Hohe Kultur (5)
von Stefan Krankenhagen
10.4.2017

Priceless. Die hohe Kultur und das Geld

Teil 5 der Serie von Merkur-Blog und pop-zeitschrift.de

Die hohe Kultur war und ist immer auch ein Geschäft. Sie ist in mehrfacher Hinsicht wertvoll. Doch die ökonomischen Operationen der Wertschöpfung von hoher Kultur bleiben im Hintergrund. Hohe Kultur ist wertvoll, hat aber am besten keinen Preis und auf jeden Fall kein Preisschild. Sie ist, und das erinnert nicht zufällig an die schöne Werbung von MasterCard, unbezahlbar.

Momente, in denen ausbuchstabiert wird, was die Hohe Kultur wert sei, sind deshalb besonders aufschlussreich. Ein solcher Moment ereignete sich 1816, als das britische Unterhaus über den Ankauf des von Lord Elgin geraubten Skulpturenfries aus dem Parthenon Tempel in Athen diskutierte.

Ausgiebig befragte das Selective Committee on the Earl of Elgin’s Collection Künstler, Kunstkritiker und Parlamentsabgeordnete nach symbolischem und ökonomischem Kapital. Es beginnt, nicht überraschend, mit Fragen nach einem ästhetischen Urteil: „Do you think that the bas reliefs of the Centaurs are in the first class of art? – I do think so“.

Nachdem der historische und ästhetische Wert der Objekte von den Experten des Unterhauses bestätigte wurde, stand im nächsten Schritt die Kategorie des Nationalen auf dem Prüfstein: „Do you think it very desirable, as a National object, that this Collection should become public property? – Undoubtedly“.

Und schließlich, als eine entscheidende Größe, die die Gründung sämtlicher europäischer Museen im 19. Jahrhundert beeinflusste, war es der bildungspolitische Wert hoher Kultur, der in Frage stand. Denn Kultur ist dann hohe Kultur, wenn sie zu einem Anlass für gesamtgesellschaftliche Lernprozesse erklärt werden kann: „arranged for the purposes of study“. Das 19. Jahrhundert etablierte die Trias von ästhetischer Meisterschaft, nationaler Identität und bildungspolitischer Agenda als Ausweis hoher Kultur. So weit, so bekannt.

Doch England ist eine Handelsnation und der Preis, der für die Sammlung aufgerufen wurde, entsprach in etwa den Kosten, die in den Jahren darauf für die Errichtung der National Gallery veranschlagt wurden. Keine kleine Summe also. Die Parlamentsdebatte zeichnet deshalb auch das Bild eines intensiven Feilschens auf der Basis guter Kenntnisse der Marktpreise.

„The Prices which have been paid to Roman dealers, within my knowledge, for important articles in this country, are as follows“, wie der Kunstkritiker Richard Payne Knight seine Auflistung exemplarischer Geschäfte mit der hohen Kultur begann. „Recumbent statue of Hercules, as on the coins of Croto, with little of the surface remaining … £1.500 […] Fragment of the head of a horse, very fine … £250“.

Die hohe Kultur wird hier als ökonomische Operation und Transaktion präsentiert. Ihr Wert lässt sich entsprechend im Vergleich zu den aktuellen Marktpreisen bestimmen und offenbart sich als eine prosaische Verhandlung zwischen Angebot und Nachfrage. Im Ergebnis jedoch dominieren und legitimieren die immateriellen Werte den ökonomischen Preis. Die Debatte im Jahr 1816 führte jedenfalls dazu, dass die Skulpturen als so priceless deklariert wurden, dass die geforderte Summe von 35.000 Pfund Sterling an Lord Elgin bezahlt wurde. Auch das steht in den Quellen.[1]

Nur selten werden die offensichtlichen ökonomischen Operationen im Feld der hohen Kultur so offensichtlich. Lieber werden sie ausgelagert an Galerien und Auktionen, an ‚den Kunstmarkt‘, wie es die Rubrizierung in den Feuilletons der großen Tageszeitungen anzeigt. Die Illusion, dass die Kunst eine marktferne Sphäre sei, hat sich bis in die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts gehalten – und manche hängen ihr noch heute an.

Dieses idealistische Erbe, so Walter Grasskamp, „läßt sich als das ästhetische Syndrom bezeichnen, das in einer weltfremden Leugnung ökonomischer Einflüsse in der Kunst besteht, in der hartnäckigen und langen Zeit sehr erfolgreichen Verdrängung der paradoxen Erkenntnis, daß erst die bürgerliche Gesellschaft, die von der reinen, der autonomen Kunst träumte, die Kunstwerke im großen Maßstab zur Handelsware machte“.[2]

Für die Kunst ist die Sache dennoch halbwegs geklärt: als Kunstreligion hält sie ökonomische Operationen erfolgreich auf Abstand; als Kunstmarkt ist sie ihnen verfallen. Noch die letzte halbgare kritische Position vergisst nicht zu erwähnen, dass es in der Kunst ‚nur ums Geld geht‘, Damien Hirst sei Dank.

