»Beschreibungsimpotenz« – Rezension zu Helmut Böttiger, »Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb«
von Jörg Döring
7.4.2015

Populäre Literaturkritik

Was das Buch mit Pop zu tun hat, dazu später. Zunächst ein paar allgemeine Feststellungen: Der Untertitel ist irreführend. Das macht aber gar nichts. (Man weiß ja, wie in einem Konzernverlag solche Paratexte gemacht werden…) Denn der Autor Helmut Böttiger nimmt an keiner Stelle des Buches für sich in Anspruch zu erzählen, wie einmal die Gruppe 47 „Geschichte“ geschrieben hätte – im pompösen Sinne des Koselleckʼschen Kollektivsingulars.

Das hat er gar nicht nötig, denn das, was er erzählt, ist interessant genug: In einer sehr gut lesbaren Synthese – der besten, die es bislang gibt, wenn es nicht überhaupt die einzige ist – erzählt Böttiger die Geschichte der Gruppe 47 ebenso als Institutionengeschichte einer Schriftstellervereinigung wie auch als Personengeschichte(n) der darin sich versammelnden Autoren.

Beides hängt untrennbar miteinander zusammen. Ein Netzwerk kann man eigentlich gar nicht anders erzählen. Und weil es eine Synthese ist, muss Böttiger sich für einen Plot entscheiden – und kann es mithin längst nicht mehr allen recht machen. Da fehlt dann dem einen dieses, der anderen das, kann der Autor nicht aller Spezialliteratur gerecht werden und hat vielleicht nachweisbare Vorlieben oder Antipathien unter dem vielfältigen Personal seiner Geschichte.

Die bislang gründlichste Rezension stammt von Matthias N. Lorenz, der das große Buch über Juden und Auschwitz bei Martin Walser geschrieben hat. Er hält bei Böttiger die Rolle Martin Walsers für unterbewertet, die NSDAP-Mitgliedschaften von Jens, Walser, Höllerer und Wellershoff und die Geschichte Reich-Ranickis als verfolgter Jude während des Holocaust für ausgeblendet. Das mag stimmen, und gerade der letzte Punkt trifft gewiss den sprechend-blinden Fleck des Buches, in dem Reich-Ranicki einer der bad guys ist.

Aber keine Synthese wird solchen Vorwürfen von Verkürzung und Einseitigkeit je ganz entgehen. Was man ihr zugutehalten kann: Immerhin wagt Böttiger einen Plot für die Gruppengeschichte als ganzer und macht damit einen so engagierten Einspruch wie den von Lorenz überhaupt erst möglich. Soll jemand erst mal eine bessere Synthese vorlegen!

Das Buch liefert streitbare, widerspruchsfähige Thesen mindestens in viererlei Hinsicht: a) der Literaturgeschichte der Bundesrepublik; b) der westdeutschen Intellektuellengeschichte; und Böttiger erkennbar besonders wichtig: c) der Literaturbetriebsgeschichte der Bundesrepublik, und d) der Geschichte der westdeutschen Literaturkritik, insbesondere jener, der andere Performanzbedingungen zugrunde liegen als die im Printjournalismus.

a) Selbst wenn die Gruppe 47 für eine bestimmte Phase der westdeutschen Literaturgeschichte hegemoniale Bedeutung für sich beanspruchen konnte, dann gewiss nicht im Sinne eines „sozialdemokratischen Realismus“, so wie jüngst einmal mehr der notorische Martin Mosebach verlauten ließ.

Dieses Vorurteil identifiziert die Gruppe einseitig mit den ästhetischen Vorlieben von Hans Werner Richter und „Moraltrompeter“ Grass und trifft noch nicht einmal für jene Hoch-Zeit zwischen Grass’ fulminantem Blechtrommel-Auftritt in Großholzleute 1958 und der Schweden-Reise 1964 nach Sigtuna zu, als die Gruppe erstmals auch im Ausland repräsentative Aufgaben für die westdeutsche Literatur unternahm (die „deutsche Literatur-Nationalmannschaft“).

