Noch eine Kultur
Fußball ist für viele eine äußerst emotionale Angelegenheit. Die Allgegenwart des Fußballs in einer Gesellschaft, in der menschliche Bedürfnisse vielleicht sogar in erster Linie über den Markt kommuniziert werden, stellt diese Personengruppe vor ein Problem, das sich in soziologischer Fachsprache folgendermaßen formulieren lässt: Was geschieht, wenn die spezifische Eigenlogik des Fußballsports mehr und mehr durch die Logik des Marktes verdrängt wird?
Seit Mitte der 1990er Jahre widmet sich dieser Problemstellung (ebenfalls auf äußerst emotionale Weise) die sog. Ultra-Bewegung. In ihrem Band über ebendiese Bewegung legen mit Gabriel Duttler und Boris Haigis zwei Mitarbeiter des Instituts für Fankultur e.V. eine umfangreiche Dokumentation der Ultra-Bewegung in Deutschland aus sozial- und kulturwissenschaftlicher Perspektive vor.
Der Band ist gegliedert in acht Abschnitte. In ihrem einführenden Text begründen die Herausgeber die Notwendigkeit des Bandes mit der „Vielschichtigkeit der Ultra-Kultur“ (8). Dieser Vielschichtigkeit, das sei vorweggenommen, tragen die unterschiedlichen Beiträge mit ihren unterschiedlichen Perspektiven auf umfangreiche Weise Rechnung. Der nachfolgende Text der beiden leistet eine durch die Cultural Studies inspirierte Annäherung an das Themenfeld Ultra. Besonders bemerkenswert erscheint hier nicht unbedingt der theoretische Rahmen, sondern eher die kenntnisreiche Darstellung der Ultra-Kultur. Besonders hervorzuheben sind hier (wie auch im Rest des Buches) die zahlreichen Originalzitate. Die zentralen im Band angeführten Leitwerte von Ultras (Partizipation, Disziplin, Solidarität, Loyalität, Autonomie [68]), werden so in ihrer praktischen Widersprüchlichkeit viel anschaulicher gemacht, als dies in abstrakten Erklärungen überhaupt möglich wäre. In diesem Sinne dokumentiert der folgende Auszug (22f.) aus der Selbstdarstellung einer Ultra-Gruppe die Selbstsicht der Szenegänger:
„Ultras ist Freiheit, kritisches Denken gegen Kapital, überhäufter Geld-Anspruch, Staat, nationale willkürlich gesetzte Gebilde und hemmungslosen, abgestumpften Konsum bis zum Erbrechen. Nüchtern betrachtet ist jedoch das politische Denken nicht bei allen Ultras vorhanden, wenn man überhaupt definieren will, was ein Ultra ist [sic! Wollen sie doch? M.S.]. Ultra ist dabei letztlich eine Utopie, eine Idealvorstellung, die in seiner Konsequenz schwer definierbar und manchmal auch einfach zu überhöht ist. Ultra ist in der Realität eben auch: ‚Eine Beschäftigungstherapie für Mittelstands-Kids, die Erlaubnis sich zu benehmen wie die Axt im Walde, Ultras, die mangelnde Bereitschaft zu gemeinsamen wirklich etwas bewirkenden Projekten. Eine Bewegung, die kaum wie eine zweite versucht junge Menschen in einen irrsinnigen, hintergrundlosen Pathos zu verleiten, der Märtyrertum verherrlicht und aufgesetztes Mentalitätsgefasel steigert. Und das wohl selbstzerstörerischste: Ultra ist eben auch für die meisten nur ein begrenzter Zeitabschnitt ihres Lebens, solange bis die neue Freundin, ein guter Job oder ein anderes Hobby kommt. Wer sich einmal die Fluktuation anschaut, der weiss, dass diese Worte nicht allzu falsch sein können.“
Als besonderen Antrieb stellen die Autoren weiterhin die Lust an (häufig devianter) Vergemeinschaftung heraus: Theoretisch erklärbar werden die Formen des Protests von Ultras unter anderem durch den Anspruch, als Gruppe mit verinnerlichten Idealen, Werten und Bedürfnissen ernst genommen zu werden“ (28). Diese Vergemeinschaftungsformen gewönnen, ähnlich wie etwa im Falle von Sekten oder Bikergangs, ihre spezifische Bedeutung vor allem vor dem Hintergrund jüngerer Individualisierungs- und sogar Vereinzelungsentwicklungen (42).
