Auge und Ohr
Dieser Essay behandelt Lost River (2014), das Regiedebut von Ryan Gosling. Unter Rückgriff auf das Archiv der Popkultur erzählt der in Detroit lokalisierte Film die Geschichte seiner von der Finanz- und Immobilienkrise getroffenen Figuren als eine Geschichte von ausgebeuteten und zerstörten Körpern. In engem Dialog mit David Lynchs Blue Velvet (1986) inszeniert Lost River einen Konflikt zwischen Ton und Bild bei dem Versuch, den Zuschauerkörper selbst mit in das Geschehen einzubeziehen: während die Erfahrung von Haptik eigentlich der Dimension des Auditiven vorbehalten ist und das Visuelle sich durch seine okularzentrische Distanz auszeichnet, zitiert das Finale von Lost River das kinematographische Voyeurismus-Paradigma und spielt mit der Visualisierung eines haptischen Bildes, das die visuelle Distanz unterminiert, den Ton negiert und den Körper des Rezipienten berührt.
Einleitung
Seit Einführung des Tonfilms in den 1930er Jahren, einem „der einschneidendsten Ereignisse der Filmgeschichte“ (Elsaesser/Hagener, 2013, S. 166), wird die Diskussion über den Vorrang von Ton oder Bild kontrovers geführt: „Die Stummfilme waren die reinste Form des Kinos […]“ (Hitchcock in: Truffaut, 2014, S. 53), behauptet Alfred Hitchcock, „[w]enn man einen Film schreibt, kommt es darauf an, den Dialog und die visuellen Elemente säuberlich zu trennen und, wann immer es möglich ist, dem Visuellen den Vorrang zu geben vor dem Dialog“ (ebd., S. 53).
„Sound rules as solitary Queen of our senses“ (Murch, in: Chion, 1994, S. vii), konstatiert hingegen der Oscar-prämierte Sound Designer Walter Murch im Vorwort zu Michel Chions Audio-Vision. Sound On Screen und fragt weiter: „why does King Sight still sit in his throne?“. Murch und Chion rufen zur Revolte gegen König Bild aus. „Natürlich wäre es absurd, die Zentralität des Augensinns im Kino bestreiten zu wollen […]“ (Elsaesser/Hagener, S. 138) schreiben wiederum Elsaesser und Hagener 2007, wollen die Oppositionsstellung von Bild und Ton aber lieber unterlaufen (vgl. a.a.O., S. 174f).
Geht es allerdings um die Frage, ob man das „Kino auch als haptische Erfahrung verstehen“ (a.a.O., S. 140) kann, dann geht der Oscar eindeutig an den Sound: in ihrem Aufsatz The Voice in the Cinema: The Articulation of Body and Space von 1985 schreibt die feministische Filmtheoretikerin Mary Ann Doane: „The screen is the space where the image is deployed while the theater as a whole is the space of the deployment of sound“ (Doane, 1985, S. 165). Damit geht eine entscheidende Beobachtung zum Verhältnis von Ton und Rezipient einher, denn „sound is not ‚framed‘ in the same way as the image. In a sense, it envelops the spectator [Herv. M.B.]“ (a.a.O., S. 166).
Mit dieser Umhüllung des Rezipienten durch den Ton – perfektioniert durch die Entwicklung der Dolby-Surround-Technik Ende der 1970er Jahre – wird die Frage nach dem Verhältnis von Zuschauerkörper und Film virulent. Doane spricht – wiederum mit Bezug auf Lyotard – vom Kino „as a kind of somatography, or inscription in the body” (a.a.O., S. 172). Das Kino sei als ein Spektakel zu begreifen, bestehend aus „disparate elements – images, voices, sound effects, music, writing” (ebd.), das auf den Körper des Rezipienten zielt (vgl. ebd.). Die „Materialität des Akustischen“ (Elsaesser/Hagener, S. 184) der auditiven Dimension fügt der Beziehung von Kino und Rezipient eine neue körperliche Erfahrungsmöglichkeit hinzu: Haptik.
Haptik steht dem auf Distanz und Entkörperlichung des Kinos fokussierten „Okularzentrismus“ (Jay, 1997, S. 154) geradezu diametral entgegen, ist sie doch der visuellen Dimension entzogen. Der Begriff „Okularzentrismus“ bezeichnet allgemein die „Dominanz des Sehens in der westlichen Kultur“ (Jay, 1997, S. 154) und analog dazu in der Filmtheorie und im Kino „die Zentralität des Augensinns“ (Elsaesser/Hagener, S. 138). Der okularzentrische Ansatz begreift das Kino als „okularspekular (also durch den optischen Zugang bestimmt), transitiv (etwas wird betrachtet) und entkörperlicht (der Zuschauer besitzt eine sichere Distanz und kommt mit dem Geschehen nicht in Berührung, sein Körper hat neben dem Augensinn keinen Anteil am Akt der Filmbetrachtung)“ (a.a.O., S. 25). Dieses Gefühl der Sicherheit, „ein Gefühl, das durch die schützende Dunkelheit des Kinosaals noch befördert wird“ (a.a.O., S. 24) hat die Filmtheorie – und auch den Film selbst – immer wieder dazu veranlasst, das Kino mit Voyeurismus zu vergleichen und die „Lust am Film“ (Seeßlen, 2007, S. 94) als Lust am „[S]ehen, ohne gesehen zu werden“ (ebd.) zu begreifen.
Ganz anders hingegen verhält sich die haptische Qualität des Tons: im Sinne Doanes schreiben Elsaesser und Hagener, wenn „große Basstöner arbeiten, können wir den Luftzug der tiefen Töne am eigenen Leib spüren“ (Elsaesser/Hagener, S. 184.), denn Ton besitzt „taktile und haptische Qualitäten, weil Klang ein Wellenphänomen ist und damit eines der Bewegung. Um ein Geräusch zu erzeugen und auszustrahlen, muss ein Gegenstand berührt werden […] und Ton wiederum versetzt Körper in Schwingungen, enthüllt, berührt und umfängt damit auch den Körper des Zuschauers“ (a.a.O. S. 173).
Genau diese Berührung unterminiert die entkörperlichte Distanz des okularzentrischen Ansatzes. Auch Elsaesser und Hagener begreifen das Kino als Somatographie: aufgrund der These, dass „sich keine theoretische Position auf Film und Kino dieser Relation [von Film und Körper, M.B.] entziehen“ (a.a.O., S. 13) kann, da sie sich in jedem Theoriedesign nachweisen lasse (vgl. ebd.), schlagen sie die Frage „Wie verhält sich der Film zum (Zuschauer-)Körper?“ (ebd.) als allgemeines Leitmotiv zu Systematisierungszwecken vor (vgl. a.a.O., S. 9-16).