Böttiger zeigt vielmehr, dass Richter mit seinen ästhetischen Vorstellungen schon rasch marginalisiert war und darunter nicht selten litt. Und dass im Gegenteil die Vergemeinschaftungsform der Gruppe mit den rasant sich entwickelnden Publizitätsbedingungen viel eher dazu beitrug, formalistischer oder experimenteller Literatur wie der von Heißenbüttel, Kluge, Becker, Bichsel oder Konrad Bayer den Boden zu bereiten – eine Literatur, die ohne die Gruppe weitaus ungünstigere Resonanzbedingungen vorgefunden hätte.

b) Das Mosebach-Vorurteil gründet sich ja vor allem auf das Grassʼsche „Wahlkontor deutscher Schriftsteller“, das für Willy Brandt in den Bundestagswahlkampf 1965 zog („dich singe ich demokratie – loblied auf willy“), und auf das Zerrbild des gesellschaftlich engagierten Schriftstellers.

Auch hier unterscheidet Böttiger sehr präzise: Für Gründungsfigur Richter war die Gruppe stets so etwas wie Politikersatz. Die meisten der anderen, die sich engagierten, nutzten eine historisch singuläre Phase in der Geschichte der BRD, in der die Literatur tatsächlich eine Art Leitmedium darstellte und in der literarisches Renommee auch für außerliterarische Zwecke benutzt werden konnte.

Weil die Literatur für einen kurzen Moment einmal so bedeutsam war, wollen und können Literaten zu Meinungsführern werden, generieren sie symbolisches Kapital, um Gefolgschaft auch in politischen und gesellschaftlichen Fragen zu beanspruchen. In der Intellektuellengeschichte der BRD ist das singulär, und die Friedensbewegung der 1980er – mit Heinrich Böll als Sitzblockierer von Mutlangen – war eine Endmoräne dieses Geistesgletschers.

Wenn heute Juli Zeh in Fernsehtalkshows zur NSA-Bespitzelung eingeladen wird oder Ulf Erdmann Ziegler zur Edathy-Affäre um Kinderpornographie, dann ausdrücklich nicht, weil man ihre Literatur für so bedeutend hält, sondern weil sie – in der Logik des TVs – besondere oder auch nur vermeintliche Zusatzqualifikationen aufweisen (Zeh als Juristin und EU-Rechts-Expertin, Ziegler – zu seiner eigenen größten Verwunderung – weil er im Nebenfach Psychologie studiert hat. Im Insert stand dann: „Autor und Psychologe“), die sie für die Fernsehöffentlichkeit als talkende Schriftsteller qualifizieren.

Unterm Strich war es aber auch mit dem Engagement der 47er gar nicht so weit her. Auf gerade mal elf Resolutionen brachte es die Gruppe in den 20 Jahren ihres Bestehens: u.a. zum Ungarn-Aufstand, zur atomaren Bewaffnung der Bundeswehr, gegen die Kriege in Algerien und Vietnam, gegen die Meinungsmacht des Springer-Konzerns. Das schaffen die Medienintellektuellen von heute (von Bernard Henri Levý bis Hans Olaf Henkel) locker in drei Jahren.

c) Das ist die eigentliche Kernthese des Buches: Die Gruppe 47 – zunächst nicht mehr als ein loser, semi-privater Zusammenschluss von Autoren in der Nachkriegszeit, der sich gegenseitig Zeitschriftenbeiträge vorliest, weil die Zeitschrift nicht erscheinen darf – erfindet den modernen Literaturbetrieb, den Markt der Autoreninszenierung und Selbstinszenierung, vergemeinschaftet die Autoren mit der Berufskritik, entwickelt sich zur literarischen Börse, in der Karrieren geboren und zerstört werden können, in der die scouts und Verleger die Hinterbühne bespielen, öffnet dem Fernsehen die Tür, um Literatur fernsehgerecht zu inszenieren, entwickelt sich überhaupt als das große Literaturevent 1-2mal im Jahr, eines, das sich heute in lit.Cologne, Leipzig liest und LiteraTurm, in das ubiquitäre und flächendeckende Stipendien- und Literaturhauswesen ausdifferenziert hat.

Und die Gruppe erfindet den Literaturbetrieb gleichsam unbewusst und rein praxeologisch: Hinter der Entwicklung steht kein geheimer Master- oder Business-Plan. Es geschieht einfach so und im Laufe der Zeit, eine nicht-intendierte Folge der disparaten Aktivitäten vieler, macht die Gruppe zuerst groß, wächst ihr dann über den Kopf und lässt sie schließlich zerbrechen.