Einen zweiten Teil zur „Lebenskultur der Ultras“ leitet ein weiterer deskriptiver Beitrag ein und führt ebenfalls (und dies nicht ohne Redundanzen, die im Buch immer wieder auftreten) in die Materie ein. Einen Schwerpunkt legt der Autor Steven Adam hierbei auf die Kommerzialisierung der Fußballkultur und die kritische Haltung der Ultras hierzu. Eine sinn- und identitätsstiftende Wirkung ergibt sich hierbei aus der kollektiven Abgrenzung von einem Komplex, den Ultras unter dem Sammelbegriff „moderner Fußball“ (64) zusammenfassen. Einen ersten Beitrag zum Thema Ultras und Geschlecht liefert Judith von der Heide in ihrem Text „Doing Gender und Ultra“. Die These einer nummerischen wie auch qualitativen Männerdominanz und Heteronormativität im Zusammenhang einer Ultrakultur belegt sie anhand einer Reihe qualitativer Interviews mit weiblichen Ultragruppen. Es folgt das erste einer Reihe von insgesamt fünf Interviews mit Experten, welches den Wurzeln der Ultrabewegung in der italienischen Fußballkultur nachgeht. Der befragte Vertreter erläutert weiterhin die Gefahr einer Vereinnahmung der Ultrakultur durch wirtschaftliche Interessen (wie etwa im Falle des „Fan Club Nationalmannschaft powered by Coca Cola“ [83]).
Die folgenden drei Abschnitte zu „Ultras und HipHop“, „Ultras und Streetart“ sowie „Ultras und ihre Symbolik“ loten Verbindungen der Ultra-Bewegung zu vermeintlich verwandten Subkulturen aus. Anhand einer substanziellen Beschreibung von Parallelen und Überschneidungen gelingt es den Beiträgen, geteilte Bezüge herauszuarbeiten (ein weiteres Interview dient der inhaltlichen Vertiefung). Besonders hervorzuheben ist der Beitrag von Agnes Tratter, die den Zusammenhang von Ultra-Symbolik mit der häufig martialischen Männlichkeitsinszenierung im Genre in Zusammenhang bringt.
Interessant erscheint weiterhin die v.a. von Andreas Grün herausgestellte Verbindung zwischen Ultras und Graffiti; „Leidenschaft und der große Einsatz für die eigene Sache“, eine „kritische Haltung gegenüber den bestehenden Strukturen“ sowie „das Brechen mit existierenden Regeln oder Gesetzen sowie der daraus resultierende Konflikt mit der Polizei“ (170) werden als gemeinsame Bezugspunkte herausgearbeitet. Neben einer realitätsgetreuen Beschreibung mikrosozialer Wirklichkeiten innerhalb der jeweiligen Szenen liefert der Beitrag jenes Material, welches Forscher wie Hitzler zu ihrer Diagnose einer posttraditionalen Vergemeinschaftung in Jugendszenen gebracht hat: Während die klassischen Sozialisationsinstanzen zunehmend an Bedeutung verlieren, suchen Leute Zugehörigkeit und Selbstverwirklichung in der sozialen Nische spezifischer Szenekontexte.
