Ursachen politischen Handelns? Rezension zu Andreas Pettenkofer, »Die Entstehung der grünen Politik«
von Martin Seeliger
19.4.2015

Stilisierung des Gegners

Es ist ein sonniger Apriltag in Mission, einem lateinamerikanischen Stadtteil San Franciscos. Marihuana-Geruch liegt in der Luft, rythmisches Trommeln und Sprechchöre überlagern den Lärm der Stadt. „Inflict, convict, send these killer-cops to jail / the whole damn system ist guilty as hell!“ – eine im monotone Rhythmus des Call-and-Response-Prinzips vorgetragene Totenklage, Schuldzuschreibungen und Forderungen nach Sühne – die Veranstaltung erinnert mich sehr an die sonntäglichen Messen, die ich in meiner Schulzeit an einem katholischen Internat so häufig besuchen musste. Nur dass es eben eine Demonstration gegen Polizeigewalt ist – in Mission hatten Vertreter des San Francisco Police Department zuletzt einige Schwarze und Latinos erschossen. Und dagegen geht man nun auf die Straße.

Ich könnte mir vorstellen, dass die Analogie Demonstration/Heilige Messe einige überrascht – aber wahrscheinlich nicht Andreas Pettenkofer. Der hat nämlich ein Buch geschrieben, in dem er die Religionssoziologie von Durkheim und Weber auf die Entstehung der deutschen Umweltbewegung anwendet. Und unter Verwendung tragender Elemente dieser beiden Ansätze, gelingt es ihm – so viel sei jetzt schon verraten – wesentliche Teile der „kulturellen Voraussetzungen“ (8) dieser Bewegung herauszuarbeiten.[1]

Protestereignisse wie die Schlacht am Tegeler Weg, die eine Radikalisierung der der marxistisch-leninistischen Gruppen bedingte oder die Auseinandersetzungen um den AKW-Bauplatz in Wyhl aus dem Jahr 1973 stellen für die Bewegung wesentliche Bezugspunkte dar. Kollektive Gewalterfahrungen bringen die Bewegungsteilnehmer zu einer Verknüpfungsleistung – ein autoritärer Staat, der die Lebensgrundlage seiner Bevölkerung durch unreflektierten Technikgebrauch unterstützt, erscheint den Bewegungsteilnehmern als deutliches Anzeichen für einen neuen Autoritarismus.

Die empirische Rekonstruktion erfolgt bei Pettenkofer nicht – wie zumindest bei manchen Bewegungshistorikern üblich– auf Grundlage von Interviews. Stattdessen analysiert er „protesteigene Printmedien“ (32). Deren Untersuchung ermöglicht es ihm, „nachzuzeichnen, wie ein bestimmter Protestgegenstand sich für die Beteiligten schrittweise verfestigt“, und die „Ungewissheit, mit der die Protestteilnehmer konfrontiert sind, deutlicher erkennen“ zu können.

Der religionssoziologische Ansatz und dessen Anwendung auf das Buch ist vielversprechend, seine Umsetzung allerdings auch komplex. Die Frage, wie eine bestimmte Verhaltensweise (in diesem Fall ‚Protest‘) innerhalb eines Kollektivs auf Dauer gestellt werden kann, lässt sich mit den von Weber und Durkheim entwickelten Begriffen gut untersuchen. Tragend sind hierbei Webers Sektenbegriff sowie Durkheims Verständnis des Sakralen sowie seiner Arbeiten zum Totemismus.

Das Interessante an Pettenkofers Perspektive ist, dass er das – vor allem im Bereich der Politikwissenschaft verbreitete – rationalistische Motiv umkehrt. Was sich ihm zufolge ereignet, ist nicht der kollektive Versuch, eine faschistische Bedrohung einzudämmen. Stattdessen wird eine politische Partei (der kapitalinteressen vertretende, autoritäre, umweltvernichtende Staat) im politischen Prozess zur faschistischen Bedrohung stilisiert.

Hierin liegt die Analogie zu den religiösen Motiven, die bei Durkheim und Weber im Mittelpunkt stehen. Die Sektendynamik und die kollektivistische Orientierung an Totems (Durkheim) ermöglichen der Bewegung einen starken Zusammenhalt. So wird der Zaun um den Bauplatz in Wyhl in den Publikationen der Umweltbewegung als KZ-Stacheldraht bezeichnet. Die besondere Bedeutung des Protests ergibt sich also aus der Selbst-Stilisierung in Abgrenzung zu einem (vermeintlich) quasi-faschistischen Regime und ist als Teil der Mobilisierung (und nicht deren Ursache!) anzusehen.

