Jugendkultur und sozialräumliche Polarisierung in Paris zu Beginn der 1990er Jahre
Les Inconnus »Auteuil, Neuilly, Passy« (1991)
Auteuil, Neuilly und Passy sind bekannte reiche Stadtviertel im Westen von Paris. In der Öffentlichkeit werden sie gern als Les Beaux Quartiers – die schönen Stadtviertel – bezeichnet. Ihr Ruf besagt, dass hier die Reichen und Mächtigen wohnen oder zumindest diejenigen, die sich der Oberschicht zugehörig fühlen.
In dem 1991 veröffentlichten Musikvideo parodieren die Comedians Les Inconnus[1] reiche Jugendliche in diesen großbürgerlichen Stadtteilen. Ihre dargestellten Figuren repräsentieren das mediale Stereotyp des NAPies (Neuilly, Auteuil, Passy), das mit den Yuppies in Großbritannien und den Poppern in Westdeutschland zu vergleichen ist. Les Inconnus wählten das Genre Rap als musikalische Form und produzierten dadurch ein vielschichtiges Musikstück. Anfang der 1990er Jahre war es eine der wenigen popkulturellen Auseinandersetzungen, die Ungleichheiten zwischen Jugendlichen aus armen und reichen Stadtteilen ansprach und Medienbilder sozialräumlicher Polarisierung zwar auf komisch-satirische, aber auf den zweiten Blick zudem kritische Weise hinterfragte.
Die Stadt Paris war zu Beginn der 1990er Jahre sozialtopografisch in reiche und wohlhabende Gegenden vorwiegend im Westen und arme Stadtteile im Osten und in den nördlichen Banlieues aufgespalten. Soziologische und historische Studien stellen vor allem für das letzte Drittel des 20. Jahrhunderts fest, dass sich soziale Ungleichheiten in der Großstadt wieder verschärften und sich kontrastreicher zeigten.
Einerseits entstand neuer Luxus in den reichen Stadtteilen, im Besonderen in Auteuil, Neuilly und Passy,[2] der sich auch in der Jugendkultur der NAPies im urbanen Raum ausdrückte. Andererseits entwickelte sich eine neue Art von Armut in segregierten Stadteilen mit einem großen ImmigrantInnenanteil und/oder hoher Arbeitslosigkeit, die mehr und mehr als Problemviertel des postkolonialen Frankreichs stigmatisiert wurden.
Gerade zu Beginn der 1990er Jahre fand der US-amerikanische Begriff des Ghettos Eingang in die politischen und öffentlichen Debatten, um die sozialen Verhältnisse in den französischen Armenvierteln zu beschreiben, die aber den meisten Franzosen lediglich durch gelegentliche Jugendunruhen und Fernsehbilder bekannt waren.[3] Die Vorstellungen von den Problemvierteln und den dort lebenden Jugendlichen waren eng mit der aus den USA adaptierten Hip-Hop-Kultur verknüpft, die sich nicht nur in der Musik, sondern auch im Graffiti, im Modestil und in der Sprachweise der Jugendlichen ausdrückte.[4]
Die Hip-Hop-Kultur bekam nach Aussagen des Soziologen Karim Hammou seit 1990 eine wachsende mediale Aufmerksamkeit und war dadurch in der Öffentlichkeit visuell präsenter. Dabei veränderte sich ihre Definition bzw. Deutung. Ihre Bewertung wurde immer mehr mit den zeitgleich stattfindenden Unruhen in den Banlieues verbunden und geriet damit zum Sinnbild sozialer und öffentlicher Probleme.[5] Der Ethnologe Daniel Tödt kommt in seiner Studie zu Rap Musik in Marseille in den 1990er Jahren auch zu dem Ergebnis, dass die massenmediale Verwendung des Ghetto-Begriffs für die Banlieues zeitgleich wie die Präsenz des Rap im Radio und im Fernsehen zunahm.[6]
In jener Zeit verwendeten Les Inconnus für ihr Musikvideo Elemente der Hip-Hop-Kultur als neuen ästhetischen Ausdruck, Rap als musikalischen Stil und den Begriff Ghetto als Beschreibung des Stadtteils der reichen Jugendlichen. Slapstickartig versuchen sich die drei Jugendlichen im Sprühen, Tanzen und Rappen, was zugleich mit ihrer bürgerlichen Identität kollidiert – repräsentiert durch die eingespielte klassische Musik, ihren Kleidungsstil und gestelzten Höflichkeitsfloskeln.