Für Böttiger trifft hier eine besondere re-education-Erfahrung deutscher intellektueller Kriegsgefangener, die einen Gutteil ihrer Bildung dem amerikanischen Kriegsgefangenenlager verdanken, auf die rasch sich wandelnden Öffentlichkeitsbedingungen der Bundesrepublik.

Zuerst eignen sich Richter, Andersch und Co. lustvoll den Begriff der Kritik wieder an – als Ferment einer demokratischen Kultur, so wie von der amerikanischen Besatzungsmacht gewünscht –, eine Kritik, die nicht länger als „zersetzend“ geschmäht wird wie noch während des NS. Dann aber wird der performative und agonale Effekt dieses Kritikregimes rasch so öffentlichkeitswirksam, dass er zur Bühne, zum Zentralereignis aller am Buchmarkt beteiligten Akteure werden kann – am Ende so durchschlagend, dass die Gruppenkritik ihre Legitimität als Selbstverständigung der Autoren einbüßt.

Richter ist das Opfer dieser Entwicklung, und die eigentlichen Repräsentativ-Gestalten der Gruppengeschichte sind im Lichte dieser These Hans Magnus Enzensberger mit seiner ungemein wandlungsfähigen, wetterfühligen Intelligenz und das Betriebs-Genie Walter Höllerer (dem Richter süffisant „Behörden-Sex-Appeal“ attestierte – so erfolgreich war Höllerer in der Akquise öffentlicher Gelder in Westberlin).

Die These von der Erfindung des modernen Literaturbetriebs durch die Gruppe 47 ist sehr schmissig und steil, und vorerst wird sie gar nicht so leicht zu erschüttern sein – jedenfalls nicht durch vereinzelte Gegenthesen, die unterdessen schon hörbar geworden sind: etwa dass es auch in den 1960er Jahren schon den Betrieb in Form von Schriftstellerlesereisen gab (vgl. die Walser-Biographie von Jörg Magenau) oder dass es in der Adenauer-Zeit neben der Gruppe 47 auch andere Institutionen gab, in denen geistiger Austausch und demokratische Formen der Kritik eingeübt wurden – so in den evangelischen Akademien Tutzing und Loccum, den Mittwochsgesprächen in Gerhard Ludwigs Kölner Bahnhofsbuchhandlung oder in Werner Höfers Fernseh-Frühschoppen – dies das Lieblingsargument des Bonner Zeithistorikers Dominik Geppert, der Böttiger (und manche andere) im Verdacht hat, die Adenauer-Zeit mal wieder viel vermuffter dargestellt zu haben als sie seiner (und Arnulf Barings) Ansicht nach eigentlich gewesen sein soll.

Fest steht jedenfalls, dass Böttigers steile These eine Menge Folgeuntersuchungen zur Literaturbetriebskunde nach sich ziehen wird: z.B. zur Geschichte der Buchmessenprogramme, zur Geschichte der Lesungskultur in Buchhandlungen und Schulen, zu den Literaturverlagen und ihren Bemühungen, Autoren in der (Lese-)Öffentlichkeit zu lancieren. Solche Untersuchungen könnten in der Summe oder im Detail Böttigers These relativieren, aber gäbe es sie ohne sein Buch? (Vgl. bereits seither Achim Geisenhanslüke/Michael Peter Hehl (Hg.): Poetik im technischen Zeitalter. Walter Höllerer und die Erfindung des modernen Literaturbetriebs. Bielefeld 2013).

d) Die Gruppe 47 in ihrer Auswirkung auf die Geschichte der professionellen Literaturkritik in Westdeutschland: Diesem Aspekt gilt erkennbar die meiste libidinöse Energie des Autors Böttiger, der selber Kritiker ist. Hier kennt er sich am besten aus, hier ist er gleichsam Mitbetroffener (oder: Leidtragender). Aufstieg und Fall der Geltungsansprüche professioneller Literaturkritik unter den wechselnden Performanzbedingungen bei Tagungen der Gruppe 47 sind niemals zuvor so stringent und überzeugend dargestellt worden wie hier.

Böttiger schildert, wie auf den ersten Tagungen die Kritik zunächst als Werkstattgespräch unter Freunden konzipiert war. Jede/r war Autor/in und Kritiker/in in Personalunion, eingeübt werden sollte eine nicht zuletzt grunddemokratische Gepflogenheit: die Kultur freier, spontaner, strikt textbezogener Rede und Gegenrede. Zu schweigen hatte man nur einmal: bei der Kritik des je eigenen Textes.