Den Eindruck, dass auch hinter den vermeintlich alltäglich und vorwiegend ästhetisch orientierten Szenepraktiken häufig ein (mitunter diffuser, mitunter aber auch sehr klarer) politischer Impuls steckt, verdichtet sich im folgenden Abschnitt zu Ultras und Punk. Der ist nett zu lesen, liefert aber insgesamt wenig überraschende Einsichten. Expliziter thematisieren diese Impulse die beiden Beiträge des folgenden Abschnittes zu „Ultras und Politik“. Zusammenfassend formuliert Claudia Luzar: „Die Konflikte im Fußball drehen sich stets um die großen Wertefragen nach Freiheit und dem Gegenteil des Verbots, Gleichheit sowie der Einschränkung durch ungleiche Verteilung“ (293), wie etwa im Fall der Ticketpreise.
Ein letztes Interview behandelt schließlich den Themenkomplex Ultras und Drogenkonsum. Kenntnisreich gelingt es dem Experten hier, dazulegen, wie Risikohandeln, Bewusstseinserweiterung und kompensatorische Flucht in den Rausch als genuine Bestandteile der in der Ultrakultur praktizierten Männlichkeitsriten ein wesentlicher Stellenwert zukommt.
Mit ihrem Band zur Ultrakultur in Deutschland liefern die Herausgeber eine umfangreiche Darstellung der deutschen Ultrabewegung und ihrer Kultur. Neben einer dichten Beschreibung der sozialen Wirklichkeit innerhalb der Szene gelingt es den Autoren des Bandes insgesamt, sehr deutlich zu machen, wo sich die Ultra-Bewegung von anderen Szenen unterscheidet. Im klassischen Sinne des Wortes eignet sich der Begriff „Bewegung“ tatsächlich besser als die Bezeichnung „Szene“, weil mit dem Handeln der Ultras eine Reihe konkreter politischer Anliegen verbunden sind. Jenseits der unmittelbaren Zielsetzungen im Bereich des Fußball impliziert die Kritik an Kommerzialisierung und Unverbindlichkeit, die sich – wenn nicht gerade explizit geäußert – auch aus der rückhaltlosen Identifikation vieler Ultras mit ihrer Auffassung von Fußballkultur ableiten lässt, eine Haltung zu gesellschaftlichen Grundwerten.
Ganz in diesem Sinne folgt auch der Band selbst (d.h. im Fall fast aller Einzelartikel) einer politischen Tendenz. Die Autoren, das ist keine Überraschung, sympathisieren mit der Ultrakultur. Diese Sympathie zeigt sich gleich zu Beginn der Bandes, wenn die Herausgeber schreiben, die Ultra-Bewegung sei „möglicherweise der legitime Nachfolger der 68er-Bewegung“ (9): „Politische Umwälzungen in Deutschland erscheinen heute nur unter erheblicher Einflussnahme von Ultra-Gruppen möglich.“ Bescheiden sind sie also nicht. Ich lasse das mal so stehen – wie soll man auch das Gegenteil beweisen?
Als besonders positiv hervorzuheben erscheinen mir die Interviews, die allein schon vom Format her etwas zugänglicher sind als klassische Beiträge. Die anekdotische Anreicherung erhöht nicht nur das Lesevergnügen, sondern veranschaulicht auch die Lebenswirklichkeiten in der Ultra-Szene (Auf Seite 89 erfährt man z.B., wie Marco Bartsch um sein Leben rennen musste, weil er andere Fans beschimpft hatte). Schön zu lesen wären sicherlich die Ergebnisse einer Ethnografie unter Ultras. Vielleicht macht das ja mal jemand – am besten aber kein Ultra-Sympathisant, denn so informativ die im Band präsentierte Innensicht auch ist, irgendwie hat man das Gefühl, ein paar mehr externe Perspektiven hätten dem Buch ganz gut getan.
Bibliographischer Nachweis:
Gabriel Duttler/Boris Haigis (Hg.)
Ultras. Eine Fankultur im Spannungsfeld unterschiedlicher Subkulturen
Bielefeld 2016
Transcript Verlag
ISBN 978-3837630602
318 Seiten