Pettenkofer beschreibt den Text als „theorieentwickelnde Fallstudie“ (345). Worin liegt jetzt die Entwicklung? Indem der Autor zeigt, wie jenseits des religiösen Feldes entsprechende Motive sozialen Handelns (oder: Mechanismen) auftreten, gelingt ihm ein Beitrag zur politischen Soziologie. Während diese, z.B. unter dem Begriff der Framing-Strategien (Goffman 1974), Darstellungsweisen untersuchen, die politische Akteure gezielt nutzen, um Interpretationen über Gegenstände nahezulegen, betont Pettenkofer einen anderen Aspekt desselben Vorgangs. Seine religionssoziologische Ausgangsannahme ermöglicht es ihm, Vorgänge der Bedeutungskonstruktion als unbeabsichtigte Prozesse zu untersuchen.

Der Argumentationsverlauf ist komplex und die Darstellungsweise nicht immer zugänglich. Pettenkofer genau zu verstehen erfordert einigen Aufwand. Aber der lohnt sich, denn seine Perspektive ist eine Bereicherung. Eine politische Soziologie als Analyse kultureller Voraussetzungen kollektiven Interessehandelns ist in der Forschungslandschaft sicherlich speziell. Sie sollte es aber nicht sein, denn für das ursächliche Erklären politischen Handelns sind diese Voraussetzungen eben bedeutsam.

Setzen sich Studierende für ‚Freie Bildung‘ ein, weil sie meinen, dies diene der Vermeidung sozialer Ungleichheit? Oder weil sie neu an der Uni sind und diese Protestcamps auf dem Campus irgendwie spannend erscheinen? Oder geht es auch darum, sich abzugrenzen? Von den Eltern? Den Professoren? Oder von den Jura- und WiWi-Studenten? Solche Fragen sind wichtig. Und Pettenkofer gibt mit dem Vorschlag seiner theoretischen Perspektive eine wertvolle Antwort auf die Frage, wie diese Phänomene zu verstehen sind.

Einige Dinge fehlen mir persönlich im Buch. Dass die Grünen zu großen Teilen im deutschen Bürgertum angekommen sind, weiß Pettenkofer natürlich. Mich würde interessieren, ob, und wenn ja, inwiefern sich diese Verbürgerlichungstendenzen schon in den Vergemeinschaftungsformen der 1970er und 1980er Jahre abgezeichnet haben. Zwar erkennt der Autor eine „Öffnung zu wirtschaftsliberalen Positionen“ (343) im Laufe der 1970er, weiter vertieft wird dieser Aspekt leider nicht.

Inwiefern der Autor mit der Umweltbewegung sympathisiert, ist mir beim Lesen nicht klar geworden. Zwar macht er deutlich, dass es ihm nicht darum geht, die Anliegen der Bewegung zu trivialisieren, indem er ihnen einen genuin politischen Charakter abspricht.[2] Ich vermute aber eine Sympathie – fast alle Soziologen sind gegen Atomkraft (ich kenne nur zwei, die es nicht sind). Wenn es also diese Sympathie gibt, würde mich interessieren, welche Empfehlungen der Autor für soziale Bewegungen ableitet.

 

Anmerkungen

[1] Mit seinem Anliegen, soziale Bewegungen nicht als rationale politische Akteure zu begreifen, die Ziele formulieren und sie danach verfolgen, ist Pettenkofer nicht allein. Im deutschen Raum liegt mit der Studie von Reichhardt (2014) ein wesentlicher Beitrag in diese Richtung vor. Es ist allerdings zu vermuten, dass die Studie Pettenkofers unabhängig davon entstanden ist. Tatsächlich stellt sie den zweiten Teil einer Dissertation dar, deren erster Teil unter Pettenkofer (2010) vorliegt.

[2] Das wäre auch merkwürdig. Jeder Sozialwissenschaftler sollte wissen, dass Dinge niemals „genuin“ irgendwas sind – schließlich werden sie in vielfältigen Prozessen konstruiert. Eindimensionalität wäre vorsozial und ‚vorsozial‘ gibt es im menschlichen Denken nicht (vgl. Elias 2011).

 

Literatur

Elias, Norbert (2011): Was ist Soziologie? München/Weinheim: Juventa

Goffmann, Erving (1974): Frame Analysis. New York: Harper Colophon

Pettenkofer, Andreas (2010): Radikaler Protest. Zur soziologischen Theorie politischer Bewegungen. Frankfurt a.M./New York: Campus

Reichhardt, Sven (2014): Authentizität und Gemeinschaft. Berlin: Suhrkamp

 

Bibliografischer Nachweis:
Andreas Pettenkofer
Die Entstehung der grünen Politik. Kultursoziologie der westdeutschen Umweltbewegung
Frankfurt a.M./New York 2014
Campus Verlag
ISBN 978-3593394176
383 Seiten

 

Dr. Martin Seeliger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeit und Wirtschaft an der Universität Bremen.