Im Laufe der Zeit differenzierten sich dann besondere Handlungsrollen heraus: Die einen waren mehr Kritiker als Autoren (W. Jens), andere kritisierten bald ausschließlich (zunächst Kaiser, später Hans Mayer und Reich-Ranicki). Immer mehr Berichterstatter verfolgten die Tagungen und berichteten auch über die Performance der Kritiker. Bald gab es die sitzräumliche Trennung von Autoren und Kritikern – die berühmte „Kritikerbank“ in der ersten Reihe.

Irgendwann dominierten die Kritiker und überführten das ungeschützte Werkstattgespräch in ein maßgebliches literaturkritisches Urteil, das – obgleich spontan-mündlich geäußert und keinesfalls den gleichen Begründungsstandards unterworfen wie die schriftliche Literaturkritik – in wenigen Minuten über Karrieren mitentscheiden konnte, einfach weil mittlerweile auch die Verleger und Lektoren im Publikum saßen, wenn die neuen literarischen Talente im Gruppengespräch seziert wurden.

Diese Entwicklung beargwöhnten früh die Autoren selbst – ohne ihr freilich viel mehr entgegensetzen zu können als treffende physiognomische Schilderungen. Böttiger zitiert, wie außerordentlich präzise Martin Walser schon 1962 in „Brief an einen ganz jungen Autor“ die Sprach- und Urteilstechniken der Großkritiker wie Höllerer, Jens, Kaiser oder Reich-Ranicki herausarbeitete, unter denen er bei den Tagungen zu leiden hatte.

Dem Bedeutungszuwachs der professionellen Kritik unter Bedingungen der Spontanperformanz entsprach kehrseitig die zunehmende Massenmedialisierung der Literatur: Höllerer brachte die Gruppe 47-Autoren schließlich auch ins Fernsehen, wo die Kritiker nun die Handlungsrolle des Moderators mit übernahmen.

Für Böttiger weist von hier aus – der „Internationalen Lesereihe“ 1961/62 vor Tausenden von Besuchern im großen Saal der Berliner Kongresshalle, live übertragen im SFB-Fernsehen – ein direkter Weg zum späteren ZDF-Erfolgsformat „Literarisches Quartett“ (1988-2001) einerseits und dem Klagenfurter Bachmann-Preis andererseits, den es seit 1977 gibt und bei dem bis heute ein mündlich geäußertes Kritikerurteil zu einem vom Autor persönlich vorgelesenen, unveröffentlichten literarischen Text fernsehgerecht inszeniert wird (bis 1997 war das – wie bei der Gruppe 47 – ein spontanes Urteil, seither erhalten die Kritiker die Texte eine Woche vor der Lesung).

In beiden Unternehmungen lange nach dem Ende der Gruppe 47 hatte Reich-Ranicki federführend seine Hände im Spiel. Es gehört zu den bitteren Pointen von Böttigers Buch, dass der Bedeutungszuwachs, den die Literaturkritik durch das Gruppenregime erfuhr, letztlich auch mitursächlich dafür ist, dass die Kritik bis heute stark an Standards und Legitimität verloren hat.

Paradigmatisch dafür ist für Böttiger die Medienkarriere von Marcel Reich-Ranicki. Erst die Gruppe 47 hatte die Kritiker zu gleichberechtigten Stars des Literaturbetriebs gemacht. Und MRR bewies ein untrügliches Gespür dafür, wie sich die „Mechanismen der Gruppe 47 in der sich entwickelnden Mediengesellschaft weiterführen“ ließen. Innerhalb der Gruppe war er gleichsam noch der Fernsehkritiker ohne Fernsehen.

Obwohl alle dem Spontaneitätsprinzip der Mündlichkeit unterworfen waren, fiel noch auf (und wurde honoriert), dass Mayer, Jens, Höllerer, Baumgart und Kaiser weitaus differenzierter literaturkritisch urteilten. MRR war in ästhetischer Hinsicht längst noch nicht tonangebend, wurde vielmehr für seine effekthascherische Rhetorik mit erkennbarem „Willen zur Pointe“, für das dominante „Stilmittel sofortiger Überrumpelung und verblüffender Eindeutigkeit“ vielmehr beargwöhnt.

