Die Abweichung als Regelverletzung. Zu »Steinstraße 11« und »032c«
von Stefanie Roenneke
19.2.2017

Zur Vertriebsbeschränkung zweier Ausgaben

Im Oktober 2004 erschien die erste Ausgabe des Magazins »Steinstraße 11. Magazin für Kultur und Diverses«, konzipiert und herausgegeben von der Münchner Verlegerin Gina Kehayoff. Durch das Zusammenspiel von journalistischen und literarischen Texten namhafter Autoren gab sich das Heft anspruchsvoll, blieb aber dennoch nahbar, durch den Fokus auf Städtisches oder Alltägliches.

Darauf folgten zwei weitere Ausgaben, es ging schwerpunktmäßig um Kinder und Liebe. Danach war Schluss. Zur ersten Ausgabe schrieb Nils Minkmar (2004: 33) noch wohlwollend über das »entspannte[s], urbane[s] Programm«. Für Ingeborg Harms (2005: 44) war die zweite Ausgabe ein gutes Exempel für visuelle starke Magazine, denn »[v]iele Zeitschriften haben von der Konkurrenz gelernt, wie man durch Optik verführt«. Sie hebt dafür historische Waisenkinderporträts und die Aufnahmen der Münchener Gynäkologe Eli Teicher hervor, die Säuglinge unmittelbar nach ihrer Geburt zeigt.

Bekannt ist insbesondere die eingeschränkte Vertreibung des ersten Heftes. Denn die Druckware war »hochgefährlich«, wie Minkmar (2004: 33) den Fall ironisch kommentiert. Das Urteil lautete: »vertriebsbeschränkt«, ausgelöst durch einen Beitrag über sogenannte »Eight Papers«, pornographische Parodien berühmter Comic-Figuren wie Donald Duck, Mickey Mouse sowie von Personen aus der Pop- und Alltagskultur wie Gary Crant oder Mussolini.

Die Heftchen, die auch »Tijuana Bibles« genannt werden, sind zwischen 1920 und 1960 entstanden und gelten als Vorläufer von Underground-Comics. In der ersten Ausgabe von »Steinstraße 11« sind neben einem erläuternden Beitrag von Art Spiegelman ausgewählte Beispiele der Comics auf acht Seiten abgedruckt. Spiegelman lobt in seinem Text »Amerikas Ficky-Maus-Heftchen« insbesondere den »subversiven Trick« (ders. 2004: 34) dieser Comics.

Scan_Eight_PapersScan aus Steinstraße 11 (1) 2004, 40-41

Andreas Platthaus war über die beschränkte Auslieferung verblüfft: Dass »die Heftchen ein halbes Jahrhundert nachdem der Erfolg des ›Playboy‹ ihnen den Garaus gemacht hatte, noch einmal für so riskant gehalten werden«, wunderte ihn (Platthaus 2004: 46). Die Comics »sind freizügig, aber heutzutage wohl kaum mehr schockierend« (ebd.), stellte er fest und verwies zugleich auf die redaktionelle Kommentierung und den Text von Spiegelman. Daher merkte er beruhigt an, dass trotz des Urteils »vertriebsbeschränkt« Kioske und der Bahnhofsbuchhandel das Heft wieder in ihre Auslagen übernommen hätten. Denn von der »Bundesprüfstelle, der allein das Urteil über eine Indizierung als ›jugendgefährdend‹ obliegt, war bislang nichts zu hören« (ebd.).

Mit vergleichbaren Umständen musste sich das Berliner Magazin »032c« auseinandersetzen. Für die 21. Ausgabe, veröffentlicht im Sommer 2011, fotografierte Jürgen Teller das Model Kristen McMenamy. Bereits 1996 sorgte eine Aufnahme des Models von Teller für Aufsehen. McMenamy präsentiert sich darauf selbstbewusst nackt vor der Linse Tellers, ihr Körper wird lediglich verziert durch Armband, Kette und ein mit Lippenstift gemaltes »Versace-Herz« auf der Brust. Sichtbar sind weiter das Rot der Fingernägel und etwas Lidschatten. Im Mundwinkel lässig eine Zigarette. Für Diskussion sorgte hier weniger die Ästhetik und der kompositorische Kontext als vielmehr der Körper McMenamys, der blaue Flecken und Kratzer aufwies. Weil dieser so von der makellosen Werbeästhetik abwich, wurde der Körper zum Inbegriff für das ›harte‹ Mode-Business.