Die Dominanz und scheinbare Natürlichkeit des okularzentrischen Konzepts lässt sich mit Blick auf die Entwicklungsgeschichte des Films erklären, war dieser doch zunächst stumm und ein rein visuelles Medium. Zwar gab es schon zu Zeiten des Stummfilms Geräuschkünstler und Musiker im Kinoraum (vgl. Altman, 2004), doch erst mit der Etablierung des Tonfilms in den 1930er Jahren wurde der Ton ein standardisiertes, integrales Element des Filmraums selbst. Seine Selbstverständlichkeit verliert der Okularzentrismus folglich erst mit dem Aufkommen anderer möglicher Ansätze, die Relation von Zuschauerkörper und Film zu begreifen. Eine solche Alternative ist die mit dem Ton verbundene Frage nach der haptischen Qualität des Kinos, denn sie verschiebt die Konzentration vom Organ des Auges auf das „der Haut als einem fortlaufenden Wahrnehmungsorgan“ (ebd.). Voraussetzung ist dabei aber nicht einfach nur die Einführung des Tonfilms, sondern die Emanzipation des Tons vom „hierarchical placement of the visible above the audible“ (Doane, S. 165).
Wie Doane in ihrer pointierten – dem Okularzentrismus kritisch gesonnenen – Zusammenfassung dieser Emanzipationsgeschichte (vgl. Doane, S. 162-169) bemerkt, dient die Unterordnung des Tons unter das Bild zur Überzeugung des Publikums von der noch neuen Technik. Im klassischen, einem Realismus verbundenen Film (vgl. Williams, 1991, S. 3; Žižek u.a., 2002, S. 12f.) wird der Ton auf die Funktion der Synchronisation von Gesehenem und Gehörten reduziert, besonders von Schauspielerkörper und dessen Stimme (vgl. a.a.O., S. 162-163). Damit die Zuschauer keine Tricks vermuten (bspw. durch im Kino versteckte Geräuschkünstler), muss der Ton immer wieder an die auf der Leinwand entfaltete diegetische Welt zurückgebunden werden:
„‚Voice-off‘ refers to instances in which we hear the voice of a character who is not visible within the frame. Yet the film establishes, by means of previous shots or contextual determinants, the character’s ‚presence‘ in the space of the scene, in the diegesis. […] The traditional use of voice-off constitutes a denial of the frame as a limit and an affirmation of the unity and homogenity of the depicted space“ (a.a.O., S. 165).
Der anti-illusionistische Einsatz von Voice-Off und Voice-Over, der das traditionelle Ton-Bild Verhältnis und damit die Einheit der diegetischen Welt desintegriert, konnte sich erst nach einer langen Phase der Akzeptanz des Tonfilms entwickeln. Wird der Ton „asynchronous or ‚wild‘“ (a.a.O., S. 163) eingesetzt, sodass er nicht mehr auf etwas Gesehenes auf der Leinwand oder im Off zugerechnet werden kann – wie bei der „disembodied voice“ (a.a.O., S. 168) oder dem auditiven Oszillationseffekt namens „acousmêtre“ (Chion, 1994, S. 129ff) – hat das einen entscheidenden Effekt: Der Ton rückt als eigenständige Dimension des Kinos in den Fokus, er wird als Ton explizit und deckt die „material heterogenity of the cinema“ (a.a.O., S. 167) auf: „As soon as the sound is detached from its source, no longer anchored by a represented body, its potential work as a signifier is revealed“ (a.a.O., S. 167).
Wenn also oben behauptet wurde, dass erst mit der haptischen Erfahrungsmöglichkeit durch die auditive Umhüllung des Rezipienten die Frage nach dem Verhältnis von Film und Zuschauerkörper virulent wird, dann vor allem, weil erst durch diese alternative Möglichkeit, die mit der Emanzipation des Tons als eigenständigem „signifier“ (ebd.) gegeben ist, auch der okularzentrische Ansatz selbst überhaupt erst als ein möglicher Ansatz gleichzeitig explizit wie kontingent wird.
Lost River wurde bei seiner Premiere im Rahmen der 67. Internationalen Filmfestspiele von Cannes im Mai 2014 fast ausnahmslos verrissen. Während der Film bei seiner Kinopremiere 2015 auch viel positive Resonanz erfahren hat, gar als „brillantes Regie-Debüt“ (Hannemann, 2015) bezeichnet wurde, hieß es 2014 im Spiegel – stellvertretend für den allgemeinen Rezensionstenor – Gosling versuche, „die alptraumhafte Poetik eines David Lynch […] nachzuahmen“ (Schweizerhof, 2014). Der „uneinheitliche Soundtrack von Chromatics-Mastermind Johnny Jewel“ (Pilarczyk, 2014), würde zudem „ohne […] ein Gefühl von durchdachter Ästhetik“ (ebd.) eingesetzt. Gegen diese Meinungen argumentiert der vorliegende Essay, dass das Debut von Gosling an der referierten Verhandlung von Bild und Ton partizipiert.
Lost River erzählt die Geschichte seiner von der Finanzkrise bedrohten Existenzen, allen voran der alleinerziehenden Mutter Billy (Christina Hendricks), als eine Geschichte der Zerstörung, der Ausbeutung und des Verfalls von Körpern und Orten (vgl. Westphal, 2015; Schmitt 2015). Im Zentrum steht dabei die Auseinandersetzung zwischen Billy und dem Banker und Fetischclubbesitzer Dave (Ben Mendelsohn), der Billy einen Job in seinem Club offeriert, mit welchem sie ihre Schulden tilgen soll.
Die Krise – so lässt sich zuspitzen – rückt auf den Leib, es geht um Haut und Knochen. Hier verortet sich die inszenierte Verhandlung zwischen Visuellem und Auditivem, zwischen Körperbildern und der haptischen Macht des Tons, als Frage, wie man den extradiegetischen Rezipienten(-körper) zum Teil dieser Geschichte machen kann.
Meine These ist, dass sich Lost River genau zwischen der kinematographischen Vorrangstellung des Bildes einerseits und der haptischen ‚Macht‘ des Tons andererseits positioniert, um das körperliche Potential des Films zu erkunden – und zwar in sowohl auditiver wie visueller Hinsicht. Gosling erforscht das Verhältnis und Potential von Bild und Ton im Zeichen des Haptischen. Dabei speist der Film sein Material aus dem popkulturellen Film- und Songarchiv und inszeniert eine konfligierende Verhandlung zwischen auditiver und visueller Dimension beim Ringen um die Berührung des (Zuschauer-)Körpers: Zum einen wird die auditive Ebene desavouiert, um den Fokus auf die Bilder von ausgebeuteten, verfallenden und zerstörten Körpern zu lenken (Teil I). Zum anderen wiederum wird auch die visuelle Ebene einem Zweifel unterzogen, indem genau diesen Körperbildern in selbstreflexiven Verhandlungen des okularzentrischen Kino-Dispositivs ihre Distanz und Künstlichkeit aufgezeigt werden (Teil II).