Die Beaux Quartiers, aus denen die drei Jugendlichen im Musikvideo vermeintlich stammen, waren und sind Projektionsflächen für urbanen Reichtum und gesellschaftlichen Aufstieg. Jedoch singen sie paradoxerweise »Auteuil, Neuilly, Passy : c´est pas du gâteau ; Auteuil, Neuilly, Passy : tel est notre ghetto« und klagen über ihr vorbestimmtes und segregiertes Leben in den Beaux Quartiers. Sie bezeichnen ihren Stadtteil als Ghetto und betonen, wie schwierig es für sie sei, den herrschenden gesellschaftlichen Konventionen zu entrinnen.
Somit spielen sie mit dem urbanen Ort des Ghettos – verstärkt dadurch, dass sie sich des Genres Rap als dessen musikalische Repräsentation bedienen. Indem sie einen imaginären Dialog mit Jugendlichen aus der Hip-Hop-Kultur der Banlieues führen und deren Sprache und Musikstil kopieren, erzählt das Musikvideo von zwei imaginierten Orten – dem Ghetto der Reichen und jenem der Armen.
In ihrem Musikvideo hinterfragen Les Inconnus die Vorstellungen und Images von Ghettos und Rap-Musik, Graffiti und Breakdance als Ästhetik der Banlieues. Zwar widerspricht das in »Auteuil, Neuilly, Passy« dargestellte Ghetto den gängigen Definitionen als heruntergekommenem Ort, geprägt von Gewalt, Drogen, Arbeitslosigkeit und Armut. Doch schwingen diese zugleich als Kontrastfolie und Reibungspunkt mit.
Ihr Ghetto besteht aus einem Wohngebiet ohne kleine arabische Supermärkte, die in den Medienbildern häufig als Treffpunkte von Jugendlichen in den Vorstädten dienen. Stattdessen treffen sich die bürgerlichen Jugendlichen in Luxusboutiquen. Sie wohnen in Stadtvillen und großbürgerliche Wohnungen, die im teuersten Arrondissement der Stadt liegen, im Gegensatz zu den Hochhaussiedlungen und beengten Wohnverhältnissen. Des Weiteren sprechen sie über die ungleichen Lebensläufe und Möglichkeitsräume, die sich den NAPies aufgrund ihrer Herkunft und ihres Wohnorts bieten. Die Jugendlichen der Beaux Quartiers gehen auf bestimmte private Schulen und setzen ihre Ausbildung an den Pariser Eliteuniversitäten fort.[7] Ihr Reichtum beruht auf der Familie und deren Unternehmen – dies garantiert ihr Standing in der gesellschaftlichen Schichtung.
Auf spielerische Art und Weise thematisieren die Comedians verschiedene Dimensionen sozialer Ungleichheit: Wohnort, Lebensstil und Konsummöglichkeiten, soziale Beziehungen innerhalb ihrer Schicht und Bildungschancen. Es sind nicht nur „feine“, sondern sehr kontrastreiche Unterschiede in Bezug auf die soziale Herkunft und die vorhandenen ökonomischen und kulturellen Kapitalsorten.[8]
Am Ende des Musikstücks findet sich eine konkrete Bezugnahme auf einen Künstler, der für die Perspektive benachteiligter Jugendlicher steht und die sozialen Missstände in den Banlieues anprangerte. In der letzten Strophe singen Les Inconnus mehrmals »Nous sommes issus d´une famille qui n´a jamais souffert / nous sommes issus d´une famille qu´on ne peut plus souffrir« und entfremden damit den Refrain des Musikstücks »peuple du monde« von TonTon David, das auf einer der ersten bekannten Rap-Kompilation Rapatitude 1990 veröffentlicht wurde.
Dieser sang »Issus d´un peuple qui a beaucoup souffert / nous sommes issus d´un peuple qui ne veut plus souffrir« und kritisierte die Lebensumstände der schwarzen Bevölkerung und ihre alltägliche Diskriminierung. Les Inconnus münzen den Refrain auf die reichen Jugendlichen aus den Beaux Quartiers um. An der Stelle des unterdrückten, schwarzen Volkes, das für eine bessere Zukunft kämpft, dichten sie, dass sie aus Familien kommen, die noch nie gelitten haben und auch nicht mehr leiden können. Hiermit verdeutlichen sie die intersektionalen Ursachen ungleicher Verteilung und Möglichkeitsräume der unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen im postkolonialen Frankreich.