Erst seit die Zeitung nicht mehr das Leitmedium der Literaturkritik ist – und diese Entwicklung wurde von den Performanzbedingungen der Kritik in der Gruppe 47 entschieden begünstigt –, konnte ein Kritikertypus wie der von MRR dominant werden. Der Kritiker als Star, der lobt oder verreißt, und das in publikumswirksamer Entschiedenheit, einer, der sich nicht länger als Partner des Autors oder Mäeut des im Entstehen begriffenen Textes versteht, sondern der sich ungefragt zum Anwalt des Publikums aufschwingt. So zelebrierte es die Kritikerrunde im „Literarischen Quartett“, weitergeführt und noch zugespitzt in Elke Heidenreichs Nachfolge-Format „Lesen!“ (2003-2008), wo Kritik sich vollends in Lesepädagogik (mit Ausrufezeichen!) transformiert hat.

Böttiger zitiert, wie MRR das frühere Gruppenprinzip der solidarischen Werkstattkritik negiert: „Sie schreiben für Autoren, ich schreibe für Leser. Ich bin nicht hierhergekommen, um Autoren Unterricht zu erteilen…“. Negiert wird das Prinzip der Werkstattkritik zugunsten eines spontaneitätsgeleiteten literaturkritischen Geschmacksurteils – als eher unaufwändig begründete Leseempfehlung: „Indem Reich-Ranicki den Kritiker zum großen Popanz aufblies, schaffte er ihn ab.“

Dass Böttiger, der sich selbst nach wie vor als Zeitungskritiker versteht, unter dieser Erosion der literaturkritischen Standards leidet, kann man gut nachempfinden. Und trotz seiner erkennbaren Sympathien für die Gruppe 47 und deren literaturgeschichtlichem Rang drückt er sich keineswegs um jene Erkenntnis herum, die schließlich zu den maßgeblichen Einsichten seiner Studie gehört: Erst die Gruppe machte die Nachkriegsliteratur groß und medienbedeutsam. Und indem sie das tat, depotenzierte sie die Kritik – bis heute.

Da muss man ihm beipflichten. Das Prinzip der öffentlichen Werkstattkritik ist fast völlig verschwunden. Ungeschützte Kritik an unveröffentlichten Texten riskieren die jungen AutorInnen nur mehr in den geschlossenen Räumen der akademischen Schreibausbildung von Leipzig oder Hildesheim. Und wer es als Autor doch wagt, sich in Klagenfurt TV-öffentlich verreißen zu lassen, sieht meist gut aus und/oder hat den Verlags- oder Agentenvertrag schon in der Tasche.

Was hat nun Böttigers Buch mit Pop zu tun? Es gibt ein Kapitel, das heißt: „Beschreibungsimpotenz. Die Geburt der Popliteratur aus dem Geist der Gruppe 47“. Es handelt von der vorletzten regulären Tagung in Princeton 1966, auf der der scheue Tagungsnovize Peter Handke seinen berühmten, fulminanten Gruppenbeschimpfungsauftritt hinlegte.

Als er im Anschluss an die Lesung von Hermann Peter Piwitt die Diskussion mit den Worten eröffnete (nach der Tonbandabschrift): „Ich bemerke, dass in der gegenwärtigen deutschen Prosa eine Art Beschreibungsimpotenz vorherrscht. Man sucht sein Heil in einer bloßen Beschreibung, was von Natur schon das billigste ist, womit man überhaupt nur Literatur machen kann. Wenn man nichts mehr weiß, dann kann man immer noch Einzelheiten beschreiben. Es ist eine ganz, ganz unschöpferische Periode in der deutschen Literatur doch hier angebrochen (…) Und die Kritik – ist damit einverstanden, weil eben ihr überkommenes Instrumentarium noch für diese Literatur ausreicht, gerade noch hinreicht. Weil die Kritik ebenso läppisch ist wie diese läppische Literatur.“

Danach hatte die literarisch eher langweilige Tagung ihr Thema. Handke wurde zum meistfotografierten Schriftsteller in Princeton. Man verglich seinen Haarschnitt mit dem Pilzkopf der Beatles, und später veralberte er amerikanischen Journalisten gegenüber Gruppenleitwolf Grass als „neuen Ganghofer“ und stellte sich selbst als Nachfolger Kafkas vor. Die Beschimpfung nach der Piwitt-Lesung hatte mit dem Piwitt-Text ersichtlich wenig bis gar nichts zu tun und war auf einem Zettel vorgeschrieben und wurde davon abgelesen.

