Verstreute Wissenschaft
[unter dem Titel »Popular Culture?« erschienen in: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 6, Frühling 2015, S. 97-101]
Untersuchungen zu Pop-Phänomenen und zu Gegenständen der Pop-, Massen- oder Populärkultur zählen mittlerweile in den Wissenschaften zum Standard. Besonders jüngere Sprach- und Kulturwissenschaftler wollen kaum mehr auf Einträge zu ›Quality-TV‹ und ›social media‹ in ihren Publikations- und Literaturlisten verzichten. Aufsätze zu Rolf Dieter Brinkmann, Heavy Metal, Make-Over-Shows, Disco, Trash gehören seit einem Jahrzehnt in den jeweiligen Disziplinen ähnlich zum Alltagsgeschäft wie Beiträge zu Klopstock, Musique concrète, zur Gruppe 47, den Präraffaeliten und dem Bauhaus. Sie befinden sich nun alle im Reigen derjenigen Themen, die man bedenkenlos untersuchen kann, ohne seine universitäre Laufbahn zu beschädigen.
Sicherlich gibt es noch viele Felder und Artisten, die auf ihre Analyse warten. Das kann auch nicht anders sein, schließlich weisen die Forschungen zu Dadaismus und zur Romantik (zumindest bei männlichen Künstlern) einen Vorsprung von einigen Jahrzehnten oder sogar einem ganzen Jahrhundert gegenüber Studien zu New Wave oder Pulp Fiction auf. Im Laufe der nächsten Dekaden dürfte sich der Abstand jedoch verringern, Detailstudien wird es dann nicht nur zu Hugo Ball und Friedrich Schlegel, sondern ebenso zu den Buzzcocks und »Spicy Detective Stories« geben.
Anders sieht es bei einem möglichen übergreifenden Ansatz aus, der Institutionalisierung von – sagen wir – ›Pop Studies‹. Gender Studies, Postcolonial Studies, Cultural Studies haben es erfolgreich vorgemacht, benötigt wurde eine Verbindung dreier Elemente: aus a) politischem Engagement im Sinne der Neuen Linken bzw. der ›cultural left‹, b) der Adaption poststrukturalistischer, konstruktivistischer, jedenfalls antiessenzialistischer, Realismus-kritischer Theorien und c) zuvor nicht beachteten oder kanonfähigen Themen. Solch eine Verbindung ist für den Pop-Bereich momentan nicht in Sicht, es ist zudem fraglich, ob die Kombination heute noch greifen würde, wie man an den Problemen der Cultural Studies sehen kann.
Die Cultural Studies haben so etwas wie ›Pop Studies‹ vorweggenommen bzw. auf ihre Weise verhindert. Widerständige Elemente in der Jugendkultur, Umwidmungen kulturindustrieller Gegenstände, populäre Kultur als Schauplatz, auf dem Hegemonie errungen wird – diese Untersuchungsfelder schlossen neben vielem anderen auch Pop-Phänomene ein, allerdings nur unter den gerade genannten besonderen theoretischen und weltanschaulichen Bedingungen. Diese Basis trägt tatsächlich bloß im Verbund mit einer entschieden politischen Wirkungsabsicht. Wenn die neulinke Ausrichtung nicht vorhanden ist oder sich die wissenschaftlichen Disziplinen auf Objektivitäts- bzw. ›Exzellenz‹-Kriterien verpflichten lassen, stoßen die Cultural Studies in den Universitäten auf Probleme. Die Schließung des Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham 2002, die mit der verschlechterten Position der Stätte in einem Ranking (Research Assessment Exercise) begründet wurde, steht mehr oder minder symbolisch dafür.
