Beginn unserer neuen monatlichen Reihe zu »Social Media«
Inverse Pathosformeln. Über Internet-Meme
Mit Internet-Memen ist in den letzten Jahren ein Phänomen in den Social Media entstanden, für das es zwar historische Vorläufer geben mag, das aber in Charakter und Intensität Formen angenommen hat, die zu einer gänzlich neuen Bildpraxis führen.
Als These sei im Folgenden dargelegt, dass Meme dazu dienen können, emotional vereinnahmende, besonders präsente und berühmte Bilder durch Parodien zu verarbeiten. Die Entwicklung und Verbreitung überraschender Varianten erlaubt eine Distanzierung und Entlastung. Sofern sie den Sinn des Vorbildes zunichtemachen, haben Meme in ihren Variationen oft sogar eine ikonoklastische Dimension.
Die Rede von Internet-Memen ist – etwas fragwürdig – von Richard Dawkins abgeleitet, der 1976 den Begriff ‚Mem‘ als Evolutionsbiologe prägte: Im Unterschied zu einem Gen ist ein Mem keine biologisch vererbte Information, sondern wird über kulturelle Artefakte gefasst und weitergegeben. Meme sind Bewusstseinsinhalte wie Ideen oder Bildmuster, die viele Menschen zugleich oder nacheinander prägen.
Dank der Etymologie lässt sich bei ‚Mem‘ (von lat. memoria, gr. mneme) auch an Aby Warburgs Mnemosyne-Atlas denken, und in einem ersten Impuls könnte man versucht sein, in Internet-Memen eine Bestätigung seiner Theorie der Pathosformeln zu sehen. Bei diesen handelt es sich um Gesten und Posen, die so stark wirken, dass sie immer wieder neu aufgegriffen und in Variationen verbreitet werden, also ihrerseits prägende Kraft besitzen und daher Motor und Medium soziokultureller Evolution sind.
In seinem Mnemosyne-Atlas begann Warburg in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts einige dieser Pathosformeln zu sammeln. Er wollte demonstrieren, wie sie sich ausgehend von der Antike über die Renaissance bis in die Gegenwart fortgepflanzt und gehalten haben. Dank der Distribuierungsmechanismen des Internet wie auch mit Hilfe von Bildsuchprogrammen könnte Warburg das Material für seinen Atlas heutzutage ungleich schneller und vielleicht sogar zuverlässiger zusammenbekommen.
Allerdings besteht ein wichtiger Unterschied zwischen Pathosformeln und Internet-Memen. Während sich jene nämlich ganz ernsthaft tradieren, haben diese immer einen parodistischen, verfremdenden oder gar entstellenden Charakter. Zwar hat Warburg auch zu zeigen versucht, dass eine Pathosformel eine Umcodierung erleben kann und ihr Ausdruckssinn dann geradezu ins Gegenteil verkehrt wird, doch wird die Formel bzw. das Motiv dabei immer noch ernst genommen, die Bedeutung nicht ins Absurde gezogen, geschwächt, zerstört.
Die Varianten eines Internet-Mems schaffen hingegen eine Distanz zum ursprünglichen Sujet; es soll nicht länger emotional vereinnahmen. Bilder, die im Kopf herumspuken, werden also abreagiert, was die Wirksamkeit eines Motivs unterläuft und so die Fortpflanzung einer Pathosformel gerade infrage stellt.
Meme betreffen oft aktuelle Ereignisse von großer emotionaler Bedeutung, die in einem Bild kondensieren. Zu einem Mem wurde z.B. das (einzige) Foto des ‚Situation Room‘ , das Vertreter der US-Administration während der Exekution von Osama Bin Laden am 1. Mai 2011 zeigt. Mit diesem Bild wird der Rezipient zum Voyeur und damit indirekt sogar zum Komplizen gemacht; er kann Mächtige in einem für sie prekären Moment beobachten und ein Gefühl von Teilhabe entwickeln, wodurch die Distanz zum Geschehen verlorengeht, es gar zu einer Identifikation mit den Mächtigen und ihrem Vorgehen kommt.
Doch bleibt dem Betrachter des Fotos vorenthalten, was die Mächtigen sehen und was sie in den Bann zieht. Einige Mem-Varianten des Fotos erweitern das Spektrum der Protagonisten um Prominente der US-Geschichte, von Michael Jackson bis Bob Ross, aber gerade auch mit Comedians oder Werbefiguren, die die Atmosphäre des Bildes verändern. [Abb. 1]
In anderen Varianten geht es darum, die Szene ins Absurde zu ziehen. Alle Parodien aber zerstören den ursprünglichen Sinn und Charakter des Bildes, sie setzen keine andere Bedeutung an die Stelle, bewahren das Motiv also nicht, sondern entlasten sich von ihm und seiner möglichen emotionalen Wirkkraft.
