Parodisten des Konsums
In seiner Schrift über Das Imaginäre befasst sich Jean-Paul Sartre auf einigen Seiten mit einem Varieté-Auftritt der Schauspielerin Claire Franconnay.[1] Ihre Bühnenparodie des Chansonniers Maurice Chevalier brächte Zuschauerinnen und Zuschauer in eine zweischneidige Lage. Franconnay ähnele Chevalier nämlich einerseits nur wenig. Sie sei »klein, rundlich, brunette«, als Frau imitiere sie einen Mann.[2] So gesehen könne ihre Darbietung nie als »perfektes Analogon« zu Chevalier wahrgenommen werden.[3]
Andererseits aber zeige Franconnay auf der Bühne natürlich doch auch ausgesuchte Elemente, die direkt an Chevalier erinnerten: »der schiefe Sitz des Strohhuts auf dem Ohr«, »der Winkel, den das Kinn mit dem Hals bildet«, die vorgeschobene Unterlippe ließen das Publikum ebenso vergessen, dass es die Schauspielerin Claire Franconnay vor sich hat.[4]
Sartre spricht deshalb von ihrem Auftritt als einer »schwachen Form, die konstant auf zwei verschiedenen Ebenen interpretiert werden« könne.[5] Denn es wird nicht zur Gewissheit, ob man den Körper auf der Bühne eher mit Claire Franconnay oder doch mit jenem des Chansonniers, Maurice Chevalier, in Verbindung bringen könne.
Wer solchen Zweideutigkeiten auch abseits von Kabarettbühnen nachgehen möchte, dem wird man meist empfehlen, sich vom Umgang mit käuflichen Gegenständen fernzuhalten. Es gehört zu den geläufigen konsumkritischen Topoi, sie zu den besonders einfältigen Tätigkeiten zu zählen, die kaum doppelbödige Inszenierungen erlauben. Man hält sie meist nur für duldsame Ausführungen der Regieanweisungen, die die Werbeindustrie vorgezeichnet hat.
Mindestens seit der Umgang mit käuflichen Gegenständen über bildbasierte Social Media ein größeres Publikum von Augenzeugen hinzugewonnen hat, ist jedoch kaum zu übersehen, dass auch Konsumtätigkeiten häufig als »schwache Formen«, also parodistisch in Szene gesetzt werden.
Als Parodisten des Konsums agiert etwa eine größere Gruppe von Nutzern, die auf der Bildplattform Flickr unter dem zunächst rätselhaft erscheinenden Stichwort 241543903 erscheinen. Sie orientieren sich an den instruktiven Sätzen, die der Künstler David Horvitz im April 2009 auf seinem Tumblr-Blog veröffentlicht hat:
»Take a photograph of your head inside a freezer. Upload this photo to the internet (like Flickr). Tag the file with: 241543903. The idea is that if you search for this cryptic tag, all the photos of heads in freezers will appear. I just did one.«[6]
Das Blog von Horvitz und die Publikation Everything that can happen in a day führen diese und andere Instruktionen zusammen. Beide sind ein Versuch, das »instruction piece«, wie es Yoko Ono und George Brecht in den 1960iger Jahren entwickelten und Gegenwartskünstler weiterführen, auf die Bildschirmoberflächen von Flickr und Tumblr zu übertragen. So ist schon das Buch Grapefruit. A Book of Instructions and Drawings von Yoko Ono, das in seiner zweiten Auflage eine größere Öffentlichkeit erreicht hat, eine ganz ähnliche Sammlung von Instruktionen.[7] Und auch hat Yoko Ono hat sich schon den Möglichkeiten des Internets zugewandt. Im Rahmen ihres Projekts Acorn von 1996 veröffentlichte sie Instruktionen auf einer Website.[8]
Wesentlich ist für diese und andere Formen des »instruction piece« die Absicht, weniger relevant erscheinen zu lassen, wie die materielle Manifestation eines künstlerischen Werks ausfällt. Wenn nämlich Herstellungsinstruktionen zum Kern eines künstlerischen Werks werden, so erscheint jeweils ungewiss, ob der jeweiligen Instruktion, dem konkreten Herstellungsprozess, den entstandenen Artefakten oder den jeweiligen Dokumentationen Werkstatus zugeschrieben werden kann.
Zugleich weichen Künstler wie Horvitz und Ono, die Instruktionen veröffentlichen, hergebrachte Autorschaftsmodelle auf. Denn sie reservieren für sich nicht mehr das Privileg, künstlerische Werke immer nur eigenhändig herstellen zu wollen.
Im Unterschied zu ihren Vorläufern hat die Bildinstruktion von Horvitz jedoch vor allem zur Bildung einer größeren Bildgemeinschaft geführt. Keine der 1200 Fotografien, die seit 2009 auf Flickr eingestellt wurden, kennt genaugenommen nur einen einzigen Autor. Ihre Urheberschaft verteilt sich zwischen David Horvitz und der großen Zahl von Nutzern, die zu der größeren Bildgemeinschaft, wie sie sich auf Flickr gebildet hat, etwas beigesteuert haben.