Das Musikvideo der Les Inconnus ist ein ungewöhnliches Fundstück einer massenmedialen Auseinandersetzung mit der kontrastreichen sozialen Ungleichheit zwischen den Beaux Quartiers und den armen, marginalisierten Vierteln im Osten und Nord-Osten von Paris. In dieser Relation ist das Musikvideo auf der einen Seite eine kritische Hinterfragung der sozialen Unterschiede zwischen den reichen und den armen Stadtteilen und der unterschiedlichen Möglichkeitsräume der Jugendlichen. Auf der anderen Seite ist es zugleich ein Spiel mit den stereotypen Vorstellungen und sozialen Verortungen in Paris.
Interaktion und die gegenseitige Beeinflussung von Medienbildern und sozialer Realität stehen im Zentrum der vordergründig komischen Parodie »Auteuil, Neuilly, Passy«. Die Wahrnehmung, welche Schicht in welchem Stadtteil wohnt, hängt sehr von dem Ruf und den gesellschaftlichen Vorstellungen einer imaginierten Karte der Stadt ab. Die Comedians sprechen die Repräsentationen der sozialen Topographie der Stadt an und verdeutlichten durch ihre Darstellungsform den konstruierten Charakter der öffentlich verhandelten Vorstellungen von „guten“ und „schlechten“ Adressen,[9] die das soziale Ungleichheitsgeschehen stark beeinflussen.[10]
In den französischen Single-Charts hatte das Musikstück einen enormen Erfolg,[11] doch es bleibt zweifelhaft, ob die Lesart als Sozialkritik der Ausschlag dafür war. Vielleicht fand die breite Öffentlichkeit das Musikstück einfach nur amüsant oder las es eher als Parodie auf die Ghettokids der Banlieues.[12]
Anmerkungen
[1] Das Trio Les Inconnus setzte sich aus den Comedians Didier Bourdon, Bernard Campan und Pascal Légitimus zusammen.
[2] Vgl. exemplarisch: Michel Pinçon/Monique Pinçon-Charlot, Dans les Beaux Quartiers, Paris 1989; Dies., Les ghettos du gotha: au cœur de la grande bourgeoisie, Paris 2010. Aus historischer Perspektive z. B. Anne Kurr, Soziale Segregation am oberen Rand der Gesellschaft. Reiche Stadtteile in Paris und Hamburg in den 1960er bis 1980er Jahren, erscheint 2017.
[3] Vgl. exemplarisch Michelle Zancarini-Fournel/Christian Delacroix, La France du temps présent, 1945-2005, Paris 2010/2014, S. 492. Kurzer Überblick über die Entwicklung sozialer Brennpunkte vorwiegend in Bezug auf Paris: Kap. IV. Villes et banlieues en crise: ethnicisation, genre et identités, S. 485-493.
Zur Diskussion, ob der Begriff Ghetto für die Beschreibung und Analyse der französischen Vorstädte geeignet ist, vgl. Michel Kokoreff, Ghettos et marginalité urbaine. Lectures croisées de Didier Lapeyronnie et Loïc Wacquant, in: Revue française de sociologie (2009), S. 553-572.
[4] Der Soziologe Karim Hammou bezieht sich auf den zeitgenössischen Journalisten Ariel Wizman, der die Hip-Hop Kultur als letzte populäre Kultur bezeichnet. Vgl. Karim Hammou, Une histoire du Rap en France, Paris 2014, S. 71.
[5] Vgl. ebd., S. 70, 71, 74.
[6] Daniel Tödt, Vom Planeten Mars: Rap in Marseille und das Imaginäre der Stadt, Münster 2011, S. 103 f.
[7] Zur Ungleichheit im französischen Bildungssystem in Bezug auf Paris vgl. Marco Oberti, L´école dans la ville: ségrégation, mixité, carte scolaire, Paris 2007.
[8] Zum Begriff des Kapitals und der feinen Unterschiede, vgl. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede, Frankfurt a. M. 2010 (1. Aufl. 1979).
[9] In Bezug auf die Banlieues als „falsche“ Adresse vgl. u.a. Friedrich Lenger, Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit 1850, München 2013, S. 480 f.
[10] Angelehnt an die theoretischen Überlegungen von Eva Barlösius, Kämpfe um soziale Ungleichheit, Machttheoretische Perspektive, Wiesbaden 2004, S. 10. Weiterführend: Dies., Die Macht der Repräsentation: Common sense über soziale Ungleichheiten, Wiesbaden 2005.
[11] »Auteuil, Neuilly, Passy« wurde auf dem Album Bouleversifiant ! 1991 veröffentlicht und hielt sich 21 Wochen in den Top Ten der Single Charts.
[12] Vgl. den Journalisten Ariel Wizman retrospektiv in: le Monde, 1991-1995: des années en forme de »tournant pris sans volant«, 13.08.2016.
Anne Kurr ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Historischen Seminar der Universität Hamburg.