Für »032c« inszenierte Teller das Model in der Casa Miller, ein Apartment in Turin, das von dem italienischen Architekten und Designer Carlo Mollino gestaltet wurde. Im Mittelpunkt stehen der Körper von Kristen McMenamy und das extravagante Apartment. Die Fotostrecke kann für ein kompromissloses Spiel mit Körper, Mode und Raum stehen. Dabei ist der Körpers als Ganzes von Bedeutung. Aufgrund weniger im Heft enthaltener Fotografien, auf denen Vagina und Anus zu sehen sind, wurde für das Heft ebenfalls die Empfehlung »vertriebsbeschränkt« ausgesprochen. Eine Indizierung erfolgte nicht, wie sich Joerg Koch auf Nachfrage erinnert.

Scan_FAS__032cScan Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (23) 2011, 28.

Erneut sprangen die Kollegen zur Seite: In der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« wurde kritisiert, dass Inszenierungsformen unerwünscht scheinen, sobald sie von einer gemäßigten Ästhetik abweichen: »Die Kriterien für Pornographie sind bezeichnend unscharf, könnte man sagen, vielleicht weil Pornographie offenbar selbst ein Kriterium ist, und zwar kein juristisches […], sondern eines der Ästhetik, ein anderes Wort für eine Drastik, die ins Auge beißt« (ripe 2011: 28).

Auch wenn es definitorische Ansätze zum Begriff ›Pornographie‹ gibt wie die von Drucilla Cornell, die Pornographie als »die deutliche Präsentation und Darstellung von Geschlechtsorganen und Geschlechtsakten mit dem Ziel, sexuelle Reaktionen hervorzurufen« (dies. 1997: 45) versteht, arbeitet das Medienrecht zugunsten der Kunstfreiheitsgarantie, die bei Teller oder bei den Comics – als Werk verstanden –, greifen würde und die den Werkbereich wie auch den Wirkbereich des künstlerischen Schaffens umfasst. Es kann jedoch eine Indizierung aus Gründen des Jugendschutzes erfolgen (vgl. Fechner 2016: 54ff).

Es scheint sich daher um ein Kommunikations- bzw. Distributionsproblem für diese Bildästhetik zu handeln. Populäre Zeitschriften und Magazine bewegen sich in einem Kommunikations- und Verbreitungssystem, die sich innerhalb gemäßigter Geschmacksvorstellungen bewegen, in denen eine Abweichung der ästhetischen Norm als Regelverletzung wahrgenommen und sanktioniert wird – auch wenn rechtlich dafür kein Grund besteht, gibt man sich im Zweifel moralisch.

Zum Vergleich einer solchen Regelverletzung sei hier ein berühmtes Beispiel im Bereich der Kunst angebracht: »Flaming Creatures« (1963) von Jack Smith wurde in New York als Pornographie eingestuft, obwohl weder sexuelle Handlungen in dem Film vollzogen worden noch erigierte männliche Geschlechtsteile gezeigt wurden. Den Grund für den Skandal benennt Jim Hoberman mit Blick auf die damalige Zeit besonders pointiert: »Mit seiner Zurschaustellung von obszön geschwungenen Schwänzen, die weder völlig erigiert noch komplett schlaff waren, machte sich Flaming Creatures auf höchst frivole Weise einer Respektlosigkeit schuldig, die offenbar noch krimineller war als das Verbrennen der amerikanischen Flagge. Er hat das männliche Geschlechtsorgan entweiht – und damit auch das grundlegende Symbol aller Machtstrukturen, den Senat der Vereinigten Staaten inbegriffen« (Hoberman 2006: 93).

Der visuelle Reiz von McMenamy schien größer gewesen zu sein als der Reiz der weiblichen Körperinszenierungen anderer Modezeitschriften. Oder war es der ästhetische Bruch mit dem Kompatiblen, das Kribbeln des Schocks, die kleine Abweichung? Zudem scheint die Angst vor einer identifikatorischen Lektüre des Drastischen größer, als die vor einer distanzlosen, masochistischen Lesart der »Cosmopolitan« oder »Men’s Health«.

 

Literatur

Cornell, Drucilla (1997): Die Versuchung der Pornographie, Frankfurt, 45.
Fechner, Frank (2016): Medienrecht. 17. Auflage, Tübingen, 54ff.
Harms, Ingeborg (2005): Kopie der Kopie der Kopie, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (213), 44.
Hoberman, Jim (2006): Der Fall Flaming Creatures, in: Diedrich Diederichsen u.a. (Hg.), GoldenYears. Materialien und Positionen zu queerer Subkultur und Avantgarde zwischen 1959 und 1974, Graz, 81–93, hier 93.
Minkmar, Nils (2004): Die lieben Kollegen, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (40), 33.
Platthaus, Andreas (2004): Comic-Strip im engeren Sinne, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (250), 46.
ripe (2011): Pornographie ist, wenn es weh tut, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (23), 28.
Spiegelman, Art (2004), Amerikas Ficky-Maus-Heftchen, in: Steinstraße 11 (1), 34–36, hier 34.