Im Gegenzug stellt der eigens vom Chromatics-Kopf Johnny Jewel produzierte Soundtrack an körperzentrierten Stellen eine Verbindung von Intra- und Extra-Diegetischem im Dienste der haptischen Erfahrung her. Die finale Konfrontation zwischen Billy und Dave im „shell“-Fetischkeller evoziert schließlich unter Bezug David Lynchs Blue Velvet (1986) das voyeuristisch-okularzentrische Kinodispositiv und inszeniert dabei einerseits einen allegorischen Showdown zwischen Bild und Ton und spielt dabei andererseits mit der Unmöglichkeit, dass das Kinobild selbst haptisch wird. Lost River visualisiert den Übertritt der diegetischen Welt durch die Leinwand, um den Rezipienten zu berühren (Teil III).
I
Die erste Begegnung zwischen Billy und Dave ist eine der Schlüsselszenen: sie rückt den Körper ins Zentrum. Billy ist pleite und kann die Hypothek nicht abbezahlen, die auf ihrem Haus liegt. Sie konsultiert deshalb Dave, den neuen Bankleiter. Im übertragenen Sinne ist bereits Billys Ausgangslage eine sprachlose, ist sie doch von der monetären Kommunikation abgeschnitten. Nicht von ungefähr enthält ihr Name das Wort „bill“ und zwar in zweifacher Bedeutung: einerseits als die „dollar bills“, die sie nicht hat, andererseits im Sinne der „bill“, also der Rechnung, die sie zahlen muss. Auf Daves Schreibtisch steht deshalb ostentativ eine große Kaffeetasse, die im Stile eines fiktiven Millionen-Dollarscheins designt ist (Abb. 1).
Billys monetäre Mittellosigkeit äußert sich konsequenterweise in einem Akt der Sprachlosigkeit: ein langes Schweigen ist Billys Antwort, als Dave fragt, was sie ihm denn anzubieten habe und Dave entgegnet lakonisch: „That doesn’t sound promising“ (LR: 11:17 min.). Die Ironie von Daves Antwort ist nicht nur, dass mit „that“ auf eine auditive Leerstelle referiert wird, sondern dass Dave nahezu taub ist, Billys Erklärungen kommen bei Dave nicht an, er vernimmt nur unverständliche Laute: „I am very deaf […]. All I heard then was blah blah blah“ (LR: 10:21 min.).
Auf zweifache Weise folgt aus Billys – monetärer und verbaler – Sprachlosigkeit sowie Daves Taubheit ein miteinander verschalteter Zugriff auf den Körper: erstens ist Billy dazu gezwungen, den Job anzunehmen, den Dave ihr anbietet. Dieser betreibt einen burlesk-morbiden Nachtclub „in dem Frauen sadomasochistische Fantasien auf der Bühne ausleben: Bloodtease“ (Westphal, 2015), wie Sascha Westphal schreibt und dann richtig bilanziert: „Der Körper als letzte Ware, die den Abgehängten noch geblieben ist“ (ebd.).
Im Falle Billys ist die letzte Ware Körper auch das letzte Medium, um sich wieder Gehör zu verschaffen. „Everyone’s got to do the shimmy-shimmy-ya” (LR: 12:52 min.) kommentiert Dave seinen zwielichtigen Nebenerwerb. Dave ist nicht nur taub, er spricht auch mit der Sprache von anderen, hier ist es das verstorbene Wu Tang Clan Mitglied Ol’ Dirty Bastard: „Yeah Baby, I like it raw/ shimmy shimmy ya, shimmy yam, shimmy yay/ Gimme the mic so I can take it away“ heißt es im East Coast Hip-Hop Klassiker Shimmy Shimmy Ya (1995). Zieht man in Betracht, dass der Shimmy (von engl. „to shimmy“, also „flattern“) ein Tanz aus den Roaring Twenties ist, bei dem kräftig mit dem Hinterteil geflattert wird, hat Dave seine ‚Punchline‘ in Zeiten einer neuen Great Depression bewusst gewählt.
Im Verlauf des Films erfolgt zweitens eine sukzessive Verringerung der körperlichen Distanz zwischen Billy und Dave, die in der finalen „shell“-Konfrontation kulminiert. Setzt sich Dave zunächst nur neben Billy, um sie mit seinem, von ihm als „good ear“ (LR: 10:23 min.) bezeichneten, rechten Ohr besser hören zu können, so legt er sein sexuelles Begehren später offen: als Dave Billy vom Nachtclub heimfährt und sie ihn, unter Verweis auf die klaustrophobische Enge der „shells“ sowie auf ihr monetäres Problem, nach ihrem ersten Gehalt fragt, antwortet Dave: „I have a problem too, I like to fuck. That’s my problem and when I meet a bad bitch it drives me crazy” (LR: 63:10 min.)
Nicht von ungefähr legt Gosling dem Antagonisten Dave, der das kapitalistische System repräsentiert, Rapzitate in den Mund, denn nicht nur hat dieses Genre ein Faible für sexualisierte Lyrics und Videos, sondern „[d]essen Lebenswelt ist mit Konsumartikeln gespickt, aus dem Archiv der Marken, Werbebilder und Slogans generiert der Rap ein Gutteil seiner Imaginationen“ (Drügh, 2013, S. 105). Rückwirkend gilt das wiederum auch für den kruden Banker Dave, wenn er seine Imaginationen gegenüber Billy aus A$AP Rockys Fuckin’ Problems (2012) schöpft: „I love bad bitches, that’s my fuckin‘ problem/ And yeah, I like to fuck, I got a fuckin‘ problem.“
Entscheidend ist zum einen, dass an dieser Stelle die Taubheit auf den extradiegetischen Rezipienten selbst übertragen wird. Während letzterer Billys Ausführungen in der Bankszene, im Gegensatz zu Dave, noch klar vernimmt, koppelt die Szene im Auto die auditive Wahrnehmung des Rezipienten an diejenige Daves. Qua Manipulation des Tons wird Billys Antwort auf Daves sexuelle Erpressung für den Zuschauer selbst von klar artikulierten Wörtern in dumpfes Geräusch überführt – from order to noise.
Dieses Verfahren bindet den Rezipienten an die Bilder, er muss die Mimik von Billy sowie Bones, der irritiert blickend vor dem Auto steht, lesen. ‚Show, don’t tell‘, „eines der fundamentalen Gesetze des Kinos“ (Truffaut, 2014, S. 14), das darin besteht – noch einmal Hitchcock –, „wann immer es möglich ist, dem Visuellen den Vorrang zu geben vor dem Dialog“ (Hitchcock, in: a.a.O., S. 53), wird hier in Szene gesetzt: indem der Dialog zwischen Billy und Dave in Taubheit versandet, wird der Rezipient auf das Visuelle und seine Augen verwiesen. Die auditive Kopplung von Rezipienten und Dave geht zum anderen mit einer visuellen Kopplung einher (Abb. 2):
Wir sind hinter Daves tauben Ohr lokalisiert und sehen Billy somit zugleich aus der Perspektive von Dave, der sie zum „sexual object“ (Mulvey, 2009, S. 19) verdinglicht und den „determing male gaze“ (ebd.) verkörpert, wie Laura Mulvey ihn in ihrem berühmten Aufsatz Visual Pleasure and Narrative Cinema beschreibt. Mit dieser strategischen Verschaltung justiert Lost River sein allegorisches Finale, wird der männliche Blick von Mulvey doch unter Verweis auf „the darkness in the auditorium“ (S. 17) als „voyeuristic“ (ebd.) bezeichnet. Der begehrende Blicks allerdings wird – ganz im Sinne Mulveys – von Lost River gleichzeitig reflexiv ausgestellt (siehe dazu Teil II).