Was Böttiger in dem sehr prägnanten und unterhaltsamen Kapitel nun aber gar nicht sagen will: dass diese Beschimpfung Popliteratur sei. Schon gar nicht, dass der literarische Text, aus dem Handke seinerseits am Vortag vorgelesen hatte (und damit mehrheitlich durchgefallen war: Der Hausierer), die Geburt der Popliteratur gewesen sei. Denn auch dieser Text war strenggenommen viel eher beschreibend als erzählend oder gar pop. Was Zeitzeugen (etwa Friedrich Christian Delius) sogar zu der Annahme verleitete, Handkes Tirade sei nichts anderes als eine subtile Form der Selbstbezichtigung gewesen.

Wieder also eher eine sinnentstellende Kapitelüberschrift. Denn Böttiger schreibt vielmehr: „Handkes Auftritt in Princeton ist (…) nichts anderes als die Geburt einer deutschen Popkultur aus dem Geist der Gruppe 47. Innerhalb von zwei, drei Minuten wurde Handke zum Markenzeichen.“ Wie ein Schriftsteller sich einen Markenkern verschafft und sich auch für die nicht-literarische Öffentlichkeit inszeniert, das ist hier also mit Popkultur gemeint. Als Hans Werner Richter ihm nach der Tirade sagt: „Nun werden Sie ja wohl in den SPIEGEL kommen“, sagt Handke: „Das weiß ich und das will ich ja.“

Böttiger hat aber nicht nur die alten Quellen gesichtet und zusammengestellt, sondern auch Zeitzeugengespräche geführt und damit neue Quellen generiert. So verdanken wir ihm folgende Handke-Anekdote aus Princeton, kolportiert von dem damals 25-jährigen ebenfalls Gruppendebütanten Klaus Stiller, der sich erinnert, wie er mit Piwitt und Chotjewitz eine Flasche Whiskey gekauft hatte und durch den Princetoner Uni-Park schlenderte:

„Und dann lief vielleicht so 50 Meter hinter uns dieser scheue Beatle, und der tat uns irgendwie leid, so dass wir auf ihn gewartet haben und ihn in die Gruppe mit hineinnahmen. Und er selbst war dann immer noch schüchtern und hat kaum was gesagt. Da saßen wir alle zusammen auf so Bänken, und um zu zeigen, was er für ein Kerl ist, hat er dann ein Mädchen angesprochen, die vorn an uns vorbeiging, eine junge Amerikanerin. Und rief dann – und ich sag das, weil es einfach die Situation schildert, in der der Handke sich damals befand, er wollte auch zeigen, was für ein Kerl er ist, aber er war eigentlich ein ganz schüchterner Typ. Und um das zu beweisen, hat er gerufen. Hello, I want to fuck you! Und da haben wir natürlich gelacht, und das Mädchen hat auch gelächelt und ist weitergegangen.“

Das war vor seinem großen Auftritt. Man stelle sich vor, der Handke hätte diese sexual-harassment-Nummer auf einem amerikanischen Ivy-League-Campus heute hingelegt, das Mädchen hätte vielleicht gar nicht gelächelt, sondern gleich den code-of-conduct bemüht, dann wäre Handkes Markenkern schon implodiert, bevor es ihn überhaupt gegeben hätte.

Aber viel wichtiger: Eine Pointe der Handke-Tirade entgeht Böttiger, vielleicht weil er nur ausschnittweise nach der Mitschrift zitiert. Wenn man aber dieses großartige Audio-Dokument vollständig anhört, dann hört man nicht in erster Linie einen inszenierungsgewissen Kafka-Darsteller und Publikumsbeschimpfer, sondern einen, der stockend und stammelnd einen vorgeschriebenen Zettel abliest, der mühsam ein Grundsatzreferat auf Hochdeutsch zu halten versucht („eine Oart, eine Art Beschreibungsimpotenz“) und dadurch mit dem Gruppenprinzip bricht, einzig zum vorgelesenen Text zu sprechen.