Doch das ästhetische Syndrom hat sich nicht nur von der Kunst des Marktes entzaubern lassen, es hat sich auch verschoben. Und zwar in die hohe Kultur hinein. Kein Jugend-musiziert-Wettbewerb, keine Arte-Dokumentation und erst Recht kein internationales Theaterfestival, das nicht am Irrglauben des ästhetischen Syndroms teilhätte: Wo kein Geld (sichtbar), da hohe Kultur.

Die hohe Kultur hat das Erbe der religiösen Ächtung von Geld und Konsum als ihr eigenes moralisches Selbstverständnis übernommen. Nur so ist es möglich, dass die hohe Kultur gleichzeitig diffundiert und in ihren Grenzen stabil bleibt. Kultur für alle hieß ja nie: Fernsehen für alle, Werbung für alle, Konsumkultur für alle. Sondern eben: Stadtteilkultur, Jugendkultur, Bildungskultur für alle.

Und auch die akademische Begleitmusik zum Plädoyer einer sich entgrenzenden hohen Kultur hielt die Grenze dicht. Thomas Hecken stellt heraus, dass es gerade „die antiautoritäre, neulinks und/oder gegenkulturell ausgerichtete Bewegung der zweiten Hälfte der 60er Jahre“ war, die „einen wichtigen Beitrag zu einer Entgrenzung der Konsum- und Popkultur geliefert hat“. Dieser (Mit-) Verantwortung folgte aber wenig mehr als die alten Reflexe: „Tatsächlich sehen die meisten, die sich gegen den Konsumismus aussprechen, weil sie ihn als Hindernis für wichtige politische Initiativen betrachten, in ihm bereits ein Ärgernis. Vieles erscheint ihnen unendlich wichtiger, Ideen, Kunst, stark ausgeweitete politische Partizipation, Kultur, Kreativität, Werte, Geist, Intensität, Transzendenz. Eine materialistische Haltung, die sich ans Angenehme, Unterhaltende, Sinnliche, recht unmittelbar Reizvolle, greifbar Gegebene hält, besitzt dagegen wenig intellektuelle Fürsprecher“.[3]

Dass Kultur heute für alle und alles sei, heißt somit im Umkehrschluss nicht, dass das Treten nach unten ein Ende hätte. Kein allgegenwärtiges Mischmasch und kein Mittelmaß der allerorts pluralisierten Kulturen, sondern klare Feindlinien herrschen. Hohe und (ehemals) niedere Kultur treffen sich in der Ablehnung, ökonomische Operationen als Teil ihrer historischen Bedingungen, ihres funktionalen Zustandekommens und ihrer spezifischen Ästhetik anzuerkennen.

Die Unterschiede zwischen hoher und niederer Kultur haben sich an einer Stelle aufgelöst, um an anderer Stelle umso tiefere Gräben zum Zweck der moralisch-normativen Selbsterzählung zu ziehen. Jene Grenzen bewegen sich immer weniger als Zuschreibung von Kennerschaft, Konzentration und Ausdauer in der Produktion und Rezeption kultureller Artefakte, sondern stellen sich als moderne Gretchenfrage: Nun sag, wie hast Du’s mit dem lieben Geld?

Anders in der Populären Kultur. Deren hervorstechendstes Merkmal, Serialität, entwickelte sich Mitte des 19. Jahrhunderts als funktionale Zuschauerbindung und als ästhetische Erwartungssteuerung. Frühe Populäre Kultur in Europa ist Unterhaltungsliteratur: Thackerays Vanity Fair, Vernes Le tour du monde en quatre-vingt jours, Mays Das Waldröschen. Alle erschienen sie als Fortsetzungsromane, in Serie. Die Gretchenfrage beantworteten sie offensiv. Nicht nur, aber vor allem auch die ökonomische Resonanz mit ihrer Leserschaft garantierte die serielle Fortsetzung.

So ist es bis heute geblieben: „Was angeboten wird, steht in mehreren, gestaffelten Formen der Rückkopplung, die sicherstellen, dass es auch gewollt wird.“[4] Normierung, Standardisierung und Ökonomisierung sind somit nicht das Andere der Populären Kultur. Stattdessen gehört es zum historischen Wissen um die Populäre Kultur dazu, sie als eine warenförmig organisierte Kultur zu begreifen – unabhängig davon, ob man diese spezifischen Bedingungen wertschätzen oder verurteilen möchte.

Die Populäre Kultur ermöglicht somit, dass wir uns innerhalb von Kultur bewegen, nicht außerhalb. Populäre Kultur ist das Aufatmen, das man spürt, wenn man aus der Dauerausstellung der ägyptischen Sammlung in den Museumsshop tritt. (Und das gilt auch für jede Jonathan Meese-Show und jede Design-Ausstellung.) Sie ermöglicht ein Bewusstsein der Warenförmigkeit von Welt, Subjekten und ihren Beziehungen miteinander – ohne daraus kulturkritisches Kapital zu schlagen, wie es die hohe Kultur mit und seit der Pop-Art verfolgte. Sie ermöglicht ein Bewusstsein von der Notwendigkeit, den Überfluss an Dingen und Zeichen, Identitäten und Praktiken – die kontingente Moderne – zu bewältigen, ohne jenen Überfluss quantitativ zu reduzieren. Und sie bietet eine Erfahrung, die eine Verbindung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, zwischen der Einen und den Vielen, schaffen kann.