‚Show, don’t tell‘ verhandelt Lost River erneut mit umgekehrten Vorzeichen bezüglich der sprechenden Namen der Protagonisten (LR: 52:37 min.): Neben „Billy“ sind das „Bully“, „Rat“ und „Face“. Der Antagonist Bully (Matt Smith) erfüllt alle Kriterien eines bullies, er tyrannisiert Bones (Iain De Caestecker) und dessen Freundin Rat (Saoirse Ronan). Das gilt auch für seinen Handlanger Face (Torrey Wigfield), dem Bully mit einer Schere die Lippen abschneidet und so dessen Gesicht (engl. „face“) verstümmelt. Als Bully auf Rat trifft, fragt er, warum sie „Rat“ heiße und sie antwortet, da sie stets „a pet rat“ bei sich führe.
Die sprechenden Namen sind redundant als sie das, was ohnehin auf der Leinwand zu sehen ist, verdoppeln: während bei Bullys Frage an Rat noch ein Informationsgefälle zwischen extra- und intradiegetischer Ebene möglich ist, insofern der Rezipient bereits von der Ratte weiß, Bully vielleicht aber nicht, sieht es im Falle der sich direkt anschließenden Verhandlung des Namens „Face“ anders aus: Bully fordert Rat mehrfach dazu auf, zu raten, warum Face eigentlich „Face“ heiße. Die Situation ist gleichermaßen beklemmend wie komisch, Rat schweigt, gerade weil es sowohl für sie als auch für den Rezipienten im wahrsten Sinne des Wortes offensichtlich ist.
Dem auf seinen Blick verwiesenen Rezipienten bietet Gosling körperliche (Verfalls)bilder en masse, dazu gehört allen voran das „Detroit des Verfalls und des Niedergangs“ (Gosling, in: Lössl, 2015), heimlicher Hauptdarsteller des Films, das selbst als lebendiger Organismus inszeniert wird. Wenn nämlich einige Rezensenten für Lost River das Etikett „Neo-Noir“ (bspw. Hannemann, 2015; Suchsland, 2015) wählen, dann nicht zuletzt deshalb, weil der Film den urban jungle geradezu wörtlich nimmt, welcher der Tradition von Chandlers hard-boiled novels und des Film Noir gemäß sonst in Los Angeles lokalisiert ist (wie in den ebenfalls als Neo-Noir rezipierten Lost Highway (1997) und Mulholland Drive (2001) von David Lynch, Drive (2011) von Nicolas Winding Refn und jüngst Nightcrawler (2014) von Dan Gilroy): bereits die Eröffnungssequenz zeigt Bilder, in welchen Billys Familie so etwas wie normalen Alltag im verfallenden Haus praktiziert und solche von Detroits öffentlichen Plätzen und Industrieruinen, die einem Prozess vegetativer Renaturierung ausgesetzt sind. Hier beginnt der Dialog mit Blue Velvet, ist es bei Lynch der gleichnamige Song von Bobby Vinton, der die Bilder einer heilen, US-amerikanischen Vorstadtidylle voll leuchtend grüner Rasen besingt, so ist es bei Gosling der nicht minder rührselige Oldie Deep Purple von Larry Clinton und Mary Dugan: „When the deep purple falls over sleepy garden walls/And the stars begin to flicker in the sky.“
Der Kontrast zu Blue Velvet lässt Billys Festhalten an alltäglichen Routinen in der Geisterstadt geradezu surreal erscheinen: während Lynch nämlich bewusst „unter die Oberfläche einer angeblich friedlichen Wohngegend“ (Lynch, 2006, S. 187) voll intakter ‚sleepy garden walls‘ dringt, um „Horror und Perversion“ (ebd.) aufzudecken, ist die Oberfläche in Lost River längst schon verfault, in Zeitlupe werden die leeren Geisterhäuser abgerissen.
Mit dieser Ästhetisierung des Verfalls, welche die in langsamer Montage präsentierten und teils im Weitwinkel aufgenommenen Bilder auszeichnet, markiert Lost River seine Verwandtschaft mit der Fotografie sogenannter Abandoned– oder Lost Places. Der verlassene, Graffiti besprühte Zoo von Belle Island ist solch ein von Fotografen geschätzter Lost Place in Detroit (Abb. 3).
Hier haust Bully und bewacht das Kupfer, das er als seinen Besitz reklamiert – „This is my copper! […] Welcome to Bullytown!“ (LR: 07:31 min-): er ist das einzig verbliebene Tier, das eine eine atavistische Instinktphilosophie predigt: „The only way to live is like a bull“, „blood is important to all of us, you know?“ (LR: 23:54 min.) – Bullys Schere knows!
Das verwilderte und verlassene Detroit, wie Lost River es inszeniert, als den Plünderern anheimgegebenen und von jeglicher ordnenden Staatsmacht verlassen, lässt sich geradezu als Verbildlichung der Vorstellung einer postkapitalistischen Welt lesen, wie sie die Figur Tyler Durden in Chuck Palahniuks Roman Fight Club (1996) beschwört:
You’ll hunt elk through the damp canyon forests around the ruins of Rockefeller Center, and dig clams next to the skeleton of the Space Needle leaning at a forty-five-degree angle. We’ll paint the skyscrapers with huge totem faces and goblin tikis, and every evening what’s left of mankind will retreat to empty zoos and lock itself in cages as protection against bears and big cats and wolves that pace and watch us from outside the cage bars at night. […] Imagine […] you’ll climb the wrist-thick kudzu vines that wrap the Sears Tower. (Palahniuk, 2006, S. 124-125).
Durdens Vorstellung bleibt auch in David Finchers kongenialer Verfilmung (1999) bloß sprachlich, insofern es eine bloße Projektion der zukünftigen Utopie ist, für deren Verwirklichung das von Durden geleiteten Project Chaos kämpft. Das vermeintlich Utopische kehrt Gosling ins dystopische, denn nicht nur bahnt das Ökonomische sich in Form von Bully wie ein Naturgesetz seinen Weg zurück, sondern das verwilderte Detroit steht auch für die zerstörten Existenzen seiner Bewohner. „Ohne die große Hypothekenkrise und den rasanten Niedergang einer einstmals blühenden Industriestadt wie Detroit wäre LOST RIVER so kaum vorstellbar“ (Westphal, 2015).