Könnte man in diesem Fall davon sprechen, dass ein latent aggressives, auf jeden Fall aber vereinnahmendes Ausgangsbild durch die Mem-Varianten entschärft wird, ist manchmal auch das Gegenteil zu beobachten. Die Varianten sind polemisch-destruktiven Charakters, gerade damit aber wird wiederum eine emotionale Entlastung erreicht.
Als der italienische Nationalspieler Mario Balotelli im Halbfinale der Fußball-EM 2012 gegen Deutschland zwei Tore geschossen hatte, jubelte er nicht etwa, sondern überraschte mit leicht angewinkelt nach unten gehaltenen Armen. Statt von Mitspielern umringt zu sein, hatte er viel Raum um sich, so als gebiete seine Geste Abstand oder sei sogar gefährlich.
Zu diesem Eindruck mochte auch sein muskulöser nackter Oberkörper beitragen. Manche aber erkannten in der Pose, die im Nu als Foto um die Welt ging, nicht zuletzt eine politische Aussage: Die Arme sähen wie im Kampf gegen Fesseln aus, ja Balotelli, selbst Schwarzer, wolle gegen die Unterdrückung seiner Ethnie protestieren und die Tore zum Symbol für die Gleichberechtigung der Rassen erklären.
In zahlreichen Varianten, die das Bild im Internet erfuhr und zum Mem werden ließen, reagierten jedoch vor allem deutsche Fußballfans ihren Frust darüber ab, dass ihr Team wegen der beiden Tore aus dem Turnier ausgeschieden war. Ihnen ging es darum, Balotellis Geste lächerlich zu machen und den in Szene gesetzten muskulösen Körper zu konterkarieren. [Abb. 2]
Entweder machte man Balotelli mit zusätzlichen Accessoires auf dem Platz zur peinlichen Figur oder montierte ihn in andere Kontexte ein, die seinen Charakter ebenfalls möglichst stark verändern sollten. Indem er als Ballerina oder brunftiger Macho sexualisiert wurde, geriet Balotelli ebenso zum Opfer rassistischer Klischees wie in Parodien, in denen man ihn zum primitiven Stammeshäuptling degradierte.
Dutzende aggressiver Variationen hatten schließlich zur Folge, dass die ursprünglich starke Geste entwertet wurde. Hier gelang es einem Kollektiv von Usern, die Bedeutung des ersten Bilds zu destruieren, zugleich aber, sich mit einer Spielart symbolischer Rache von den negativen Emotionen zu befreien, die das im Ausgangsbild verkörperte Ereignis bei ihnen ausgelöst hatte.
Ein anderer Typ von Mem betrifft keine Medienbilder, sondern Werke aus dem Kanon der Kunstgeschichte. Doch auch hier geht es darum, mit parodierenden Varianten Abstand zu gewinnen – diesmal zu etwas, das für hochkulturelle Bildung steht und Ehrfurcht gebietet. Nicht selten kommen durch Internet-Meme sogar Ressentiments von Menschen zum Vorschein, die selbst in keinem Näheverhältnis zur Kunst stehen, sondern sich von dieser als elitär empfundenen Welt ausgeschlossen fühlen. Sie leben mit dem Verdacht, selbst zu wenig zu wissen oder zu unsensibel zu sein, um der Sinndimensionen der Kunst teilhaftig werden zu können. Eingeschüchtert von der Kunstgeschichte erkennen sie deren Bedeutung zwar an, suchen aber zugleich nach einer Befreiung von bildungsbürgerlichen Ansprüchen. Entsprechend entlastend wirkt auf sie eine Parodie, die ein Werk ins Absurde verwandelt, jegliche Sinnansprüche also gerade unterläuft.
Im Netz konzentriert sich der Austausch von Parodien auf relativ wenige Werke – von Botticellis Venus und Leonardos Mona Lisa bis zu Munchs Schrei und Hoppers Nighthawks [Abb. 3] –, deren kanonischer Status durch jede Variation zugleich weiter bekräftigt wird (weshalb die Parodien nicht nur entlastend wirken, sondern indirekt nochmals neuen Druck aufbauen). Gerne werden klassische Bildmotive auch vermischt, die Parodie besteht dann in einem semantischen Clash. In jedem Fall aber besteht das Ziel darin, über etwas zu lachen, auf das sonst mit großem Ernst geblickt wird.