Dies geschieht, indem sich das Populäre selbst – als eine erst noch ökonomisch-rezeptiv zu bestätigende Möglichkeitsform – zur Disposition stellt. Erst in der vielfachen Anerkennung erfüllt sich das Populäre, indem es Übereinkunft herstellt. Die Beziehungs-Stiftung, die der Populären Kultur inhärent ist – sowohl als ästhetischer Modus wie auch als ökonomische und mediale, als soziale und körperliche Praxis –, gruppiert sich um die Erfahrung gemeinsam produzierter Urteile im Modus temporärer Geschmacksgemeinschaften.

Populäre Kultur bietet somit eine ästhetische Form für die Erfahrung des Einzelnen in der Massengesellschaft an. Einen Umgang mit dem kontinuierlichen Zuviel der Möglichkeiten in der modernen Überflussgesellschaft. Sie ist dabei gerade nicht priceless, sondern sie nennt ihren Preis. Populäre Kultur ist ein Service, der immer auch Self-Service ist. Ich muss mir ein Ticket kaufen, aber in Bezug auf die Trias Meisterschaft, Identität und Bildung bin und bleibe ich Selbstversorger.[5]

Die Grabenkämpfe zwischen hoher und niederer Kultur haben nicht aufgehört, und es gibt keinen Grund, die Begriffe in Anführungszeichen zu setzen. Es herrscht eine sehr klare, wenn auch variierende Vorstellung davon, was hohe und was niedere Kultur sei: „Heute wird nicht nur das Schöne, sondern auch das Hässliche glatt. Auch das Hässliche verliert die Negativität des Diabolischen, des Unheimlichen oder des Schrecklichen und wird zur Konsum­ und Genussformel geglättet. […] Dem Ekelerregenden, das heute im ‚Dschungelcamp‘ dargeboten wird, fehlt jede Negativität, die eine existentielle Krise auslösen würde. Es wird zum Konsumformat geglättet“.[6]

Das Gute an solch raunender Agitation ist, dass es die tatsächlich bestehenden Unterschiede zwischen hoher und niederer Kultur stark macht. Ja, das Dschungelcamp ist nicht die Verfilmung von Karl Rosenkranz‘ Ästhetik des Häßlichen. Aber anstatt jene Differenzen produktiv werden zu lassen, feiert man lieber weiterhin die eigene moralisch gesättigte Ignoranz, die immer schon gewusst haben will, dass die unbezahlbare der käuflichen Kultur überlegen ist.

 

Anmerkungen

[1] Nachzulesen, wie die hier verwendeten Zitate, in: Siegel, Jonah (Hrsg.): The Emergence of the Modern Museum. An Anthology of Nineteenth-Century Sources, Oxford: Oxford University Press 2008, S. 37-78.

[2] Grasskamp, Walter: Kunst und Geld. Szenen einer Mischehe, München: C.H. Beck 1998, S. 20.

[3] Hecken, Thomas: Das Versagen der Intellektuellen. Eine Verteidigung des Konsums gegen seine deutschen Verächter, Bielefeld: Transcript Verlag 2010, hier S. 143 und S. 228.

[4] Baßler, Moritz: “Leitkultur Pop? Populäre Kultur als Kultur der Rückkopplung”, in: Kulturpolitische Mitteilungen 148 (2015), Nr. 1, S. 34-39, hier S. 37.

[5] So hat Niklas Luhmann das Prinzip der Unterhaltung beschrieben: „Das, was als Unterhaltung angeboten wird, legt niemand fest; aber es gibt genügend Anhaltspunkte (die man weder in den Nachrichten noch in der Werbung finden würde) für Arbeit an der eigenen ‚Identität‘. Fiktionale Realität und reale Realität bleiben offensichtlich unterschieden, und eben deshalb wird das Individuum, was seine Identität betrifft, Selbstversorger.“ Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag 2. Aufl. 1996, S. 115f.

[6] Byung-Chul Han: Die Errettung des Schönen. Frankfurt a.M.: Fischer 2015, S. 16ff.

 

Stefan Krankenhagen ist Professor für Kulturwissenschaft mit dem Schwerpunkt Populäre Kultur an der Stiftung Universität Hildesheim.

 

Hohe Kultur:
Teil 1: Einleitung
Teil 2: Hohe und niedrige Metaphern – ‚high culture‘, ‚low culture‘ u.a.
Teil 3: Elphi – oder Hochkultur als Subventionsbetrug
Teil 4: Die Verachtung der populären Kultur durch die Neuen Rechten