Man hört aber zugleich einen Autor, der in eigener Sache spricht, der sich wehrt gegen die Kritik, die ihm selber am Vortag durch die Gruppe zuteil wurde und die er als ungerecht empfand – so wie bestimmt viele andere Autoren bei den Gruppentagungen vor ihm. Auch die Lesung Handkes in Princeton und die anschließende Spontankritik am Hausierer kann man nachhören: „Der Hausierer ist noch unterwegs. Das Wurstblatt hängt aus der Semmel. Heute wird ein heißer Tag werden. Das Ende eines Besenstils schaut aus dem Türspalt. Der Koffer ist zu auffällig. (…)“.

Darüber hatte dann Baumgart gesagt: „quicklebendige Totenstarre“, „Sekundärbeschreibung eines Films“. Grass fand es langweilig, Jens zählte zunächst die Relativsätze („man erlebt ja selten nur drei davon in 20 Minuten, und die waren noch nicht mal gut“) und sprach dann von einer „grammatikalischen Etüde“, einem „Versuch, nur auf den schwarzen Tasten zu spielen“; Wohlmeinende erkannten Anklänge an den Grazer methodischen Inventionismus, worauf Reich-Ranicki kokett und pointensicher bekannte: „Ich gebe zu, dass mir die Theorie des Grazer Inventionismus nur sehr oberflächlich bekannt ist (Lacher), (…) ich glaube nicht an diese Schreibweise, die hier vorgeführt wurde, ich glaube, dass das Ganze in einem sehr primitiven, (…) doch sehr altmodischen Manierismus landet.“ Das war im Wesentlichen die Reaktion der Kritikerbank auf den Debütanten Handke.

Und dann wird auch klar, dass Handke im Fortgang seiner Tirade, da, wo Böttiger sein Zitat enden lässt, in eigener Sache spricht, dass hier ein zutiefst gekränkter Autor seinen Text gegen eine als unzulänglich empfundene Kritik zu verteidigen sucht. Nochmal der Übergang: „Und die Kritik – ist damit einverstanden, weil eben ihr überkommenes Instrumentarium noch für diese Literatur ausreicht, gerade noch hinreicht. Weil die Kritik ebenso läppisch ist wie diese läppische Literatur. Wenn nun…“, so fährt Handke fort und meint seinen eigenen unverstandenen Text, „eine neue Sprachgestik auftaucht, so vermag die Kritik nichts anderes als eben zu sagen, entweder das ist langweilig, sich in Beschimpfungen (sic!) zu ergehen oder auf gewisse einzelne Sprachschwächen einzugehen, die sicher noch vorhanden sein werden (sic!). Das ist hier die einzige Methode, weil die Kritik, das überkommene Instrumentarium eben hier nicht mehr hinreichen kann (…).“

Man muss die Stelle im Zusammenhang anhören, dann kommt sie einem viel artiger und apologetischer vor als die Legende vom poppigen Provokateur im Beatles-Look, der die herrschenden Platzhirsche zu Schlappschwänzen erklärt.

Etwas anderes an dem Auftritt scheint mir wesentlich – und das war das Ende der Nachkriegsliteratur. Bis dahin galt als „Idealfall eines Autors der Gruppe 47 (…): die Kritik musterhaft zu ertragen“, zu schweigen und „den Freundes- und Kollegenkreis nicht durch primadonnenhaftes Beleidigtsein zu düpieren“ – wie Böttiger schreibt. HW Richter las mehrmals vor und wurde jedes Mal verrissen. Dass er diese Kritik gleichsam soldatisch ertrug, das erst verschaffte ihm als primus inter pares den professionellen Respekt.

Handke ist der erste, der mit seiner Suada in Princeton mit diesem Prinzip bricht. Warum stillhalten? Mit welchem Recht soll der Autor von einer Kultur der freien Rede und Gegenrede ausgenommen bleiben? Handkes Betriebsbeschimpfung 1966 war weniger die Geburt der Popkultur aus dem Geiste der Gruppe 47 als gerade die Folge jener Einübung demokratischer Gepflogenheiten, auf die Richter die Gruppe stets zu verpflichten suchte: Es war die Emanzipation des Autors gegenüber dem Nachkriegsregime der Kritik.

 

Bibliografischer Nachweis:
Helmut Böttiger
Die Gruppe 47. Als die deutsche Literatur Geschichte schrieb
München 2012
Deutsche Verlags-Anstalt
ISBN: 978-3-421-04315-3
478 Seiten

 

Jörg Döring ist Professor für Neuere deutsche Philologie, Medien- und Kulturwissenschaft an der Universität Siegen.