Das Game-over-Game: Ein Rückblick auf Yanis Varoufakis
von Jochen Venus
11.10.2015

Massenmediale Form

[zuerst veröffentlicht in: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 7, Herbst 2015, S. 10-15]

Am 6. Juli 2015 hat Yanis Varoufakis eine der erstaunlichsten Politkarrieren beendet, die man in der letzten Zeit beobachten konnte. Mit seinem Rücktritt vom Amt des griechischen Finanzministers ging eine Karriere zu Ende, die mit den Begriffen der modernen Politik nicht beschrieben werden kann. Varoufakisʼ kurze Amtszeit amalgamierte das Politische mit Motiven der Popästhetik, der virtuellen Sozialität und der Welt digitaler Spiele.

Von diesen Motiven her muss sie verstanden werden. Kein pathetisches Grundbekenntnis bildete ihre Basis. Kein mühevoller Aufstieg, kein tragischer Fall lässt sich nacherzählen. Schon gar nicht passt Varoufakis in die illustre Reihe politischer Genies und Helden, Schurken und Gigantomanen, an welcher die Massenmedien das politische Personal messen. Eine ganz neuartige Plakativität und On/Off-Schaltung politischer Prominenz war hier zu beobachten, die nicht narrativ und dramaturgisch funktionierte, sondern ludisch und simulativ. Als bewege er einen künstlich hochgelevelten Avatar seiner selbst, betrat Varoufakis die Bühne der mediatisierten Politik. Und als sei nichts gewesen, hat er diese Bühne wieder verlassen. Game over. Restart.

Den politischen Institutionen ist Varoufakis, trotz seines Amtes, fremd geblieben, ihre soziale Geltungskraft hat er kaum tangiert. Beurteilt man den Sachverhalt aus institutioneller Perspektive, ist Varoufakis amateurhaft gescheitert. Jenseits dieser Perspektive aber, vom Standpunkt des Publikums aus betrachtet, konnte Varoufakis einen demonstrativen Erfolg verbuchen. Denn die Institutionen moderner Politik sind für das Publikum seit langem schon unverständlich geworden. Die politische Entscheidungslogik orientiert sich heute kaum mehr an fachlich zu rechtfertigenden Sachzielen, sondern an der Pragmatik begrenzt haltbarer Kompromissformeln, die kaum jemand noch im Ernst für überzeugend hält. In diesem Kommunikationsumfeld einer generalisierten Polit-Skepsis lässt sich politisches Charisma (nach Maßgabe des Publikums) u.a. dadurch erarbeiten, dass man die politischen Institutionen nötigt, einen zum Rücktritt vom Amt zu nötigen. So deutlich wie im Fall Varoufakisʼ ist diese Figur noch nie zu beobachten gewesen.

Vielleicht bleibt seine Karriere eine historische Singularität, den ungewöhnlichen Umständen der europäischen Währungsunion und der griechischen Staatsfinanzkrise geschuldet. Vielleicht ist sie aber auch eine historische Erstmaligkeit, mit deren Form auch weiterhin zu rechnen sein wird. Für Letzteres spricht, dass Yanis Varoufakis eine Intellektualität verkörpert, die durch die neuen Kommunikationsverhältnisse des Online-Daseins hervorgebracht worden ist – und dass es genau diese Intellektualität war, die ihn ins Amt gebracht hat. Seinesgleichen könnte noch öfter zu bestaunen sein.

Fünf Monate vor seinem Rücktritt war Yanis Varoufakis, politisch notorisch ungebunden und unerprobt, von Alexis Tsipras, dem frisch gewählten Ministerpräsidenten der hellenischen Republik und Vorsitzenden des linksradikalen Parteienbündnisses Syriza, ins Amt berufen worden. Varoufakis sollte auf internationaler Ebene Syrizas Wahlversprechen verwirklichen, die von der Vorgängerregierung vereinbarte Austeritätspolitik zu stoppen. Die Austeritätspolitik war von der europäischen Kommission, dem internationalen Währungsfond und der europäischen Zentralbank als Bedingung gesetzt worden, unter der man das griechische Bankensystem vor dem Kollaps und also das griechische Gemeinwesen vor der Katastrophe bewahren würde. Aus griechischer Perspektive das ›second-worst-case scenario‹: Zwar wurde so die Zahlungsfähigkeit des griechischen Staates von außen gesichert, zugleich aber das griechische Wirtschaftsleben abgewürgt. Damit war kaum den Griechen, umso mehr aber den Gläubigern Griechenlands geholfen. Eine skandalöse Priorisierung des Gläubigerschutzes zu Lasten der griechischen Bevölkerung und – mittelbar – auch zu Lasten der europäischen Bürger, welche das Risiko für diese Politik zu tragen hatten.