Das gilt aber genauso für die immer wieder hervorgehobenen „atmosphärischen“ (Knoke, 2015) und „starken Bilder“ (Hannemann, 2015) des Films: bei all seiner ostentativ vorgetragenen Kapitalismuskritik – am deutlichsten im Abgesang auf den american dream, welchen der mit Billy befreundete Taxifahrer anstimmt – setzt die Lost Places-Ästhetik, in ihrer fotographischen und filmischen Inszenierung des Vanitas-Symbols pflanzenüberwachsener Ruinen, den von der Finanzkrise induzierten Niedergang voraus und offenbart dabei sein parasitäres, geradezu ungewollt affirmatives Moment.
In der Dystopie von Belle Island ereignet sich mit Bullys blutspritzender Scherenattacke auf Face der erste explizite body horror (LR: 24:23 min.): diesen Schnitt doppelt Lost River mit einem abrupten, harten Cut zur nächsten Szene. Es ist dieser Schnitt, der auf Figurenebene eine gänzliche Sprachlosigkeit produziert. Kommuniziert nämlich das Schweigen von Billy und Rat, „im Sinne des beredten Schweigens“ (Luhmann, Fuchs, 1989, S. 17), durch den bewussten Verzicht auf die Option des Redens, so wird Face diese Wahl verunmöglicht.
Er wird fortan nicht mehr als Mensch inszeniert, sondern als sabbernder Zombie (Abb. 4), in welchem sich die Motive Körper(-horror) und Ökonomie kreuzen. Das Paradigma des Horrorfilms wird über eines der bekanntesten Bilder der Popkultur evoziert, als Bones sich vor Face zwischen den Warenregalen eines Tankstellenshops versteckt (Abb. 5): das von Romeros Dawn of the Dead (1978) geprägte Bild des Zombies in der Einkaufswelt nämlich (vgl. Drügh, 2013, S. 110-111 u. ders., 2015, S. 137ff.), einer „Art Allzweckwaffe der Kapitalismuskritik“ (a.a.O., S. 156).
Ursprünglich hatte David Lynch geplant, „dass der joyride“ in Blue Velvet, zu dem Jeffrey (Kyle MacLachlan) von Frank (Dennis Hopper) gezwungen wird, „mit der Vergewaltigung Jeffreys durch Frank endet. Man würde ihn mit heruntergezogenen Hosen sehen und auf seinem Bein stände mit Lippenstift geschrieben: ‚Fuck you!‘“ (Seeßlen, 2007, S. 101).
Der joyride, den Rat mit Bully und Face macht, um den sich versteckenden Bones zu schützen, endet mit der symbolischen Vergewaltigung Rats (LR: 59:51 min.): Bully will die Ratte sehen und fragt dann eindeutig doppeldeutig: „Can I touch it?“ Er berührt sie und kommentiert: „Soft. Anybody ever touch your rat? No? That’s the first time?“ Mit seiner Schere schneidet er daraufhin der Ratte den kleinen Kopf ab. Als Bully stirbt (LR: 80:00 min.), wird abermals die auditive Dimension abgeschwächt: Auf die Motorhaube seines Wagens aufgespießt, mit seinem Kopf unter Wasser, hören wir seine Schreie nicht, sondern sehen nur einen Haufen Luftblasen nach oben steigen – Bloodtease it is!
II
Billys minutiös ausgestellte Selbstenthäutung (Abb. 6) ist sowohl Höhepunkt als auch Problematisierung der Körperhorror-Bilder sowie eine reflexive Markierung des auf den Rezipienten applizierten „determing male gaze“ (Mulvey, S. 19). Die Selbstenthäutung (LR: 49:00 min.) findet auf einer Bühne statt, dabei schaut Billy durch einen Spiegel, der aber leer ist, d.h. sie fixiert durch den Spiegelrahmen das Publikum.
In den von Mulvey als ideologisch – da die patriarchalische Ordnung stabilisierend – kritisierten klassischen Hollywoodfilmen ist die Hauptfigur stets ein Mann, der aktiv die Handlung vorantreibt, „as the bearer of the look of the spectator“ (S. 20) fungiert und der Frau die Rolle des passiven Schauobjekts zuschreibt (vgl. ebd):
„As the spectator identifies with the main male protagonist, he projects his look onto that of his like, his screen surrogate, so that the power of the male protagonist as he controls events coincides with the active power of the erotic look, both satisfying sense of omnipotence” (a.a.O. S. 21).
Oben wurde gezeigt, wie Lost River den Rezipienten mit Dave identifiziert, der Billys Selbstkommodifizierung in seinem Nachtclub aktiv forciert. Diese Struktur legt Lost River wiederum offen und bietet so die Möglichkeit des Identifikationsbruchs, indem der Film genau die zwei der drei Arten des filmischen Blicks aufdeckt, deren Latenz laut Mulvey Voraussetzung für die Entfaltung der ideologischen Kraft „of the Hollywood style“ (a.a.O. S. 16) ist. Die drei filmischen Blicke sind „that of the camera as it records the pro-filmic event, that of the audience as it watches the final product, and that of the characters at each other within the screen illusion” (a.a.O., S. 26). Nun gilt für das klassische Hollywoodkino:
„The conventions of the narrative film deny the first two and subordinate them to the third, the conscious aim being always to eliminate intrusive camera presence and prevent a distancing awareness in the audience. Without these two absences […], fictional drama cannot achieve reality, obviousness and truth” (a.a.O. S. 26).
Das Setting von Billys Show aber forciert einen „Illusionsbruch“ (Elsaesser, Hagener, S. 82), inhäriert dem Spiegel doch „die Funktion der reflexiven Verdoppelung, die […] anzeigt, wie sehr das moderne Kino um seine eigene Geschichte als Medium des schönen Scheins weiß, der anhand von Spiegelbildern und Reflexionen durchbrochen werden muss“ (ebd.)
Die Bühne, auf welcher Billy auftritt, markiert die Künstlichkeit und Inszeniertheit der vielen Bilder von körperlichem Verfall und Verstümmelung. Die Show endet mit einem Close-Up der abgeschnittenen Gumminase, direkt gefolgt von einem weiteren harten Schnitt zum Zombie Face, dessen Fratze so ebenfalls als das Ergebnis talentierter Maskenbildner kommentiert wird (LR: 50:00 min.). Die harten, die Gewalt doppelnden Schnitte führen zudem durch ihre ausgestellte Montage das Medium Film immer wieder selbst vors Auge.
Mit der Kategorie „the ‚gross‘“ (Williams, 1991, S. 2) fasst Linda Williams in Film Bodies: Gender, Genre, and Excess „films that promise to be sensational, to give our bodies an actual physical jolt“ (ebd.), das sind bei ihr der Porno, der Horrorfilm und das Melodrama. Auch wenn Williams den Film als visuell-auditive Einheit im Blick hat, so konzentrieren sich ihre Überlegungen in erster Linie auf das Filmbild. Interessant ist in unserem Zusammenhang die von Williams referierte Erklärung (vgl. a.a.O., S. 12) für den angenommenen „effect on the body of spectators“ (a.a.O., S. 4). Diese lautet, „that the body of the spectator is caught up in an almost involuntary mimicry of the emotion or sensation of the body on the screen“ (ebd.). Unfreiwillig ahme der Körper des Zuschauers das Gesehene nach, wer also einen Horrorfilm schaut, „shudders in fear“ (a.a.O., S. 5). Nicht nur Williams selbst ist skeptisch gegenüber diesem Automatismus: „we may be wrong in our assumption” (a.a.O., S. 12), konstatiert sie, „that the bodies of spectators simply reproduce the sensations exhibited by bodies in the screen“ (ebd.).