Die Fotografien erproben dabei nach der Horvitz-Instruktion jeweils auf unterschiedliche Weise »schwache Formen«. Ziel und Gegenstand ihrer parodistischen Volten ist aber keine Figur der Unterhaltungskunst, sondern eine Schlüsselgeste der Konsumkultur, nämlich der Blick in den geöffneten und erleuchteten Kühlschrank, dessen wechselvolle Geschichte Julia Kleinbeck hier schon näher beschrieben hat.
Statt auf der Kabarettbühne wählen die Parodisten des Konsums die Küchen ihrer Wohnungen zum Schauplatz ihrer Aufführungen. Sie bringen die gleiche Szenerie in Erinnerung, wie man es im Umgang mit Kühlschränken sonst auch gewohnt ist. Ihre parodistischen Überzeichnungen gestalten sie in ihren Fotografien dagegen vor allem durch andere Blickverhältnisse, Gegenstandskonstellationen und Körperhaltungen.
Der Blick in den geöffneten Kühlschrank ist zumeist eine Geste konsumsouveräner Verfügungsgewalt. Er ist Ausdruck der Selbstversicherung, dass die gekühlten Gegenstände sich den eigenen Wünschen nicht entgegenstellen. Man ist sich sicher, dass sie niemals eine »stille Revolution«, einen »Aufstand der Dinge« (Erhart Kästner) proben werden.[9]
Der Kühlschrank ist wesentliches Attribut eines Ideals, das für die westlichen Konsumgesellschaften besondere Relevanz gewonnen hat: des »Konsumsouveräns«, der sich des treuen Dienstes seiner Gegenstände immer gewiss ist.[10]
Es ist diese Geste des souveränen Verfügungsblicks, die die Nachfolger der Horvitz-Instruktionen unter parodistischen Druck bringen. Auch sie gehen dem Role Model des Konsumsouveräns weitgehend unaufmerksam nach, aber fügen ihren Darstellungen zugleich Abweichungen hinzu.
Zu diesem Zweck kehren viele der Bildentwürfe die eingeübte Blickperspektive des Konsumsouveräns einfach nur um. Sie folgen dabei einem weit verbreiteten filmischen Erzählmittel. Die Fotografien wie die Filmausschnitte simulieren die Fiktion, der Kühlschrank könnte selbst Augen besitzen, die ihn seinen Besitzern ins Gesicht blicken lassen. So werden plötzlich letztere als Anerkennungsbedürftige vorgeführt und nicht die im Kühlschrank gelagerten Gegenstände.
Einige dieser Nutzer lassen den Besitzer zugleich noch auf leere Kühlflächen schauen, um zusätzlich zu unterstreichen, dass Konsumkönige ihres Machtbereichs keineswegs sicher sein können. Genau die Auswahl von Gegenständen, an denen sich ihre Verfügungsgewalt eigentlich unmittelbar zeigen müsste, fehlt in ihren Fotografien.
Besonders die Aufnahmen von Cybergabi und jasonaudio_co_uk heben diese Situation als einen Mangel hervor. Sie betonen, dass der Konsumsouverän sich seiner Macht über die Gegenstände nicht sicher sein kann und ihm jederzeit Momente des Machtverlusts drohen.
Anders Curt Taylor und sommerpfütze: Sie führen den Mangel an vorgehaltenen Lebensmitteln als Szenario vor, indem der Konsumsouverän insofern aus seinem Register zu fallen droht, als er sonst selbstverständlich Pflichten nicht mehr zu folgen bereit ist. Im Fall von Curt Taylor sind dies die eingetretenen Pfade der gesunden Ernährung, bei sommerpfütze die ästhetischen Regelwerke der Amateurfotografie. Er gibt in seiner Bildunterschrift entschuldigend zu verstehen, es wäre nur darum gegangen, auch »mal öfter blöd« zu sein.
Wie sich seinem Benutzeraccount direkt entnehmen lässt, geht er den amateurfotografischen Finessen von Beleuchtung, Bildnachbearbeitung, farblicher Verfremdung und Motivwahl sonst gerne und bereitwillig nach, wie sie eines dem pittoresk-piktorialistischen Bild verpflichteten Amateurfotografen würdig sind. Der Konsumsouverän erscheint so nur mehr als Motiv zweiter Klasse unter vermeintlich wertvolleren Sehenswürdigkeiten, das anders als Porträts, Straßenszenen, Landschafts- und Tiermotive zur entlastenden Blödelei freigegeben ist.
Wie der leere Kühlschrank bei Curt Taylor allzu viele Schneisen in strenge Diätrichtlinien schlägt, so scheint für sommerpfütze die Rolle des Konsumsouveräns plötzlich damit verbunden zu sein, den ästhetischen Anforderungen der Amateurfotografie zu geringerem Grad nachzukommen.
