Gründe für einen linken Populismus. Rezension zu Oliver Nachtwey, »Die Abstiegsgesellschaft«
von Martin Seeliger
18.7.2016

Linke Imagination

Wenn das Bildungssystem immer mehr Abiturienten und Hochschulabschlüsse produziert, wenn Forschung und Entwicklung immer innovativer, die Produktion immer größer, die Arbeitsorganisation im Dienstleistungssektor immer effizienter werden und sich damit, wie Adam Smith es einst formulierte, der Reichtum der Nationen von Jahr zu Jahr vermehrt, wieso – so fragt Oliver Nachtwey in seinem neuen Buch – steigt dann eigentlich die Ungleichheit unter den Menschen weiter an?

Diese Frage beantwortet der Autor mit Blick auf die Bundesrepublik Deutschland nicht nur empirisch umfangreich und mit politischem Scharfsinn, sondern auch mit Blick auf einige theoretische Probleme an der Schnittstelle verschiedener sozialwissenschaftlicher Subdisziplinen. Der praktische Ausgangspunkt Nachtweys liegt hierbei in der Beobachtung, dass Probleme sozialer Ungleichheit und Deprivation gegenwärtig wieder auftreten, die durch die Expansion des Wohlfahrtsstaats und unter Bedingungen des Klassenkompromisses nach dem Zweiten Weltkrieg – zumindest in den westlichen Industrienationen – weithin als überwunden galten. Als die „soziale Moderne“ mit der Ölkrise zu Beginn der 1970er Jahre zu Ende geht, wandelt sich, so die Zeitdiagnose, eine „Gesellschaft des Aufstiegs und der sozialen Integration“ in eine „Gesellschaft des sozialen Abstiegs, der Prekarität und Polarisierung.“ (7f).

In Auseinandersetzung mit Ulrich Becks Arbeiten zur Individualisierung (vgl. Beck 1986), entwickelt der Autor seine Darstellung der politischen Implikationen dieser Entwicklung. Während Becks These einer (vor allem durch Bildungsexpansion und Beteiligung der Arbeiter am gesellschaftlichen Wohlstand) bedingten Erosion der Inklusionskraft sozialer Klassen zugunsten einer Diversifizierung von Lebensstilen auch die Auflösung des Klassenkonfliktes als Motor gesellschaftlicher Entwicklung impliziert, erkennt Nachtwey entsprechende Auseinandersetzungen als eindeutige Effekte einer „regressiven Modernisierung“.

Im Zuge fortschreitender Globalisierung und Finanzialisierung erodierten die Machtfundamente der nationalen Arbeiterschaften westlicher Industrieländer als Resultat zunehmender Standortkonkurrenz (Lohndruck und Steuerwettbewerb), wie auch durch einen allgemeinen kulturellen Wandel (hier hatte Beck schon Recht!!). Wenn unter Bedingungen sinkender Erträge, so Nachtwey anschließend an Marx, die Kapitalakkumulation verlangsamt wird, beeinflusst dies auch den anhaltenden Verteilungskonflikt zwischen Kapital und Arbeit im sog. Postwachstumskapitalismus.

Dieser Verteilungskonflikt manifestiert sich im Ergebnis in einer Flexibilisierung des Arbeitsmarktes sowie einer Rücknahme wohlfahrtsstaatlicher Leistungen. Um unter Bedingungen der Globalisierung Wettbewerbsfähigkeit zu gewährleisten, so lautet zumindest die neoliberale Legitimationserzählung, werden prekäre Beschäftigungsverhältnisse als „relevanter Teil des Arbeitsmarkts“ (13) institutionalisiert. „[N]eue Unterschichtungen“ (162) produziert in Deutschland (und im Zuge der Austeritätspolitik der Euro-Zone mittelbar auch darüber hinaus) die Agenda-Politik der Bundesregierung.

Die insgesamt fortschreitende Prekarisierung der Erwerbstätigkeit vor Augen, nimmt für die Mittelschichten nicht unbedingt die objektive, aber zumindest die Sorge vor dem sozialen Abstieg zu. Dass die Berücksichtigung der subjektiven Ebene institutionellen Wandels insgesamt eine Stärke der Ausführungen Nachtweys darstellt, zeigt sich auch bei seiner Analyse der individuellen Wirksamkeit von Ideologien: „Der moderne Kapitalismus funktioniert nicht ohne die Mitarbeit, nicht ohne die freiwillige Teilhabe der Individuen“ (78). Durch die Kultivierung eines Ideals von Eigenverantwortung plausibilisiert die Kultur die materiellen Zumutungen der Abstiegsgesellschaft.