Auch die Reaktionen des Publikums in Lost River widersprechen den rezipierten Sensationen der Splatter-Shows diametral, gezittert wird hier höchstens vor Freude: während bei Billys Auftritt miteinander getratscht, getrunken, gelächelt und am Ende applaudiert wird, wird beim Auftritt von Cat (Eva Mendes) (LR: 30:32 min.), der „goddess of gore“ (LR: 31:05 min.), frenetisch gejubelt, als die grinsende erste Reihe mit Kunstblut bespritzt wird. „You like that stuff?“ wird Billy von Cat gefragt, „blood, guts, torture?” (LR: 23:02 min.) – Yes, we do! Alles bloß „Show und Illusion, das Kunstblut wie die Schnitte, mit denen sich Billy […] das Gesicht vom Kopf zieht. […] Die Sensationen, die der Club bietet, sind echt und haben dennoch keinerlei Konsequenzen für das Publikum“ (Westphal, 2015).
Der Hinweis auf die Präsenz der Kamera und die Aktivierung des Distanzbewusstseins gehen Hand in Hand: Billy fixiert bei ihrer spielerischen Selbstbetrachtung und -enthäutung im leeren Spiegel den extradiegetischen Rezipienten, sie blickt ostentativ in die Kamera, die als unser Blick ausgewiesen wird, indem Billy den Blick der Kamera erwidert. Dazwischen erfolgen kurze Schnitte zum amüsierten Nachtclubpublikum. Diese Oszillation zwischen Billys Blick in die Kamera und dem Blick des Publikums auf die Bühne gemahnt uns an unseren eigenen Publikumsstatus vor der Kinoleinwand, die sichere Distanz zwischen Rezipient und Rezipiertem, welche die Konsequenzlosigkeit der blutigen Sensationen garantiert, die wir „okularspekular (also durch den optischen Zugang bestimmt) […] und entkörperlicht“ (Elsaesser/ Hagener, S. 25) im Kinoraum betrachten.
Dass Gosling es auf das Bewusstsein dieser visuellen Distanz ankommt, zeigt nicht zuletzt die Reflexion auf das kinematographische Dispositiv (vgl. zu diesem Begriff a.a.O., S. 13f.), als Bones und Rat gemeinsam einen Film schauen (Abb. 7). Lost River kopiert hier das Gesichtsfeld des Rezipienten, wie er im Kino sitzend einen Film schaut: In der Mitte des Raumes die Leinwand, links und rechts vor ihm die Hinterköpfe der anderen Cineasten. Dabei ist jedoch entscheidend, dass der Projektor wie ein Störsignal die freie Sicht des Rezipienten behindert und ihn so an den zweiten, nicht sichtbaren Projektor hinter ihm erinnert, der gerade das Bild von Lost River selbst auf die Leinwand projiziert.
Schließlich sind diese Illusionsbrüche Voraussetzung für den reflexiven Bruch mit der Ordnung des Begehrens, wie sie in der Rollenverteilung des aktiven Dave und der passiven Billy besteht. Dieser Bruch ergibt sich nicht bloß daraus, dass wir es in Lost River mit einer weiblichen Hauptfigur zu tun haben, denn auch Billy wird einerseits auf doppelte Weise als „sexual object“ (Mulvey, S. 19) dargestellt, „as erotic object for the characters within the screen story, and as erotic object for the spectator within the auditorium“ (a.a.O., S. 20): „I know you want this dick/ She gonna have this dick“ (LR: 80:48 min.) sagt Dave zur in der „shell” eingesperrten Billy.
Doch behandelt Dave sie bis zum Ende als passives Sexualobjekt – man beachte die verdinglichende Veränderung von „you“ zu „she“ – ermöglicht Lost River dem Rezipienten andererseits den Bruch mit Dave durch einen reflexiven Blick auf die voyeuristisch-kinematographische Struktur, die hier aus ihrer Latenz herausgeführt wird. Diese funktioniert nämlich „nur solange, wie das Filmbild die Illusion erwecken kann, an einem Geschehen anderer teilzunehmen, die in einer geschlossenen Welt leben, in die ich zwar hineinsehen kann, aber die nicht zurücksehen können.“ (Koch, 1995, S. 221)
Nicht nur blickt Billy zurück und bringt dadurch die Frage „wer ist Subjekt und wer Objekt des Blickes“ (ebd.) ins Wanken, sondern sie begeht aktiv einen Akt der Selbst-Entsexualisierung, bricht ihre Performance doch mit einem „Tabu […] das bis in die Gegenwart hinein kaum seine Wirkung verloren hat“ (Benthien, 2001, S. 97): die Darstellung der enthäuteten Frau. Billys ausgestellte, den erotischen Blick spiegelnde Selbstenthäutung lässt sich als „Allegorie der Selbstbefreiung“ (a.a.O. S. 21) lesen, gilt als das kulturell „durchgehende Muster“ (a.a.O., S. 101) laut Claudia Benthien doch:
„Die enthäutete Frau […] ist keine Frau mehr. Weiblich ist nur der schlammig-dunkle Nährboden in den Tiefen des Leibes oder die glatte, schöne Hülle-Fassade, die diesen Leib umgibt, nicht jedoch die kraftvoll-vitale, aber profane Zwischenschicht aus Muskeln und Gewebe“ (ebd.)
Während diese Zwischenschicht nämlich „männlich kodiert“ (a.a.O., S. 98) ist, wird gerade die „weibliche Haut als verbergender Schleier verstanden. Eine ‚Entkleidung‘ der Frau aus ihrer Haut würde den Mythos des Andersseins grundlegend zerstören“ (ebd.).
Vor diesem Hintergrund ist es nur konsequent, wenn es gerade nicht die objektivierenden Augen von Dave sind, die Billy aussticht, was geradezu eine Restabilisierung der voyeuristischen Begehrensstruktur wäre, sondern Daves Ohr. Billys anschließende Flucht aus dem Fetischkeller lässt sich gleichzeitig als visualisierte Flucht aus jenen Formen verstehen, in dem die Filmtheorie durch die psychoanalytische Dominanz der „70er Jahre eingekesselt ist: der nämlich der Psychologisierung der Filmtheorie durch die Hinzuziehung der Psychoanalyse“ (Koch, S. 221). Und nicht nur die Filmtheorie, sondern auch der Film, der diese Formen im Moment seiner Reflexion noch reproduziert. Schließlich überrascht diese Konstellation heute mit Blue Velvet im Gepäck keinen mehr, ist das Voyeurismus-Paradigma in Lynchs Film doch zentral (vgl. dazu Seeßlen, S. 80-101).