Durchgesetzt haben sich die Cultural Studies (in Deutschland vor allem in der Anglistik) dennoch in dem banalen, aber für unser Thema wichtigen Sinne, dass u.a. Pop-Phänomene nun für Wissenschaftler prinzipiell als untersuchungswerte Gegenstände gelten. In den angloamerikanischen Einführungsbänden älteren Datums, die offenkundig Erfolg (zumindest hohe Auflagenzahlen) haben, dominiert auch noch die politisch-theoretische Ausrichtung der Cultural Studies. Der Reader »Cultural Theory and Popular Culture« (bereits zum vierten Mal aufgelegt) versammelt Textauszüge von Karl Marx, Antonio Gramsci, Theodor W. Adorno (Barnes&Noble schreibt auf seiner Internetseite bei der Buchvorstellung vielsagend »Adornon«), Louis Althusser, Stuart Hall, Judith Butler etc.
Nicht allein wegen der abnehmenden Begeisterung für die Cultural Studies müssen aktuelle Bände sich notwendigerweise etwas anderes einfallen lassen, wollen sie auch nur halbwegs wahrgenommen werden. Die Änderung besteht in erster Linie darin, den Bestand mit weiteren Namen anzureichern und den ein oder anderen sozialistischen Klassiker oder Entfremdungskritiker zu ignorieren. In dem Einführungsband von Ann Brooks, »Popular Culture«, fehlen etwa Althusser und Hall, öfter zitiert sie dafür Simmel und Veblen.
Dominant ist aber noch immer (wie bei Brooks bereits der Titel sagt) die Tradition der Rede über ›popular culture‹. Auch ethnographische und andere Fächer haben sicher dazu beigetragen, den Hauptanteil tragen jedoch die Cultural Studies. Im Rahmen ihres Ansatzes ist der ›popular culture‹-Akzent zweifellos hoch einleuchtend und sinnvoll. Die Cultural-Studies-Anhänger sind Demokraten, überzeugt von der Bedeutung der Lebensweise und Meinung der Arbeiter, Angestellten und Marginalisierten auch für große gesellschaftliche Änderungen. Deshalb ist für sie die populäre Kultur der wichtige Schau- und Kampfplatz; die Alternative bestünde darin, sich auf Umschwünge innerhalb der Machteliten oder etwa auf (medien-)technologische Innovationen und Revolutionen zu konzentrieren.
Fällt aber der Cultural-Studies-Impetus weg – und mit ihm die einigermaßen gesicherten Methoden und eingespielten Begriffe (Hegemonie, (Sub)Kultur, Subversion, ›popular pleasure‹ etc.) –, dann bleibt mit ›popular culture‹ lediglich ein unsortierter, bedeutungsloser Haufen zurück. Worüber schreibt Brooks in ihrem Buch? Über Fußball-WM, Internet-Utopien, Vivienne Westwood, deutschen Hip-Hop… Welche Methoden, Begriffe und Theoretiker diskutiert und empfiehlt sie für deren Analyse? Bourdieu, Hybriditäts-Forschung, McDonaldization, symbolischer Interaktionismus, Frankfurter Schule…
Mit anderen Worten: so gut wie alles. Brooks unterscheidet nicht zwischen Massen-, Populär- und Popkultur, gibt aber mit keinem Satz an, weshalb das alles für sie auf die Agenda eines Forschungsfeldes gehört. »Popular Culture«, immerhin ihr Buchtitel, ist dann bloß etwas, das irgendwie (zu einem beliebigen Zeitpunkt) neu war und irgendwie von einem imaginären Bildungsbürgertum eventuell noch nicht kanonisiert worden ist. Kein Wunder, dass die Analysemethoden ebenfalls beliebig ausfallen.
