figuren stünden für eine ästhetische Weltwahrnehmung, die einen Gegensatz zur ›wahren‹ Welt markierte. Das betreffe insbesondere die Abwesenheit einer politischen oder gegenkulturellen Position.13 Durch diese Attribute wird Camp erneut als Ästhetizismus skizziert und der gesellschaftliche Einfluss eingeschränkt. Doch es wird auch betont, dass diese Perspektive einen Freiraum für Veränderung eröffnet habe – hier die Frage nach Geschlechtlichkeit. Hebdige konstatiert, dass es im Glam Rock eine Änderung der subversiven Inhalte innerhalb der Rock-Musik gab – weg von Klassenfragen und Haltung der Jugendlichkeit hin zu Sexualität und geschlechtlicher Typisierung.14 Bowies Fantasy- und Science-Fiction-Rollen wird zugesprochen, unter anderem die Flucht vor Klasse und Geschlecht als ›Meta-Message‹ zu besitzen.
Diese Argumentation verfolgt genauer Van M. Cagle in einem 2006 erschienenen Aufsatz, der sich rückblickend mit Glitter Rock auseinandersetzt. Ähnlich wie Dick Hebdige kommt Cagle bezüglich Bowie zu folgender Schlussfolgerung: »So verschob Glitter den Ansatzpunkt des Rock and Roll von den manifesten sozialen und politischen Themen der späten Sechziger hin zu einer eher ichbezogenen Politik der Selbstidentifikation und lotete die Möglichkeiten des Selbst oder des Einzelnen aus, die rigiden Gender- und Sexualitätskonstruktionen zu subvertieren und zu manipulieren«.15
Bowie, der einen »methodischeren und raffinierteren Camp-Stil«16 gepflegt habe, habe bestimmte Geschlechterzuordnungen unterlaufen, indem er androgyne Bühnenpersönlichkeiten geschaffen habe und gleichzeitig »die Grenzlinien zwischen seiner wirklichen Person und dem Bühnencharakter Ziggy Stardust verwischte«17 . Folglich habe Glitter keine Homo- oder Bisexualität propagiert, sondern das, »was wir heute Queerness nennen«18.
Wie bei Hebdige spielt auch bei Cagle der durch Camp-Strategien (»Taft-Capes, Männerkleider, einteilige Jumper und ›Space Make-up‹«19) erzeugte Freiraum eine große Rolle. Denn erst dieser ermögliche es, »einen Raum zur Destabilisierung, Erschütterung und Aushebelung von heterosexuellen Konstruktionen und Geschlechtertypisierungen«20 zu schaffen: die Entkoppelung vom gängigen Mainstream als Notwendigkeit zur Formierung einer alternativen Perspektive. Die Verschachtelung von Ästhetizismus und gesellschaftlichem Einfluss scheint dabei kein Widerspruch zu sein.
Kritik an der Massenkultur
Thomas Küpper und Chuck Kleinhans erweitern den Ansatz, dass Camp durch die Aufwertung von minderwertigen Kulturgütern für eine Neubeschreibung zeitgenössischer Geschmackscodes stehen kann, durch eine kritische Perspektive, die von Camp ausgeht. Gemäß Küpper ist es durch Camp möglich, eine Nicht-Ursprünglichkeit zur Schau zu stellen. Wenn Kitsch das Abgegriffene als originär, echt, wahr und spontan ausgebe, dann erweise Camp die Kategorie des Originals als fragwürdig. Camp verdeutliche, »dass die ›Substanz‹ der reaktualisierten Formen zu einem Schema geworden ist«21 . Denn Kitsch, so Küpper, kennzeichne sich durch die Wiederverwendung lange etablierter Formen. Hierbei handle es sich um Muster, die in ihrer Variation höchst standardisiert seien. Küpper beschreibt Camp dahingehend, dass Performativität deutlich werde. »[Camp] höhlt die gängigen Setzungen aus, indem es vorführt, dass die wiederum gängigen Setzungen, nicht aber vorgängigen Wahrheiten folgen. Zur Demonstration zieht Camp insbesondere Kitsch-Elemente heran: Figuren, die so standardisiert sind, dass sie ohnehin dem Verdacht unterliegen, substanzlos zu sein.«22
Bereits Chuck Kleinhans hat hervorgehoben, dass sich Camp durch die Transformation von Massenkultur auszeichnet. Um das zu verdeutlichen, spricht Kleinhans von dem Kitschaspekt der Massenkultur. Er geht davon aus, dass kommerzielle Kultur nur noch auf sich selbst Bezug nimmt. Demzufolge würden industriell reproduzierte Güter, die auf traditioneller Kultur beruhen, immer nur auf den schon vorher konstituierten Standard verweisen.23 Im Gegensatz dazu sei Camp eine Herausforderung vorherrschender Kultur, weil es eine konträre Position gegenüber der Massen- und Medienkultur besetze.24 In diesem Sinne würde Camp eine Kritik an der Massenkultur implizieren.