III
Billys Angriff gilt stattdessen Daves rechtem, nicht ganz taubem Ohr. Dieser Akt indiziert die allegorische Lesart des Shell Game (LR: 79:02 min.) – um mit dem Namen des Songs zu sprechen, der das Finale begleitet –, denn er verschiebt den Fokus auf das Verhältnis von Ton und Körper, Auditivem und Haptik. Das Finale spielt mit der Unmöglichkeit eines haptisch Werdens des Filmbildes selbst.
Wie gezeigt, wird der Rezipient durch die Desavouierung des Tons auf die Körperbilder verwiesen, die aber eine problematisierende Reflexion erfahren. Von Mimikry der rezipierten Körperschändungen kann beim begeisterten Publikum keine Rede sein, geschrien wird höchstens vor Freude. „Powerful as the sensations […] might be, we may only be beginning to understand how they are deployed in generic and gendered cultural forms” (Williams, S. 12), gibt Williams nach ihrer Absage an die Nachahmungstheorie zu bedenken. Vom „actual physical jolt“ (a.a.O., S. 2) kann hier nur im übertragenen Sinne die Rede sein.
Anders verhält es sich beim Ton, dessen „taktile und haptische Qualitäten“ (Elsaesser/ Hagener, S. 173) den Zuschauerkörper berühren und so gerade die okularzentrische, entkörperlichte Distanz unterminieren. Wir erinnern uns an Doanes Aussage „[that, M.B.] sound is not ‚framed‘ in the same way as the image. In a sense, it envelops the spectator” (Doane, S. 166). Wolfgang Hannemann beobachtet genau dies, wenn er zum Soundtrack von Lost River schreibt:
„Auch untermalende Songs der 1950er verbinden Gosling mit Lynchs Universum. Dazu gesellt sich ein Sounddesign, das diese Bezeichnung mehr als verdient: Oft sind Dialoge von den Bildern entkoppelt, hüllen Klangatmosphären die Zuschauer komplett ein, wobei die Musik eine tragende Rolle spielt“ (Hannemann, 2015).
Der Soundtrack von Lost River wurde vom Multi-Instrumentalisten Johnny Jewel kreiert und enthält neben den Oldies sowohl ältere als auch eigens für Gosling komponierte Songs seiner Bands Glass Candy, Chromatics, Desire, und Symmetry. Die überwiegend instrumentalen, für Jewel typisch minimalistisch gehaltenen Synthie-Sounds erklingen größtenteils aus dem Off, so auch das instrumentale, basslastige Shell Game von Glass Candy, dessen „tiefen Töne“ (Elsaesser/ Hagener, S. 184) wir am Kulminationspunkt des von Dave intendierten Gewaltaktes „am eigenen Leib spüren“ (ebd.). Beim Kupferwettkampf zwischen Bully und Bones im ruinösen Detroit hallen die harten, metallischen Industrialklänge von Carousel in den Kinoraum; bei der einzigen Szene wiederum, die einen Moment körperlicher Intimität aufgrund von Zuneigung präsentiert –Rat und Bones tanzen auf der Bühne einer verlassenen Schulaula – ist es der gleichmäßige Bass vom Chromatics-Song Yes (Love Theme From Lost River).
Der bereits verhandelte Oldie Deep Purple stiftet nicht nur in der kontrastreichen Eingangssequenz den Bezug zu Blue Velvet, sondern fungiert wie Bobby Vintons Blue Velvet bei Lynch als eine Art Leitfaden, der den Zuschauer bis zum Ende führt. Auch Deep Purple läuft – als Instrumentalversion – in Daves Nachtclub. Während der Song in Blue Velvet von Dorothy Vallens (Isabella Rossellini) auf einer Bühne gesungen wird, die dabei von blauem Neonlicht bestrahlt wird, ist es violettes Neonlicht, das den abgedunkelten Fetischkeller in Lost River ausleuchtet und alles Deep Purple schimmern lässt. Vallens trägt einen Bademantel aus blauem Samt als sie in ihrem – im „Deep River“ Wohnkomplex liegenden – Apartment vom Voyeur Jeffrey beim Sexualakt beobachtet wird. Bei Gosling ist es die hautenge „shell“, die in tiefes lila gehüllt ist. Wir sind es, die den Akt zwischen Billy und Dave beobachten, durch die erfolgten Reflexionen auf unseren Beobachterstatus allerdings in Distanz zum begehrenden Blick des Antagonisten Dave.
Bevor Shell Game von Glass Candy aus dem Off losbricht und Dave einen bizarren Balztanz hinlegt, sagt eine Computerstimme „Please enjoy and play safe“ (LR: 79:19 min.). Eine erneute Aktivierung des Kinodispositivs, schließlich „[…] gestattet die Distanz, die tatsächliche und metaphorische Entferntheit von den Vorgängen im Film, dem Zuschauer im Kino ein sicheres Betrachten, ein Gefühl, das durch die schützende Dunkelheit des Kinosaals noch befördert wird“. (Elsaesser/ Hagener, 2013, S. 24)
Mulveys Paradebeispiel für den voyeuristischen Kinoblick ist Alfred Hitchcocks Rear Window (1954), der als „metaphor for the cinema“ (Mulvey, S. 24) gilt (vgl. Mulvey, S. 22ff; vgl. auch Elsaesser/ Hagener, S. 23f.), obwohl oder vielleicht gerade weil Hitchock den voyeuristischen Blick nicht in der Latenz verbirgt, sondern explizit verhandelt. Beachtet man, dass Jeffrey, die Hauptfigur von Rear Window-Fan David Lynch (vgl. Lynch, 2007), Namensvetter von Hitchocks Hauptfigur Jeffries (James Stewart) ist, dann lässt sich eine Steigerung von Passivität zu Aktivität in der Konfiguration des selbstreflexiven Voyeurismus-Paradigma konstatieren: Während der Fotograf Jeffries, aufgrund eines Gipsbeines zur Passivität verdammt, an seinen Rollstuhl resp. Kinosessel gefesselt ist und sich die Beobachtung des vermeintlichen Mordfalls eher zufällig dadurch ergibt, dass er aus Langeweile seine Nachbarschaft beobachtet, ist sein Namensvetter Jeffrey in Blue Velvet mobil: aktiv dringt er in das Apartment der Sängerin Dorothy ein, wo er sich im Schrank versteckt, um anschließend dem passiven Voyeurismus zu frönen, der ihm einen ödipal konnotierten Sexualakt zwischen Dorothy und Frank bietet. In Lost River forciert Nachtclubbesitzer Dave zunächst aktiv die Einstellung Billys, um sie dann im Fetischkeller zu vergewaltigen.