Nun wäre die Vielfalt der Untersuchungsgegenstände vollkommen in Ordnung, zwar nicht in einer Einführung, aber in einem Sammelband, einem Feuilleton oder (wie hier) in einer Zeitschrift. Auch da müsste allerdings bei der Untersuchung des jeweiligen Gegenstands seiner Besonderheit und Zugehörigkeit Aufmerksamkeit geschenkt werden: Handelt es sich um ein seit Jahrzehnten massenhaft vertriebenes Produkt? Ist es in einer Schicht beliebt oder schichtenübergreifend? Wird viel über es gesprochen oder geschrieben? Muss man starke Voraussetzungen erfüllen, um in einer Gruppe darüber mitreden zu dürfen? Ist es billig? Setzt das Marketing auf Zusammenhänge zwischen verschiedenen Medien? Gehört es einem etablierten Genre an? Wenn nicht, lassen sich dennoch Übereinstimmungen mit anderen Werken feststellen? Legt das Werk oder der Paratext symbolische Ausdeutung nahe oder körperliche Aneignung? Wird es tatsächlich so rezipiert? Und Dutzende Fragen mehr…
Erst mithilfe solcher Gesichtspunkte ließe sich nachvollziehbar angeben, weshalb man dieses oder jenes zur Massen-, Populär- oder Popkultur schlägt (oder andere oder weitere Kategorien bemüht). Wenn man diese Überlegungen unterlässt, wird man auf eingespielte Konventionen zurückgeworfen. Nächstes Beispiel: »Globalization and American Popular Culture« von Lane Crothers. Neben Hollywood und Coca-Cola geht es um Calvin Klein, Cole Porter, National Football League, Public Enemy… Wieso nicht auch um die Met, Jonathan Franzen, Andy Warhol, Sub Pop Records, Guggenheim? Man weiß es nicht, am wenigsten der Autor selbst.
Weiter: »Gender and Popular Culture« von Katie Milestone und Anneke Meyer. Populärkultur: Punk, Teenager-Zeitschriften, »Cosmopolitan«, »American Beauty«, »FHM«, Jamie Oliver… Warum kein Wort zu Marina Abramović, »New York Times«, John McCain und Tupperware-Parties? Reiner Zufall, denn für die Autorinnen fallen definitiv unter »popular culture« neben Stuart Halls »site of political contestation« auch »media culture« und »a range of cultural texts which signify meaning« (S. 5) – kein Ausschluss unter dieser Nummer.
Daran gemessen fast schon sympathisch der naive Angang von Michael Petracca und Madeleine Sorapure in »Reading Popular Culture«, die darunter wohl das verstehen, von dem sie glauben, Studenten interessierten sich dafür. Die Auswahl der Themen weist darum einen starken Gegenwartsbezug auf, von Brands über Horrorfilme, Hip-Hop, Indie-Rock bis zum Shoppen. Routiniert wird mit Blick auf all das von dem »broad range of field of popular culture« gesprochen (S. xi), ohne sich Gedanken um eine sinnvolle Unterteilung zu machen, die analytisch auch nur ansatzweise fruchtbar sein könnte.
Wesentlich durchdachter fällt der vernünftige universitäre Einführungsband »Interrogating Popular Culture« von Stacy Takacs aus. »Popular« wird auf »people« zurückgeführt, »people« wiederum bewusst nicht vorab definiert, sondern als diskursive Kategorie gekennzeichnet, deren historisch, sozial und institutionell wechselnde Bestimmungen es jeweils zu untersuchen gelte (S. 10). Dennoch ist auf den nächsten 250 Seiten ohne weitere Begründung nur von Punk, Simpsons, TV-Nachrichtensendungen, Harry Potter, Time Warner, YouTube, Justin Bieber die Rede, nie aber von der Bibel, der Democratic Party, Schulcurricula, Mark Twain usf. Die Auswahl der Beispiele zeigt zuverlässig an, dass die systematischen Überlegungen zu Beginn nur vorgeschoben sind.