›Mass Camp‹
Barbara Klinger diskutiert Camp im Zusammenspiel von medialen Events und sozialen Entwicklungen, wodurch sich Camp zu einem allgegenwärtigen Phänomen entwickelt hat und »mass camp« entstanden sei.25 Diese Entwicklung führt sie auf die Veröffentlichung von Susan Sontags Essay zurück, aber auch auf die wachsende Bedeutung der Massenkultur sowie bestimmte Entwicklungen innerhalb dieser. Grundlegend ist für sie eine Demokratisierung innerhalb der Kultur zugunsten eher mittelmäßiger Kulturgüter. Das führt sie auf das Medienrecycling nach dem Zweiten Weltkrieg zurück: Dieses habe unter anderem eine ›campy‹ Perspektive auf alte Hollywoodfilme gefördert. Durch zahlreiche Wiederholungen im Fernsehen und die Fernsehadaption klassischer Kinothemen wie Western sei der Zuschauer für die Erzählweise und den formalen Stil früherer Filme sensibilisiert worden: »The mass camp sensibility entered mainstream culture ready to adore the mediocre, laugh at the overconventionalized, and critique archaic sex roles«26. Die Verbindung zwischen den Massenmedien und der »Camp-Attitüde« in Bezug auf das Kino werde besonders an den Produkten deutlich, in denen Stars und Filme parodiert werden27: »These and other popular manifestations of camp attitudes have led to a greater awareness of prior conventions through parody, creating an intricate relation between convention and past. Mass camp, that is, has encouraged a sensibility that views past Hollywood films as inadvertent campy send-ups.«28
Zudem sei es nach der Veröffentlichung von Sontags Camp-Essay innerhalb der Rockmusik zu einer starken Beeinflussung durch Camp-Auffassungen gekommen: David Bowie, The Kinks, Mick Jagger oder Lou Reed hätten Aspekte des Dandyismus und des Crossdressing gewinnträchtig angenommen.29
»Mass camp« zeichne sich zwar auch durch die Infragestellung einer traditionellen Ästhetik und sexueller Konventionen aus und teile das mit ›traditionellem‹ Camp. Jedoch fehle jenem »mass camp« der politische Biss. Darüber hinaus führe es zu keiner Gruppenidentität mehr. Daher versteht Klinger »mass camp« als einen flüchtigen Trend30 , der sich dem widmet, was gegenwärtig mittelmäßig erscheint: »Mass camp gains its pleasures in a sporadic manner, dipping in and out of the text, selecting those moments for response that seem especially antiquated to the contemporary eye.«31
Camp und Cheese
Diese Problematik spiegelt sich innerhalb einer Debatte Anfang der 1990er Jahre in den USA wieder. Wie in den 1960er Jahren wird die Entwicklung von Camp – von einer obskuren Sensibilität einer Minderheit hin zu einem allgemeinen Phänomen – festgestellt und mit einer Präferenz des schlechten Geschmacks in Verbindung gesetzt: »Camp, an ironic taste for the outrageously tasteless, has gone from being an obscure sensibility with murky roots in the gay subculture to a cultural mainstay«32, stellt Gareth G. Cook in »The Dark Side of Camp« fest. Auch Glasgow Philips macht Camp als einen festen Bestandteil der Popkultur aus33, er beklagt jedoch, dass Camp langweilig geworden sei.
Philips bedauert insbesondere, dass die Camp-Erlebnisweise für jedermann zugänglich ist: »And now that we all have access to that mode, it is cheap, as banal as the objects upon which it was originally turned.«34 Als Indizien nennt Cook das Gefallen an alten Filmen, die als »Kult-Klassiker« in den Videotheken geführt werden, oder die Popularität von TV-Shows und Filmen, in denen B-Movies humoristisch verarbeitet werden.35 Ein besonderes Augenmerk legt Cook zudem auf die Popularität von stilistischen Merkmalen der weißen amerikanischen Unterschicht: »Integral to the camp sensibility is a mocking and superior attitude toward the lower classes, especially poor whites.«36
Philips konzentriert sich mehr auf TV-Shows von Aaron Spelling, der unter anderem »Beverly Hills 90210« produziert hat. Joshua Glenn merkt jedoch kritisch an, dass diese Autoren nicht Camp, sondern »Cheese«37 beschreiben würden. Zu Cook heißt es: »No: cheese’s detachment is everywhere; cheese is a way of avoiding choices and responsibility. If a thoughtful writer like Cook is confused, just imagine how muddled others are.«38 Der Unterschied liegt für Glenn zum einen in der Haltung des Akteurs. Cheese sei ein sarkastischer Abwehrmechanismus. Zum anderen basiere Cheese auf niederen Formen und Camp auf höheren Formen der Absurdität: »Cheese is a sensibility predicated upon lower forms of absurdity; camp is predicated upon higher ones.«39
Michiko Kakutani äußert sich weniger kryptisch. Seiner Meinung nach liege die entscheidende Differenz zwischen Camp und Cheese darin, dass sich Camp bei marginalen Ausdrucksformen bediene, Cheese jedoch in der Popkultur fest verankert sei: »Cheese gravitates toward the best-known phenomena of pop culture«40. Zudem würde sich Cheese ausschließlich auf das vorsätzlich Vulgäre und Trügerische beziehen. Bezüglich der Haltung des Akteurs greift Kakutani auf Sontag zurück, dass Camp ein zartes Gefühl sei: »Camp tends to be inclusive and generous, whereas Cheese tends to be judgmental, cynical and detached. […] ›Camp is a tender feeling.‹ This is not true of Cheese, a more mean-spirited, mocking esthetic.«41
Literatur
1 Susan Sontag, Notes on ›Camp‹ [1964], in: dies., Against Interpretation, and other Essays, New York 2001, 275-292, hier 285.