Varoufakis schien die ideale Besetzung zu sein, um diese Politik zu desavouieren: Als Professor für ökonomische Theorie verfügte er über die fachliche Reputation und als höchst erfolgreicher Bestseller-Autor und anglophoner Blogger über die medialen ›skills‹ und die Reichweite, die wirtschaftspolitische Unzweckmäßigkeit der Austeritätspolitik verständlich zu begründen und weltöffentlich zu skandalisieren. Massenmedial ist das gelungen – politisch ist es gescheitert.

Der massenmediale Erfolg beruhte auf Varoufakisʼ äußerst engagierter Funktionalisierung aufmerksamkeitsökonomischer Mechanismen. Geradezu schamlos bespielte er vor den Kameras der Welt die popästhetisch längst klischierten, aber in dieser Form immer noch aufmerksamkeitsträchtigen Ikonografien kognitiver Zielsicherheit, überlegener Physis und lässiger Coolness. Auf diese Weise generierte er allein in seinen ersten 30 Amtstagen 40 Interviewtermine. Den Adlerblick von untenher ins Auge des Betrachters, auf der Yamaha XJR 1300 ins Ministerium, lässig, sexy, durchtrainiert, ohne Krawatte (!) und mit hochgeschlagenem Sakkokragen (!) in die Ministerrunde: In dieser kontextuell rebellisch und spektakulär wirkenden Pose gewannen die Argumente für eine Ablehnung der Austeritätspolitik ein mediales Airplay, das ohne den ästhetischen Überbau, allein auf der Basis von Sachkenntnis und Eloquenz, wohl kaum zu produzieren gewesen wäre. Die popästhetische Klischeegestalt funktionierte wie ein trojanisches Pferd – die Massenmedien mussten nach ihren Selektionskriterien des Berichtenswerten auf sie anspringen. Selbst wenn sie den diskursiven Gehalt der Positionen Varoufakisʼ ignorierten und sich ›kritisch‹ auf die ›ungebührliche‹ Form konzentrierten, produzierten sie dadurch ihrerseits ein öffentliches Ereignis, das massenmedial thematisierbar war.

Seinen spektakulärsten Ausdruck fand dies in der öffentlichen Ereignisfolge, die unter dem Twitter-Hashtag #Varoufake in die Mediengeschichte des Internets eingehen wird. Das Team der satirischen Late-Night-Show »Neo Magazin Royal« um dessen Moderator Jan Böhmermann hatte im Februar 2015, angesichts des Medienhypes um die Person des neuen griechischen Finanzministers, einen Popmusik-Clip mit dem Titel »V for Varoufakis« produziert, in dem dessen rebellische Superhelden-Ästhetik noch einmal überboten und, mit ihm sympathisierend, gegen das Klischee des deutschen Militarismus und Ordnungsfetischismus gesetzt wurde. Zum Schluss dieses Clips wurde eine kurze Passage aus einer Q&A-Session eingeblendet, die Varoufakis im Jahr 2013 im Anschluss an eine Buchpräsentation auf einem Politfestival in Zagreb abgehalten hatte. Nach spekulativen Betrachtungen über die Möglichkeiten eines griechischen Staatsbankrotts hatte er dort schließlich gesagt: »My proposal was that Greece should simply announce that it is defaulting – just like Argentina did –, within the Euro, in January 2010, and stick the finger to Germany and say: ›Well, you can now solve this problem by yourself.‹« Dabei zeigte er entsprechend den gestreckten Mittelfinger. – Derart auf Varoufakisʼ vermeintliche Vulgarität und Deutschenfeindlichkeit aufmerksam geworden, konfrontierte die Polittalkshow »Günther Jauch« den Minister in der Sendung vom 15. März mit dem Videomaterial, das seine vermeintlich beleidigende Geste zeigte. Varoufakis stritt, situativ überrumpelt, alles ab und bezeichnete das Material als Fälschung. – Das Team vom »Neo Magazin Royale« fertigte daraufhin eine manipulierte Version des Videomaterials an, das den gestreckten Mittelfinger eben nicht zeigte, und behauptete in seiner folgenden Ausgabe, Varoufakis habe Recht, der von »Günther Jauch« gesendete Ausschnitt sei tatsächlich eine Fälschung. Das gesamte Mediensystem reagierte wie elektrisiert; alle mussten sich zu dem Fall äußern. Für einen Moment trat die Medialität der Massenmedien, die Technizität der Produktion von Wirklichkeitsbeschreibungen, die Sensationsgetriebenheit der massenmedialen Informationsselektion und die wechselseitige Korruption antagonistischer Darstellungsinteressen grell in die Öffentlichkeit. Für einen Moment war die Differenz zwischen Politik und Massenmedien in den Massenmedien performativ markiert.