An Studenten richtet sich auch ein deutsches Reclam-Bändchen, »Texte zur Theorie des Pop«, eine sinnvolle Lektüre für Leute, die einen Eindruck vom deutschen Pop-Verständnis bekommen wollen. Die Herausgeber Charis Goer, Stefan Greif und Christoph Jacke haben den Anspruch, »›Klassikertexte‹« zu versammeln. Unter Theorie-Klassikern verstehen sie vorrangig Feuilletonisten und Essayisten (Rygulla, Meinecke, Neumeister etc.) sowie Autoren, die von Popmusik und manch anderem Popbereich keinerlei Ahnung haben (Sontag, Eco, Adorno, Fiedler, Imdahl). Möglich wird das durch den zugrunde gelegten Pop-Begriff, der neben einer zeitlichen Einschränkung (ab 1960) und einer Beschränkung auf die Künste zentral eine sehr weitgehende Entgrenzung bietet: »Pop« wird von ihnen »als ästhetisch, sozial, politisch und ökonomisch vielschichtiger Diskurs innerhalb der Gegenwartskultur verstanden« (S. 10). Das ist zwar schon um einiges enger als die in den zuvor besprochenen Büchern angeführte ›populäre Kultur‹, bleibt aber immer noch sehr diffus.
Wie sieht es in viel aufgelegten Werken aus, die sich nur einer Sparte widmen, können sie dem Beliebigen entkommen? Roy Shuker reserviert in »Understanding Popular Music« seinen Hauptbegriff für eine warenförmige, ursprünglich (seit 1950) vor allem anglo-amerikanische, nun global ausgreifende, überwiegend für Jugendliche in großer Stückzahl hergestellte Musik. Das ist endlich verständlich und trennscharf (mit Blick auf die Gegenwart bietet die Definition ja nur noch die anvisierte Abnehmergruppe auf). Es bleibt aber die Frage, weshalb für eine solch exklusive Definition ausgerechnet das unbestimmte ›popular‹ herhalten muss. Wieso dann nicht: ›youth mass market music‹?
Zuletzt »Popular Music & Society« von Brian Longhurst und Danijela Bogdanović, ein umfangreiches, sehr empfehlenswertes Buch, das auch viele wissenschaftliche Positionen heranzieht und gut erläutert. Die Autoren enthalten sich aus heuristischen Gründen einer eigenen Definition von »popular music«; sie versprechen im Vorwort, stattdessen viele historische Ansätze vorzustellen und nach einem »offenen« Beginn später die Kategorie zu präzisieren, was aber kaum oder gar nicht eingelöst wird.
Der Preis für das Versäumnis ist wie bei den anderen vorgestellten Büchern (außer dem Shukers) hoch: In Kapiteln zur Musikindustrie und zur Standardisierung, zu Fans und zum Konsum geht es auf der Beispielsebene unbedacht immer nur um John Lennon, Madonna, Hip-Hop, MTV – als könne man Karajan, Volksmusikfreunde, Jazzclubs, Mozart nicht auch unter dem Aspekt von Startum, Marketing, Subkultur, Kommerzialität etc. untersuchen. Interessant wären dann gerade (falls es sie gibt) die Unterschiede. Das würde einem auch bei ›popular culture‹ und ›popular music‹ weiterhelfen. Sonst bleibt weiten Teilen einer wichtigen Untersuchungsrichtung bloß das Klischee.
Literatur
Ann Brooks: Popular Culture. Global Intercultural Perspectives, Houndmills 2014.
Lane Crothers: Globalization and American Popular Culture, dritte Aufl., London u.a. 2013.
Charis Goer/Stefan Greif/Christoph Jacke (Hg.): Texte zur Theorie des Pop, Stuttgart 2013.
Brian Longhurst/Danijela Bogdanović: Popular Music & Society, dritte Aufl., Cambridge u.a. 2014.
Katie Milestone/Anneke Meyer: Gender and Popular Culture, Cambridge u.a. 2012.
Michael Petracca/Madeleine Sorapure (Hg.): Reading Popular Culture, Boston u.a. 2011.
Roy Shuker: Understanding Popular Music Culture, vierte Aufl., London u.a. 2013.
John Storey (Hg.): Cultural Theory and Popular Culture. A Reader, vierte Aufl., London u.a. 2009.
Stacy Takacs: Interrogating Popular Culture. Key Questions, New York u.a. 2015.
Weitere Hinweise zu Heft 6 von »Pop. Kultur und Kritik« hier.