Die voyeuristische Grundkonstellation von „sehen, ohne gesehen zu werden“ (Seeßlen, S. 94) ist hier zwar in Auflösung begriffen, insofern Dave vor Billy auftritt, doch zeigt eine subjektive Kamera aus der „shell“ ein unscharfes Bild, während in umgekehrter Richtung Billy für Dave vergleichsweise klar zu sehen ist. So wie es die Leinwand im Kino ist, welche die intradiegetische von der extradiegetischen Welt unterscheidet und dem Rezipienten das distanzierte Seherlebnis ermöglicht, ist es die „shell“, die Billy und Dave voneinander trennt. Dieser schützende Abstand ist es, der die Berührung zwischen Dave und der in der engen Plastikschale zum „sexual object“ (Mulvey, S. 19) stilisierten Billy verhindert.
Während der konstitutive Abstand zwischen Rezipient und Rezipiertem normalerweise gewahrt wird, wie Billy von Cat bei einer ersten Inspektion der „shells“ versichert wird, hat Dave jedoch eine Fernbedienung, mit der sich die „shell“ öffnen lässt. Dave ist der Rezipient, welcher seiner distanzierten Position überdrüssig ist, er forciert die Öffnung und Überwindung der Leinwand, um das Gesehene zu berühren. Billy zückt ein Messer, die Schell öffnet sich – und das aus dem Off ertönende Shell Game hört auf. In dem Moment, in dem sich die Leinwand öffnet und das Bild taktil wird, sticht es nicht das visuelle, sondern das auditive Organ aus (Abb. 8). Das rezipierte Bild negiert den Ton und reklamiert die Möglichkeit der haptischen Erfahrung für sich, eine visuelle Selbstermächtigungsgeste, ist das Haptische doch eigentlich das Gebiet des Tons.
Gleichzeitig restabilisiert Billys Attacke die okularzentrische Distanz zwischen Rezipient und Rezipiertem, welche durch das die Distanz unterminierende Ohr gefährdet wird. Während das „als aktives Sinnesorgan“ (Bullerjahn, 2014, S. 108) geltende Auge sich durch seine „Beweglichkeit sowie seine Verschließbarkeit“ (ebd.) den Eindrücken, die auf es einwirken, bewusst verweigern kann, gilt das gerade für das Ohr nicht: „Das Ohr ist beim Menschen ein eher passives Sinnesorgan, da es weder auf den Entstehungsort eines Geräuschs ausrichtbar noch verschließbar ist“ (a.a.O., 2014, S.103). Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, wenn Seeßlen mit Bezug auf den Sound und das abgeschnittene Ohr in Blue Velvet schreibt:
„Wie wir aus den vorherigen [vor Blue Velvet, Hinzufügung M.B.] Filmen Lynchs wissen, ist das Ohr das archaischere und ungeschütztere Organ als das Auge; von Ohr über das Auge […] geht eine Reise, eine Bewegung der Zivilisation […]“ (Seeßlen, 2007, S. 87).
Billys Messerstich in Daves Ohr stellt als die sinnbildliche Zerstörung des ‚archaischen‘ Tons die ‚zivilisierte‘, okularzentrische Distanz des Visuellen wieder her. Diese Archaik des Ohrs drückt sich in Lost River nicht zuletzt dadurch aus, dass sich die haptische Macht des Tons über den Körper noch im Moment seiner Negation erhält: schließlich wird der Zugriff auf Billys Körper gerade durch eine Verbindung von Taubheit und Sprachlosigkeit justiert.
Mit Blick auf die Chronologie jedoch, in welcher Billys Racheakt gezeigt wird, überführt Lost River die scheinbar klare Selbstinthronisierung des Bildes wiederum in Unbestimmtheit und schickt die Auseinandersetzung zwischen Bild und Ton in die nächste Runde: Wir sehen nämlich Billy das Messer zücken, die „shell“ sich öffnen, hören, das Shell Game aufhört und sehen anschließend Billys Flucht aus den Gängen. Den eigentlichen Stich in Daves Ohr jedoch sehen wir erst in einer Rückblende, als Billy bereits im sicheren Taxi sitzt. Erst nachträglich also füllt Lost River die Leerstelle, die zwischen der Öffnung der „shell“ und Billys Flucht liegt, mit der Gewaltattacke aufs Daves Ohr.
Der Unabschließbarkeit des Ohrs wird folglich Rechnung getragen und der Ton reanimiert, denn aus dem Off erklingt, zunächst kaum vernehmbar, mit steigernder Lautstärke Johnny Jewels Ascension. Ob es sich bei dieser Rückblende um eine zuverlässige Erinnerung von Billy handelt, oder nur um einen imaginativen Racheakt, das lässt Lost River offen –
Through the mist of a memory, here in our deep purple dreams.
Quellenverzeichnis
Abbildungen
Abb. 1: still aus: Lost River, Tiberius Film, 2015.
Abb. 2: still aus: Lost River, Tiberius Film, 2015.
Abb. 3: „Lost Place” Belle Island.
Auf: https://c2.staticflickr.com/6/5466/7085895565_2fae428c4d_b.jpg
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Abb. 4: still aus: Lost River, Tiberius Film, 2015.
Abb. 5: still aus: Lost River, Tiberius Film, 2015.
Abb. 6: Billys Show
Auf: https://pbs.twimg.com/media/CGlZcoFXIAAOMvV.jpg [Link erloschen]
[Zuletzt aufgerufen am 11.03.2016]
Abb. 7: still aus: Lost River, Tiberius Film, 2015.
Abb. 8: still aus: Lost River, Tiberius Film, 2015.
Literatur
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Schweizerhof, Barbara: Überflieger Ryan Gosling sorgt für Reinfall in Cannes, abendblatt.de, 2014.
http://www.abendblatt.de/vermischtes/article128256421/Ueberflieger-Ryan-Gosling-sorgt-fuer-Reinfall-in-Cannes.html [Letzter Aufruf am 11.03.2016]
Westphal, Sascha: Kritik zu Lost River, epd-film.de, 2015.
http://www.epd-film.de/filmkritiken/lost-river [Letzter Aufruf am 11.03.2016]
Videos
“Glass Candy Shell Game – Lost River Scene”:
https://www.youtube.com/watch?v=1N7LVbodIcc [Letzter Aufruf am 22.03.2016]
“Lost River – Official Trailer”:
https://www.youtube.com/watch?v=H8ngDiG9V8w [Letzter Aufruf am 22.03.2016]
Lynch, 2007:
„David Lynch Favorites Movies and FilmMakers“
https://www.youtube.com/watch?v=G1s7EwOeowU#t=21 [Letzter Aufruf am 11.03.2016]
Schmitt, 2015:
„LOST RIVER – Kritik & Analyse zum Regiedebüt von Ryan Gosling“
https://www.youtube.com/watch?v=EMWdEm0AdhM [Letzter Aufruf am 11.03.2016]
Musik
Johnny Jewel – Ascension
https://www.youtube.com/watch?v=MCr3r13izVo&index=22&list=PLNqUrPN0FE4an4kewg1Ob5LsdFz4qPfc7IE.AssocFile.HTM\Shell\Open\Command [Letzter Aufruf am 22.03.2016]
Larry Clinton feat. Mary Dugan – Deep Purple:
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