2 Andrew Ross, No Respect. Intellectuals and Popular Culture, New York 1989, 139.
3 Ebenso ist Frank Illing der Meinung, dass für den Camp-Geschmack neue ästhetische Wertmaßstäbe, gegenüber modischen, kommerziellen, sowie Schund- und Massenkultur, kennzeichnend ist. Vgl. ders., Kitsch, Kommerz und Kult, Konstanz 2006, 228.
4 Andrew Ross, No Respect. Intellectuals and Popular Culture, New York 1989, 151.
5 Ebd., 152.
6 George Melly, Revolt into Style. The Pop Arts, New York 1971.
7 Ebd., 177.
8 Ebd.
9 Ebd.
10 Vgl. ebd., 177.
11 Dick Hebdige, Subculture, The Meaning of Style, London und New York 1979.
12 Ebd., 60.
13 Vgl. ebd., 61.
14 Vgl. ebd., 61-62.
15 Van M. Cagle, Glitter Rock, Kontext und Identitätspolitik, in: Diedrich Diederichsen u.a. (Hg.), Golden Years. Materialien und Positionen zu queerer Subkultur und Avantgarde zwischen 1959 und 1974, Graz 2006, 283-295, hier 290.
16 Ebd., 292.
17 Ebd., 294.
18 Ebd., 286.
19 Ebd., 292.
20 Ebd., 290.
21 Thomas Küpper, »Ist es wahre Liebe…?« Kitsch und Camp aus evelutionstheoretischer Sicht, in: Sabine Kampmann u.a. (Hg.), Gender Studies und Systemtheorie, Bielefeld 2004, 141-158, hier 149.
22 Ebd.
23 Chuck Kleinhans, Taking out the Trash. Camp and the Politics of Parody, in: Moe Meyer (Hg.), The Politics and Poetics of Camp, London 1984, 182-201, hier 188.
24 Ebd.
25 Vgl. Barbara Klinger, Melodrama and Meaning. History, Culture and the Films of Douglas Sirk, Bloomington und Indianapolis 1994, 137ff.
26 Vgl. ebd., 139.
27 Als Beispiele nennt sie »The Tonight Show«, »The Carol Burnett Show«, »Saturday Night Live«, »Second City TV«, »Mystery Science Theater 3000«.
28 Vgl. ebd., 134.
29 Vgl. ebd., 138.
30 Vgl. ebd., 140.
31 Ebd., 142.
31 Gareth G. Cook, The Dark Side of Camp. Why Irony and Detachment sometimes Add up to Nastiness and Snobbery, in: The Washington Monthly, September 1995, Artikel online unter: https://garethcook.net/the-dark-side-of-camp/.
33 Vgl. Glasgow Philips, Shiny Adidas Tracksuits and the Death of Camp, in: Might Magazine (Hg.), Shiny Adidas Tracksuits and the Death of Camp and other Essays, New York 1998, 35-40.
34 Ebd., 39.
35 Vgl. ebd.
36 Gareth G. Cook, The Dark Side of Camp. Why Irony and Detachment sometimes Add up to Nastiness and Snobbery, in: The Washington Monthly, September 1995, Artikel online unter: https://garethcook.net/the-dark-side-of-camp/.
37 »Cheesy« wird mit »corny, tacky« beschrieben. Della Thompson (Hg.), The Concise Oxford Dictionary of Current English, 9. Auflage, Oxford 1998, 224. Der Begriff kann mit ›abgedroschen, blöd, kitschig schmalzig‹ oder ›geschmacklos, schäbig, kitschig‹ übersetzt werden.
38 Joshua Glenn, Camp, Kitsch & Cheese, in: Hermenaut 11/12 (1997), Artikel online unter: http://hilobrow.com/2010/06/05/camp-kitsch-cheese/.
39 Ebd.
40 Michiko Kakutani, Critic’s Notebook. First there Was Camp. Now there’s Cheese, in: New York Times, 07.08.1992, Artikel online unter: https://www.nytimes.com/1992/08/07/arts/critic-s-notebook-first-there-was-camp-now-there-s-cheese.html.
41 Ebd.
»Camp als Konzept« von Stefanie Roenneke ist im Posth-Verlag erschienen. Bei dem veröffentlichten Auszug handelt es sich (mit Ausnahme des ersten Absatzes) um die Kapitel 6.2. bis 6.5 (S. 91-97).