Strandprodukt
Für Hans Magnus Enzensberger gab es kein Entspannen. Zumindest nicht im Urlaub. In seiner inzwischen berühmten, bereits 1958 im Merkur veröffentlichten Theorie des Tourismus kritisierte er zunächst und mit Verve die Kritiker des Massentourismus. Wer als Tourist die Vermassung des Tourismus bemängle, fürchte letztlich nur, seine erworbene Exklusivität einzubüßen.
Vor allem aber verkenne ein solcher Kritiker, dass jeder gebuchte Urlaub nichts anderes als eine Ausweitung industrieller Produktionslogiken darstellt. Denn wer durch Fernreisen einem warenförmig zurechtgeschnittenen Alltag entkommen wolle, werfe sich freiwillig in die Arme einer noch viel perfideren Ausbeutungsmacht. Der Reiseveranstalter offeriere zwar Möglichkeiten zur Flucht aus Normierung, Montage und Serienproduktion – allerdings um den Preis, dass er nun seinerseits die Sehenswürdigkeiten der Welt normiert, Reiserouten zusammenmontiert und als Pauschalangebote zur erschwinglichen Serie ausbaut. Im Gefühl, endlich einmal raus zu kommen, Entlastung schaffen und entspannen zu können, gerate man nur noch stärker unter das Joch industrieller Herrschaftslogiken: »Der Tourismus zeigt, dass wir uns daran gewöhnt haben, Freiheit als Massenbetrug hinzunehmen.«
Freilich hat Enzensberger auf den Tourismus lediglich übertragen, was als Grundannahme marxistischer Warenkritik gilt. Seine Einwände erinnern in Anliegen und Duktus an Texte von Günther Anders oder Wolfgang Fritz Haug, zumal eine wichtige Gemeinsamkeit darin liegt, dass ihre Einwände dazu beigetragen haben, Phänomene der Alltagswelt überhaupt als Konsumleistungen erkennen zu können. Im Falle von Enzensberger betrifft dies wesentlich den in der Regel schmalen Sandabschnitt zwischen Land und Meer – dessen touristische »Brandung« besonders metaphernlastig beschrieben wird: »Gewaltig aber ist die Kraft, welche heute überall auf der Welt die Massen an den Strand ihres kleinen Urlaubsglücks wirft.«
Tatsächlich gehört der Strand zu den extrem beliebten, aber dennoch unter Verdacht gestellten Produkten von Reiseveranstaltern. Schließlich ist kaum ein anderer Ort in unserer westlichen Wohlstandszivilisation derart eng mit dem Nimbus außerräumlicher Alltagsunterbrechung versehen – und zugleich Synonym für bildungsfernen Spaß und oberflächliches Vergnügen. »Einfach mal raus, an den Strand, das Wetter genießen«, flötet es aktuell auf Tui.com. »Besonders für Familien mit Kindern bietet ein Strandurlaub die perfekte Abwechslung zum Alltag«, heißt es auf tropo.de. »Der Strandurlaub ist die Gelegenheit, völlig abzuschalten«, weiß airberlinholidays.com. Als »Flucht aus dem grauen Alltag« preist urlaub-ferien-reisen.com seine Strandangebote, mit deren Hilfe man gar seinem »grauen Einerlei« und »trostlosen Ambiente« zumindest »für eine Weile entfliehen« könne.
Hartnäckig halten sich Topoi der Flucht, des Ausbrechens und Hinter-sich-Lassens, des Aussetzens von Gewöhnlichem, ja des Erfahrens von Ungebundenheit und Spontaneität – Enzensbergers düsterste Diagnosen scheinen in Reinform belegt. Und tatsächlich: Kehrt nicht Festland und Kultur den Rücken, wer, sublime Kitschanwandlungen erhoffend, den Blick hinaus in den gleißenden Horizont des Meeres richtet?
Doch den Strandurlauber zur eingeölten Dumpfbacke abzuwerten, führt nicht allzu weit. Vor allem wird damit übersehen, dass der Strand ein Idealprodukt unserer modernen Warenkultur verkörpert. Schließlich ist er mit weitaus mehr Anforderungen, unausgesprochenen Regelwerken und kulturellen Codes versehen, als dies auf den ersten Blick erscheinen mag.