Der meritokratische Fetisch der Chancengleichheit ziehe hierbei, so Nachtwey, einen paradoxen Effekt nach sich: Anstelle egalitärer Verteilungsergebnisse bedingt dieser in erster Linie eine Intensivierung des Wettbewerbs am Arbeitsmarkt. Den zuvorderst auch von Boltanski und Chiapello beschriebenen Wandel der Arbeitswelt beschreibt der Autor hierbei aus Arbeitnehmersicht als „faustischen Pakt“ (84): Ein ‚mehr‘ an Eigenständigkeit brachte hier nicht nur einen Verlust an Sicherheit, sondern auch höhere Leistungsanforderungen mit sich.

Auf dieser ideologischen Ebene liegt der Krisendiagnose Nachtweys die Abwertung des Leistungsprinzips der meritokratischen Gesellschaft zugrunde. Während die Idee leistungsgerechter Entlohnung, bzw. eines vollumfänglichen Statuswettbewerbs zwar schon immer einen Mythos darstellte (so würde sie ja z.B. einen Erbschaftssteuersatz von 100% erfordern), diagnostiziert der Autor zudem eine Veränderung: „[S]tattdessen entstand eine Kultur des Erfolgs, in der nicht der Aufwand, sondern das Ergebnis zählt“ (113). Die Deutungsmacht darüber, was Leistung sei, liege hierbei bei den „ökonomischen und politischen Eliten“, welche sich selbst deutungsmächtig zu Leistungsträgern stilisierten. Hierhin erkennt Nachtwey ein Gerechtigkeitsproblem für das Gleichheitspostulat des demokratischen Gemeinwesens.

Die wohlfahrtsstaatliche Schleifung und der arbeitsmarktpolitisch induzierten Lohndruck bei einer immer weiter abnehmenden Repräsentation schwacher Interessen im parlamentarischen Prozess stellt für Nachtweys (unter konfliktsoziologischen Gesichtspunkten marxistisch inspirierte) Darstellung ein klassenpolitisches Problem dar, geht es ihm hier doch um den „Zusammenhang von ökonomischer Position und politischer Macht“ (93). Als Resultat eines (ideologischen) Klassenkampfes von oben erscheint ihm vor diesem Hintergrund ein „grundlegender Strukturwandel der Politik“ vom „genitivus objectivus zum genitivus subjectivus in der Formulierung Regierung der Märkte“ (94).

Im Schlusskapitel „Das Aufbegehren“ wagt Nachtwey auf Grundlage seiner Analyse jüngerer Proteste gegen die von ihm aufgearbeiteten Entwicklungen einen Ausblick auf etwaige politische Folgen. Die Logik hierhinter ist relativ einfach: „Prekarität und Abstiege führen […] zu Akten des Aufbegehrens“ (179). Während er entsprechende Mobilisierung einerseits in der Gründung der Linkspartei oder den Protesten im Rahmen von Occupy erkennt, ist er sich gleichzeitig der Gefahr eines autoritären Regress bewusst, die im politischen Streben national orientierter Gegenakteure wie Pegida oder der AfD veranlagt ist.

Dankenswerterweise räsonniert der Soziologe Nachtwey hier sensibler als so mancher politischer Aktivist, wenn er die Aussage, bei Pegida handele es sich um „ganz normale Bürger, die sich Sorgen machen“ (217f) als „nicht ganz falsch“ (218) bezeichnet. Denn wo Vertreter von Occupy, die Linkspartei und vermutlich auch die ein oder andere Antifa-Gruppe eine Auseinandersetzung zwischen Arm und Reich (bzw. Kapital und Arbeit) erkennt, sehen die Pegida-Deutschen zwar einen Konflikt zwischen In- und Ausländern. Die Ängste vor der praktischen Konsequenz der Verwerfungen, die der moderne Kapitalismus potenziell für jeden bereithält, erscheint aber gleichermaßen als Triebkraft der politischen Mobilisierung. (Und wer annimmt, für autoritäre Mentalitäten böte sich bei der Antifa kein Raum, irrt selbstverständlich obendrein.)