Bei vielen Fotografien, hier exemplarisch die Aufnahmen von sakebalboa, It is come oder alison dearest, vollzieht sich die Entkräftung feststehender Rollenkonstrukte demgegenüber im Rahmen der üblichen Blickperspektiven. Gegenüber der sonst täglich eingeübten Gewohnheit, den Griff der Kühlschranktür zu betätigen, sie zu öffnen, um den Blick über den eigenen Machtbereich gleiten zu lassen, entwirft sie auf den ersten Blick kein unbedingt bedeutend anders ausfallendes Szenario darüber, was man sonst noch alles mit einem Kühlschrank tun könnte.
Die Abweichung, die es in diesen Fällen schwierig macht, in den Fotografien nur bestätigende Dokumente des gängigen Role Models zu sehen, fällt nur gering aus. Sie besteht schließlich nur darin, den eigenen Kopf ein paar Zentimeter weiter ins Innere des Kühlschranks zu bewegen, als es der üblichen Gewohnheit entspricht.
Doch genügt dies schon, um fraglich werden zu lassen, ob man dem Blick in den Kühlschrank noch zutrauen kann, seinem eigentlichen Zweck dienen zu können, also etwa dem Entschluss, in einer Flasche Milch oder einer Packung Käse Beweise der eigenen Wahlmacht zu sehen oder nicht. Die Gegenstände geraten schließlich unter den Bedingungen der leicht veränderten Körperhaltung schlichtweg aus der Blickachse.
Wenn noch ausgefallenere Mimiken und Körperhaltungen den selbstgewissen Blick auf den eigenen Kühlbestand unerheblich erscheinen lassen wie bei Jeff und Robin Czn oder ein Blumenstrauß dem Ganzen noch Dekorationswürdigkeit abgewinnt (Via Bailey), ist klar, dass der Rolle des Konsumsouveräns hier nicht blindaffirmativ begegnet wird.
Weitere Relativierungseffekte lassen sich erzeugen, wenn man das Spektrum der regulären, fotografischen Gestaltungsmittel zu den Mitteln digitaler Collage überschreitet, falls man es nicht Cynthia/Beth Zulla gleich tut und seinem Hund Konsumsouveränität zutraut:
Die Instruktionen, seinen Kopf im Kühlschrank zu fotografieren, lassen sich nämlich auch buchstäblicher nehmen, als Horvitz es wohl für möglich hielt. So wird nicht nur der Kopf des Konsumsouveräns gleich selbst zum kühlbedürftigen Lebensmittel (Bruce Fleming). Es ist auch nahegelegt, dass Konsumsouveräne nie mehr als über sich selbst Macht gewinnen und umso weniger über die Gegenstände, die sie käuflich erworben haben.
Richard Sennett hat in seinem Buch über die Tyrannei der Intimität die Sorge zu bekräftigen versucht, westliche Gesellschaften erlaubte ihren Mitglieder nicht mehr, größere Distanz zu ihren sozialen Rollen einzunehmen, so wie ihrer »Kunst beraubte Schauspieler«.[11] Sie kann mindestens für die soziale Rolle des Konsumsouveräns weitgehend zu den Akten gelegt werden.
Keineswegs gehen Konsumenten, wie Sennett vermutet, ungebrochen dem »Glaubhaftigkeitscode« (code of belief) nach, ihre eigene Person könnte sich in der Welt der Waren und den mit ihnen assoziierten Bedeutungen direkt und unmittelbar niederschlagen.[12] Schon die zahlreichen Fotografien, die den instruktiven Anweisungen von David Horvitz folgen, lassen vermuten, dass Konsumgesellschaften auch Kulturtechniken der »schwachen Form« unterhalten. Selbst für zentrale ihrer Role Models kultiviert sie Gesten der parodistischen Entlastung.
Anmerkungen
[1] Jean-Paul Sartre, Gesammelte Werke: Philosophische Schriften. Das Imaginäre: phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft, 1994, S. 49–55.
[2] Ebd., 51.
[3] Ebd., 53.
[4] Ebd., 51–53.
[5] Ebd., 51.
[6] David Horvitz, Everything That Can Happen In A Day, 2010.
[7] Yoko Ono und John Lennon, Grapefruit: A Book of Instructions and Drawings, 1970.
[8] Yoko Ono, Acorn, 2013.
[9] Erhart Kästner, Aufstand der Dinge – Byzantinische Aufzeichnungen, 2000.
[10] Der Wirtschaftswissenschaftler William H. Hutt hat den Begriff der »consumer’s souvereignty« Mitte der 1930iger Jahre als wirtschaftswissenschaftliches Paradigma eingeführt: William Harold Hutt und Warren J. Samuels, Economists and the Public, 1990.
[11] Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens: Die Tyrannei der Intimität, 2004, S. 394–97.
[12] Ebd., S. 190.