Das Spiel der Parodien verselbständigt sich jedoch schnell und häufig; dann will man wechselseitig eher Schlagfertigkeit und Humor unter Beweis stellen als sich noch von bildungsbürgerlichen Imperativen befreien. Ein Internet-Mem ist also häufig auch als Abfolge kommunikativer Akte zu begreifen, mit denen die Akteure ihren eigenen sozialen Status innerhalb einer Community der Social Media stärken oder sichern wollen.
Wie in einer größeren Runde von Menschen Macht signalisiert, wer andere zum Lachen bringen kann, so ist es hier die Zahl an Reblogs sowie der ausgelösten weiteren Varianten, woran sich Wichtigkeit und Autorität festmachen lassen. Die Referenz für eine Bildvariante ist dann nicht mehr der Kanon der Kunstgeschichte oder ein emotionalisierendes Foto, sondern es sind bereits vorhandene andere Varianten. Die jeweilige Parodie wird kommentiert, gesteigert, gebrochen oder ihrerseits parodiert.
Auch in der Kunst selbst kursieren, zumal in der Moderne, zahlreiche Parodien. Der Unterschied zwischen z.B. Marcel Duchamps verfremdeter Mona Lisa und heutigen Internet-Parodien desselben Gemäldes [Abb. 4] besteht jedoch darin, dass Künstler sich vom Kanon der Kunstgeschichte emanzipieren wollen, um selbst an einem neuen Anfang stehen zu können, es bei Internet-Memen hingegen eher um Lockerungs- und Entspannungsübungen geht und ein anderes als nur demütiges Verhältnis zu einem berühmten Vorbild möglich werden soll.
In der vormodernen Kunst waren allerdings andere Reaktionsweisen auf bereits vorhandene Werke üblich; statt des Prinzips der Parodie gab es das der ‚aemulatio‘, also eines Wettstreits mit dem Urheber des Vorbilds. Dass ein Rubens versucht hat, sich an Tizian zu messen und ihn zu steigern und zu aktualisieren, indem er dessen Bilder in seinem eigenen Stil wiederholte, steht der Logik von Internet-Memen insofern näher als den antitraditionalistischen Parodien der Moderne, als auch damals eine Bildvariante als gewitzte Antwort, als Part innerhalb eines Dialogs (über Zeiten und Generationen hinweg) begriffen wurde.
Rubens wollte Tizian gerade nicht entkräften, die ‚aemulatio‘ stellte vielmehr eine Art von Würdigung dar. Internet-Meine ähneln allerdings zumindest so lange den ikonoklastischen Praktiken der Avantgarde, als sie sich noch nicht verselbständigt haben und einen direkten Angriff auf ein als übermächtig empfundenes Vorbild darstellen.
Wie stark Entlastungsbedürfnisse gerade gegenüber der Kunstgeschichte bestehen, wurde am anschaulichsten im Sommer 2012, als das Bild eines Jesus-Freskos aus einem kleinen Ort in Spanien um die Welt ging, das von einer gläubigen alten Frau, die seinen Zustand als zu schlecht empfand, völlig laienhaft restauriert und dabei grotesk entstellt wurde.
Diese Entstellung wurde in zahlreichen Varianten eigens herauskopiert und intensiviert, wobei es nie darum ging, blasphemische Fantasien auszuleben; vielmehr erfreute man sich am unfreiwillig ikonoklastischen Charakter des Restaurierungsversuchs. Verrät dies bereits ein Bedürfnis nach Distanzierung von einer bedeutungsschweren Hochkultur, so steigert sich dies bei Mem-Varianten, bei denen der Kopf oder einzelne morphologische Eigenschaften davon in andere Kunstwerke eingesetzt wurden. Diesen Werken wird sekundär damit dasselbe angetan, was dem Fresko widerfahren ist: Man gibt sie der Lächerlichkeit preis. [Abb. 5]
Soweit ihnen eine ikonoklastische Dimension eignet, sind Internet-Meme nicht nur keine Pathosformeln, sondern stellen sogar deren Inversion dar. In den parodistisch-aggressiven Varianten wird markiert, was gerade nicht tradiert werden, nicht länger wirksam bleiben soll. Dass Bilder im Internet infolge der optimierten Verbreitungsmöglichkeiten schneller und stärker zur Obsession werden können als in herkömmlichen Medien, lässt auch das Bedürfnis akuter werden, sie wieder loszuwerden. Internet-Meme sind insofern Selbstreinigungsinstrumente.
Allerdings ist der Begriff ‚Mem‘ dann wirklich fragwürdig. Da es gerade nicht darum geht, etwas, das ohnehin schon herumspukt, noch tiefer im (kollektiven) Gedächtnis zu verankern, sondern es viel eher loszuwerden, sollte man lieber, angeregt vom Begriff der Amnesie, den Begriff ‚Internet-Amnem‘ verwenden.
Wolfgang Ullrich ist freier Autor.