Institutionell aber hat sich Varoufakisʼ massenmedialer Erfolg als politisch nicht anschlussfähig erwiesen, weder im Regierungskontext institutionalisierter Entscheidungsverfahren noch im Parteienkontext der Organisation von Gefolgschaft. Die spektakuläre Verschleifung kommunikativer Wertsphären bot weder der radikalen Linken noch den Vertretern der europäischen Institutionen hinreichend deutliche Leitgesichtspunkte für eine Antwort. Das mediale Mash-up wirtschaftswissenschaftlicher, ästhetischer und politischer Codes, integriert im Bildstempel eines hyperfokussiert den Betrachter anblickenden Kahlschädels, war einfach nur staunenswert und nichts weiter. Sowohl in der politischen Bewegung, der Varoufakis sein Amt verdankte, als auch in den Verhandlungsrunden, an denen er von Amts wegen teilzunehmen hatte, war kein Anschluss unter dieser Nummer.

So wurde Varoufakis von griechischer Seite schließlich aus dem Verhandlungsteam genommen. Ein Zug, der seinen Rücktritt bei der nächsten passenden Gelegenheit unausweichlich machte. Varoufakis selbst hat dies verständlicherweise nicht als Effekt seiner Inszenierung, sondern als strategisch motivierte Exklusion gedeutet: Unter der konsequenten, unbedingten Führung des deutschen Finanzministers seien in den Verhandlungen Varoufakisʼ Beiträge bewusst ignoriert worden. Für seine durchdachten wirtschaftspolitischen Ausführungen habe er nur leere Blicke geerntet. »Ich hätte auch die schwedische Nationalhymne singen können.«

Das klingt nach authentischer Empörung über die Arroganz der Macht. Andererseits liegt die Absurdität, in Gremiensitzungen Grundsatzreferate halten zu wollen, auf der Hand. Es scheint, als habe Varoufakis die Form seiner massenmedialen Selbstdarstellung nicht völlig durchschaut und als habe nicht nur er diese Form, sondern umgekehrt diese Form auch ihn bespielt. Dafür spricht, dass er in seinem großen Bilanzartikel »Dr. Schäubles Plan für Europa«, der knapp zwei Wochen nach seinem Rücktritt in der »Zeit« erschien, seine popästhetisch intonierte Kritik lediglich wiederholte, als sei er selber nicht gerade eben gescheitert und als habe es keine vernichtende Niederlage der griechischen Verhandlungsposition gegeben. Situativ angemessen wäre eine Strukturanalyse der Niederlage der radikalen Linken gewesen. Aber wie ein Verschwörungstheoretiker reduziert Varoufakis das europäische Austeritätsregime auf die Absichten Wolfgang Schäubles. »Dr. Schäuble«, wie er ihn stets nennt. Eine Anspielung auf Dr. Strangelove, den an einen Rollstuhl gefesselten, verrückten deutschen Wissenschaftler aus Stanley Kubricks Nuklearkriegssatire »Dr. Strangelove or: How I Learned to Stop Worrying and Love the Bomb«.

Dass Yanis Varoufakis auf diese Weise politisch Karriere gemacht und nicht gemacht hat, dass er in der massenmedialen Beschreibung der politischen Gegenwart instantan aufleuchtete und politisch ebenso instantan ausgeknipst worden ist, dieser Augenblickscharakter seiner Karriere macht massenmediale und politische Implikationen des Online-Daseins kenntlich, mit denen wohl auch künftig zu rechnen sein wird. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich vier Aspekte thesenhaft festhalten:

  1. Globale Sinnstiftung wird einerseits zum kalkulierbaren Medien- und Diskurshandwerk, andererseits zum fakultativen Moment, das organisatorisch ausgegliedert, zugekauft und abgestoßen werden kann. Kollektiv bindende Entscheidungen sind in der Politik und generell in den Organisationssystemen formelhafter geworden, vorläufiger und vager. Sie lassen sich nicht mehr aus globalen Sinnkohärenzen rechtfertigen. Globale Sinnkohärenzen werden nur mehr fakultativ zugeschaltet. Dem entspricht ein Intellektuellentypus, der sich bereitwillig zuschalten lässt und auf Zuruf den Sound produzieren kann, der Sinn macht. Die Blogosphäre und der globale Sachbuchbestseller-Markt sind die Dispositive, in denen Personen sich in dieser Funktion ins Spiel bringen können. Organisationen zapfen die Sinnangebote und ihre Personifizierungen selektiv als Servomechanismen für ihre eigenen Selbstbeschreibungen an. Bevor Varoufakis einem Weltpublikum den Sinn der Syriza-Bewegung verständlich machte, hat er schon in ähnlicher Funktion für die Computerspielfirma Valve gearbeitet. Als »economist-in-residence« war es seine Aufgabe, dem Unternehmen Valve nach innen und außen die Aura des Bedeutsamen zu geben. Diese medien- und diskurshandwerkliche Form flexibler Sinn-Anpassung und die fakultative Nutzung globaler Sinnkohärenzen erklärt die On-/Off-Struktur von Varoufakisʼ Engagement.
  2. Das ästhetische Strukturprinzip der Popkultur wird zum generalisierten Signalement der massenmedialen Selbstbeschreibung der Gesellschaft. Die Popästhetik lehrt die Gesellschaft seit vielen Jahrzehnten, wie die reichweitestärksten Agenturen der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung aktiviert werden können, nämlich durch ästhetische Formen, deren Informationswert möglichst geringfügig konditioniert ist, die also möglichst ohne Vorwissen, ohne Funktionskontext in der Wahrnehmung überraschen und höchst Bekanntes in unbekannter Gestalt präsentieren. Es geht mithin um innovative Varianten massenmedial generalisierter Formen der Objektwelt, des subjektiven Erlebens und sozialer Standardsituationen. Wenn in diesem popkulturellen Umfeld Kommunikationsmotive darauf abzielen, Schwieriges und Voraussetzungsreiches zu thematisieren, müssen sie sich in Gestalten des überraschend Selbstverständlichen verpuppen. Diese Maßgabe scheint heute allgemein akzeptiert zu sein.
  3. Das Deutungsschema ›Handlungs(ohn)macht‹ radikalisiert sich zu einem Game over/Restart-Mythos. Politik, kollektiv verbindliches Entscheiden, muss sich in der Moderne diskursiv legitimieren. Dafür müssen massenmediale Darstellungen genutzt werden, die wiederum zwingend im Deutungsschema von Handlungsmacht bzw. Handlungsohnmacht operieren. Das Entscheiden muss als Handlungsvollzug eines Akteurs modelliert werden, der damit ein allgemein zuträgliches Ziel erreicht. Bzw. müssen vermeintliche Fehlentscheidungen als Vollzüge unzurechnungsfähiger Funktionäre skandalisiert werden. Traditionell wird Handlungs(ohn)macht im Kontext einer Erzählung modelliert, im Kontext von staatlichen Gründungsmythen, Parteigeschichten und persönlichen Berufungen, von bedeutenden Ereignissen, entscheidenden Kämpfen und fortlaufenden Traditionen. In jüngster Zeit mehren sich Modellvorstellungen, die sich eher dem Regelwerk eines begrenzten Spiels verdanken, das abgebrochen und neu aufgesetzt werden kann bzw. muss: vom globalen Klimaschutz über die Organisation politischer Ordnung bis hin zur Einrichtung von Kleinunternehmen.
  4. Die popkulturelle Mash-up-Kommunikation stellt auch die Mittel ihrer kritischen Dekonstruktion bereit. Yanis Varoufakis ist in der kollektiven Fantasie der popästhetisch interessierten Online-Kommunikation unmittelbar als popästhetisches Artefakt projiziert und remediatisiert worden, als der Lord Voldemort und Mr. Spock der Politik. Diese Dynamik, die im erwähnten Clip der Late-Night-Show »Neo Magazin Royale« ihren prägnantesten Ausdruck fand, indizierte schon früh die politische Dysfunktionalität der massenmedialen Form. Ohne solche spontan-kollektiven Remediatisierungspraktiken überzubewerten: Sie bilden ein kommunikatives Widerlager, an dem massenmediale Politstrategien ihre Funktionalität und Dysfunktionalität beobachten können.

 

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Transcript Verlags

Weitere Hinweise zum Erstveröffentlichungsort, dem Heft 7 der Zeitschrift »Pop. Kultur und Kritik«, hier