Es mag tautologisch klingen, aber der größte Vorzug des Strandes ist er selbst. Strand ist Strand, egal wo. Zwar existieren teils erhebliche Binnendifferenzen bezüglich Bodenbeschaffenheit, Umraumgestaltung, Sicherheit, Ausstattung und Witterungsverhältnisse. Doch solange die Primärqualitäten ‚Sonne oben‘ und ‚Meer vorne‘ enthalten sind, erfüllt der Strand, was von ihm erwartet wird. Die Wahrscheinlichkeit, zu bekommen, was gebucht wurde, ist beim Strandurlaub angenehm groß – was dazu führt, dass dem Strand höchste Produktverlässlichkeit zugestanden wird.
Folglich können Reiseveranstalter mit einem Strandurlaubsangebot eine ihrer größten Schwächen umgehen: nämlich die Gefahr, den Kunden an Urlaubsorte zu führen, die mit den Fotografien im Katalog allenfalls noch in entfernter Ähnlichkeitsbeziehung stehen. Legendär die Empörungsklagen entnervter Urlauber, die zwar Hochglanzluxus gebucht, letztlich aber Hochhausklötze vorgefunden haben und entsprechend urlaubsreif aus dem Urlaub zurückkehrten. Anders beim Strand, den einzelne Reiseveranstalter nutzen, um diverse Garantien (Sonne, Wasserqualität, Sauberkeit, Einsamkeit) auszusprechen: »Ob Nordsee, Ostsee oder Mittelmeer, unsere Reiseideen bieten für jeden Strandgänger das ideale Umfeld und versorgen Sie mit dem Rundum-Sorglos-Paket.«
Mit dem Anstieg der Produktverlässlichkeit schwindet die Wichtigkeit einer exakt bestimmbaren Produktlage. Zwar mag der Ort des Strandes für die nachträgliche Präsentation innerhalb des Familien- und Freundeskreises von nicht unerheblicher Bedeutung sein, lässt sich doch mit überraschend fernen, abgelegenen oder exklusiven Stränden am Urlaubsneid der anderen kitzeln. Für das Stranderlebnis an sich aber ist der jeweilige Ort vernachlässigbar. Was McDonald‘s oder Coca Cola für den Verzehr, ist der Strand für die Reise: Ein weitgehend stabiles Produkt, das an allen Orten der Welt gleich schmeckt – und nur hin und wieder mit lokalen Eigenheiten garniert wird. Ein hinzuaddiertes Regionalflair unterstreicht letztlich nur, wie universell einsetzbar – weltweit zu Hause – das jeweilige Produkt ist.
Neben seiner Globalisierungsfähigkeit empfiehlt sich der Strand vor allem durch seine Ausstrahlung über den Moment seines Konsums hinaus. So beginnt für viele der Strandurlaub bereits Monate vor der Abreise. Insbesondere auf den Körper richten sich vorbereitende Maßnahmen, wird sich doch niemand davon frei machen können, den Strandbesuch als körperästhetischen Stresstest aufzufassen. Zwar mag noch heute die eine oder andere Wampe mit männerbündisch-bierseligem Stolz herumgeschleppt werden. Doch die Gnadenlosigkeit der Blicke der anderen ist wohl nur mit dem apokalyptischen Glotzen aus Sartres Geschlossener Gesellschaft vergleichbar. Am Strand bist Du immer und ausschließlich der, zu dem Dich die Blicke der anderen machen. Wo die Hüllen fallen, weil man endlich raus ist aus dem Normsystem des Alltags, treffen einen die Blicke der kontrollierenden Beachbodys mit umso größerer Normierungslust.
Überhaupt wäre es eine Illusion, zu glauben, bei Stränden handele es sich um hierarchiebefreite Zonen. Distinktionsgebaren läuft bei weitem nicht allein über körpergestalterische Selbstdemonstrationen. Schirm, Handtuch, Badetasche, Sonnenbrille, Schwimmutensilien etc. sind ebenso Produkte, die im Sozialgefüge des Strandbadens zu herausgehobener Geltung gelangen. Ihnen wird eingehender als im urbanen Warendickicht Aufmerksamkeit geschenkt, führen die Reduktion des Mitgebrachten und die Neutralität der Strandfläche doch dazu, dass jedes noch so klein gesetzte Produktsignal ins Auge fällt. Wohin will man auch den lieben langen Tag gucken – und worüber will man sich unterhalten –, wenn nicht auf und über all das, was die anderen so bei sich führen?