Allgemein, so der zumindest prinzipiell optimistische Schluss, trügen die Proteste allerdings das Potenzial in sich, „in Zukunft zu erneuerten Klassenbewegungen zu werden“ (226). Einen gemeinsamen Nenner erkennt Nachtwey hier in einer „diffusen Kontrastierung einer Elite und der Bevölkerungsmehrheit“ (260). Prekarität, so die wesentliche Neuerung, werde von den Beteiligten nicht länger als (womöglich selbstverschuldetes) Einzelschicksal, sondern zumindest als kollektive Erfahrung wahrgenommen. In Ermangelung eines umfassenden Narratives sei ein entsprechendes Unbehagen noch in kein „Telos“ (228) eines Konfliktes mit klaren Konturen überführt worden. Die Entwicklung eines entsprechenden Deutungsrahmens benennt der Autor perspektivisch als Aufgabe „der linken Imagination“ (232).

Angesichts ihrer politischen wie theoretischen Implikationen, stellte sich mir beim Lesen die Frage, um was für eine Art Text es sich bei der „Abstiegsgesellschaft“ eigentlich handelt. Eine zeitdiagnostische Streitschrift? Oder vielleicht eine Einführung in die politische Soziologie und Sozialstrukturanalyse? Für ersteres würde zumindest die eindeutige politische Tendenz, für den zweiten Punkt hingegen die leicht nachvollziehbar Darstellung und die zugängliche Ausdruckweise sprechen.

Bei genauerem Hinsehen stellt man darüber hinaus fest, dass der Text – dem lockeren Schreibstil zum Trotz – auf sachkundiger empirischer Arbeit beruht. Wenn Nachtwey etwa die betrieblichen Auswirkungen des strategischen Einsatzes von Leiharbeit oder die klassenpolitischen Implikationen der räumlichen Segmentierung einer von ihm untersuchten Automobilfabrik schildert, wird deutlich, dass hier nicht nur Literatur referiert, sondern von eigenständigen Forschungsprojekten berichtet wird (ich habe den Eindruck, dass das bei oberflächlichem Lesen nicht unbedingt klar wird).

Nachtweys nach eigener Aussage „von der Kritischen Theorie beeinflusste[n] Zugang“ (74), vermeidet glücklicherweise jenen elitistischen Frankfurter Duktus (und häufig auch Argumentationsgang), den man in den Kulturkritiken Horkheimers und Adornos findet. Dass der Autor keine hochtrabend-abstrakten Schlussfolgerungen anstellt, bedeutet nicht, dass der Text nicht auch sozialtheoretisch anschlussfähig wäre. Tatsächlich erscheint mir die Darstellung der deutschen Gesellschaftsentwicklung im Längsschnitt eher beeinflusst von der Theorie des historischen Institutionalismus (Skocpol 1979). Zahlreiche Bezüge zur Disziplin der Politischen Ökonomie bleiben (aus meiner Sicht) eher implizit. Zwar weist Nachtwey nach, dass es sich bei der bundesdeutschen Wirtschaftsordnung (zumindest heute nicht mehr) um das System einer ‚Coordinated Market Economy‘ (Hall/Soskice 2001) handelt. Entsprechende Verweise sucht man im Buch allerdings vergeblich (obwohl sie sicher gut hineinpassen würden!).

Zwei wesentliche Leerstellen fallen in der konzeptionellen Rahmung der Studie auf: Zum einen vernachlässigt diese, wie der Autor selbst bemerkt, transnationale Aspekte zumindest im Bereich der politischen Mobilisierung einer Gegenbewegung zur regressiven Modernisierung. Gibt es eventuell eine gemeinsame politische Klammer, die den Protesten (etwa in Form von Arbeitskämpfen) zusätzliche Legitimation und Durchsetzungsfähigkeit verschafft, indem sie ihre Gültigkeit jenseits nationaler Grenzen gewinnt? Und falls nein, wieso endet die Mobilisierung dann an genau diesen Grenzen?

Ein zweiter Punkt liegt in der Nicht-Berücksichtigung ökologischer Fragen und Problemstellungen. Das ist zwar kein allgemeines Problem (und evtl. kein empirisches, denn vermutlich stellt die von der Bundesrepublik ausgehende Bedrohung der ökologischen Sphäre im globalen Maßstab ein im internationalen Vergleich eher geringes Risiko dar). Es erscheint mir aber zumindest als wünschenswert, die Vernachlässigung dieser Problemstellung etwas genauer zu begründen (und sei es nur, um der alternativen Schwerpunktsetzung auf Ungleichheit und mangelnde Demokratie zusätzliche Legitimität zu verschaffen).

Der kapitalismustheoretische Exkurs im Unterkapitel zum Post-Wachstums-Kapitalismus dient Nachtwey, wie ich es verstehe, (unter anderem) zur Begründung einer Dynamik des Kapitalismus, die Entwicklungen der Liberalisierung/Ökonomisierung/Vermarktlichung/Landnahme/De-Institutionalisierung (etc.), die seine „spezifische Direktionalität“ (Streeck 2009) zumindest in Ansätzen erklären soll. Ein Verweis auf tendenziell sinkende Profite muss hier als Verweis genügen. Warum unter Bedingungen kapitalistischer Märkte nur Liberalisierung möglich ist (oder war das gar nicht die Aussage? Irgendwie passt sie ja auch nicht unbedingt zu den Perspektiven, die der Autor später für den politischen Protest aufzeigt). Aber vielleicht war das auch gar nicht das Thema.

Mit ihren zahlreichen empirischen Implikationen bietet Nachtweys Zeitdiagnose eine Reihe praktischer Anknüpfungspunkte für die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung. Spannend erscheint mir hierbei zum einen die Frage, inwiefern die zunehmende Prekarisierung des Arbeitsmarktes für Sozialwissenschaftler nicht möglicherweise eine Einschränkung der Reflexionsfähigkeit mit sich bringt. Wenn die Laufzeit von Arbeitsverträgen immer kürzer wird, der Publikationsdruck weiter steigt und die Vergabe von Forschungsgeldern mehr und mehr an die praktische Verwendbarkeit, bzw. die szientistisch angemessene Formatierung geplanter Studien, geknüpft wird (auch hierin sind schließlich mittelbar Resultate neoliberaler Kulturdiffusion zu sehen), können wir das zeitdiagnostische Potenzial der Disziplin dann als weiterhin gewährleistet ansehen?

Unter Bedingungen eines immer prekärer werdenden Wissenschaftsbetriebes stellen Arbeiten wie die „Abstiegsgesellschaft“, vor allem von Angehörigen des akademischen Mittelbaus keine Selbstverständlichkeit mehr da. Dass es dem Autor gelingt, die Ergebnisse einzelner, an unterschiedlichen Orten durchgeführter Forschungsprojekte zu diesem scharfsinnigen und argumentativ überzeugenden Beitrag zu verknüpfen, erscheint vor diesem Hintergrund als besonders bemerkenswert.

Ein weiterer Ansatzpunkt für zukünftige Untersuchungen läge in einer international vergleichenden Untersuchung in Anlehnung an Nachtweys Design in der Bundesrepublik. Können wir ähnliche (oder sogar noch stärkere) Dynamiken in den Krisenländern der Eurozone erkennen? Und wie ist es um den globalen Süden bestellt? Und was ist mit der Mobilisierungspotenzial des chinesischen Proletariats, das doch zumindest zahlenmäßig die umfangreichste Gruppe nationale Arbeiterschaft konstituiert?

In einem Gastbeitrag für Zeit-Online schlägt Nachtwey einen ‚linken Populismus‘ als möglichen politischen Impulsgeber vor: „Ein linker Populismus, der die Ängste der Bürger ernst nimmt und sie in einen Kampf für ein solidarisches Gemeinwesen lenkt, könnte in der europäischen Abstiegsgesellschaft sich deshalb als Glücksfall für die Demokratie erweisen.“ Es wäre spannend zu diskutieren, wie solch ein linker Populismus möglichst ohne autoritäre Anleihen zu gestalten wäre.

 

Literatur

Beck, Ulrich (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp

Hall, Peter; Soskice, David (2001): Varieties of Capitalism. Oxford: Oxford University Press

Skocpol, Theda (1979): States and Social Revolutions. New York

Streeck, Wolfgang (2009): Re-Forming Capitalism. Institutional Change in the German Political Economy. Oxford: Oxford University Press

 

Bibliografischer Nachweis:
Oliver Nachtwey
Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne
Berlin 2016
Suhrkamp Verlag
ISBN 978-3518126820
264 Seiten