Dass es sich am Strand prächtig urlauben lässt, hat also auch damit etwas zu tun, dass sich Leute an Stränden heimisch einrichten. Spätestens am dritten Tag hat jeder sein Plätzchen bezogen. Und so werden zunächst Eroberungs- und später Verteidigungskämpfe ausgefochten, wenn es darum geht, sesshaft zu werden und das Strandzuhause vor Okkupation zu schützen. Auf gute Nachbarschaft ist man freilich aus, aber wenn der Nächstliegende zu dicht heranrückt, müssen Grenzkontrollen eingeführt werden. Die Sorge, im Niemandsland des Strandes ausgeraubt zu werden, gehört zu den mentalen Grundausstattungen erfahrener Strandurlauber.
Dazu passt, dass der Erfolg eines Strandurlaubs an der mitgebrachten Bräune bemessen wird und folglich über den Tag hinaus wirken soll. So wie jedes Mitbringsel aus dem Urlaub eine Machtgeste darstellt, indem es den Daheimgebliebenen das eigene Zurückbleiben durch ein gönnerhaft eingepacktes Ding aus der Ferne spiegelt, so beschämt der Braungebrannte den Blassgebliebenen durch importierte Melaninbildung. Strandbräune – Bräune im Allgemeinen – gilt als Luxusaccessoire, das sich nur leisten kann, wer über genügend Potenz verfügt, in eine Langzeitbeziehung mit der Sonne zu treten. (Dass die Blassen derzeit ebenfalls besondere Wertschätzung erfahren, ist paradoxerweise ähnlichem Luxusgebaren geschuldet: Sonnenvermeidung wird, ähnlich wie Fleischentsagung oder allgemeiner Konsumverzicht, als herausragende Form von Eigendisziplinierung und Zurücknahme geschätzt; über ein entsprechend schlechtes Image verfügt der Strand bei all jenen, die durch einen Willen zur Blässe auftrumpfen.)
Der Strand als Produkt vereint, was Enzensberger auf den gebuchten Urlaub im Allgemeinen projiziert: Warenförmigkeit, Normierung, Serialität. Allerdings sind dies Elemente, die für viele einen guten Urlaub ausmachen. Im Fremden soll das Gewohnte enthalten sein, gerade weil man nicht das radikal, sondern das relativ Andere sucht. Und kann nicht gerade dies als Ausweis einer entwickelten Kulturleistung gewürdigt werden? Indem sich Menschen für das Mittelmaß – für den Strand als eine durch Gewohnheiten und bekannte Distinktionen bespielbare Fläche – entscheiden, scheinen sie sich nicht länger der Illusion totaler Autonomie oder letztgültiger Entsagung hinzugeben. Das mag man für bequem oder langweilig halten. Im Strandtouristen aber das Opfer eines Massenbetrugs zu sehen, ist schlicht überheblich.
Daniel Hornuff ist akademischer Mitarbeiter am Institut für Kunstwissenschaft und Medientheorie, Staatliche Hochschule für Gestaltung Karlsruhe.
Gegenstände früherer Konsumrezensionen:
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Konferenz Digital-Life-Design (Juni 2015)
Öko-Marketing/CO2-Kompensation (Mai 2015)
Apple Watch (April 2015)
Flüssig-Make-up/Spiraldesign (März 2015)
Buch (Februar 2015)
Feuerwerks-Anzeigen (Januar 2015)
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Designanalysen (Gui Bonsiepe, HfG Ulm) (November 2014)
Toastbrot (Oktober 2014)
Saugroboter (September 2014)
Supermarktsortiment (August 2014)
Rasenmäher und Kinderbuggy (Juli 2014)
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Tee: Pukka und Yogi (Mai 2014)
Grundsätzliche Überlegungen: Welches Vorgehen ist sinnvoll, wenn man Konsumprodukte rezensiert? (April 2014)
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