Szenenvielfalt. Rezension zu Yvonne Franke u.a. (Hg.), »Feminismen heute«
von Martin Seeliger
5.3.2015

Intersektional

Das politische Projekt ‚Feminismus‘ ist zwar nicht erst knapp fünfzig Jahre alt, hat sich aber vor allem seit den späten 1960er Jahren einer bemerkenswerten Ausdifferenzierung unterzogen. Der im Rahmen der Wissenschaftlerinnenwerkstatt der Hans-Böckler-Stiftung geförderte Band setzt sich zum Ziel, „einen kaleidoskopische[n] Blick auf feministische Vielfalt“ im deutschsprachigen Raum zu entwickeln. Einen Anspruch auf Vollständigkeit der Abbildung eines feministischen Panoramas lehnen die Herausgeberinnen hierbei explizit ab. Dies liegt nicht nur daran, dass Feminismus als politische Bewegung ihnen als insgesamt schwer zu überblicken erscheint. Aufgrund der eigenen politischen Position werden konservative Feminismen absichtlich nicht berücksichtigt (27).[1]

Die Zusammenstellung der Beiträge folgt hierbei dem Prinzip einer möglichst umfassenden Abbildung der Vielfalt feministischer Initiativen. Hierbei sollen auch bislang in der feministischen Diskussion unterrepräsentierte Themen, wie zum Beispiel Mutterschaft, in Betracht gezogen werden.[2] Die einzelnen Beiträge des Bandes werden im Folgenden (teilweise nur sehr) kurz vorgestellt, hier und da kommentiert und abschließend zusammenfassend beurteilt.

Der Band ist in vier Teile gegliedert: Einer Eingangs-Darstellung mit Vorwort von Gudrun-Axeli Knapp folgt im ersten Teil ein historisch-grundbegrifflicher Beitrag von Gisela Notz. Indem sie frühe Spaltungslinien zwischen bürgerlicher und proletarischer Frauenbewegung aufzeigt, verdeutlicht Notz die Hindernisse feministischer Bündnispolitik als geschichtliche Konstante (39). Ihre „analytische Unterteilung“ der zweiten Frauenbewegung (46) in liberale, radikal autonome und linke Feministinnen zeichnet politische Lagerbildung vor allem entlang kapitalismuskritischer Linien (und nicht Sexualität oder Ethnizität) nach.[3] An ihre Vorstellung geschlechterpolitischer Wirklichkeit knüpft Notz eine zeitdiagnostische Einschätzung der (deutschen?) Forschungslandschaft, innerhalb derer „kritische Wissenschaft heute fast ausschließlich im Elfenbeinturm der mittlerweile etablierten Genderforschung produziert“ werde – „die meisten Universitäten“ seien „nicht mehr Orte kritischer Wissenschaft“. Das finde ich übertrieben und – in der Kürze – auch unfair.[4] Aber politisch tendenziöse Wissenschaft neigt nun mal zu Übertreibung, nicht zuletzt aus identitären Gründen.

Ein zweiter Buchabschnitt trägt den Titel ‚Ansätze und Perspektiven‘. Verschiedene Autorinnen stellen hier „schwarzes feministisches Denken und Handeln“, queer-feministische und muslimische Positionen, die Ansätze der Disability Studies und Postcolonial Studies und des marxistischen Feminismus (feministischen Marxismus?) als Blickwinkel vor. Alle Beiträge sind zumeist klar und zugänglich geschrieben. Man erfährt zwar nicht viel grundlegend Neues, aber die Aufbereitung konzeptioneller Zugänge erscheint gelungen und darum geht es ja hier.

Positiv fällt mir auf, dass eine intersektionale Sichtweise auf das Zusammenwirken sozialer Kategorien bei der gesellschaftlichen Positionierung von Individuen und Gruppen mittlerweile allgemein anerkannt zu werden scheint. Besonders mochte ich den Beitrag von Frigga Haug. Der biografisch inspirierte Beitrag adressiert zum ersten Mal systematisch das Thema gesellschaftlicher Arbeitsteilung unter geschlechterpolitischen Aspekten. Endlich. Inhaltlich wird zwar auch wieder ‚nur‘ die bekannte 4in1-Perspektive (Gestaltung von Geschlechterpolitik unter Aspekten von Erwerbs- und Reproduktionsarbeit sowie Genuss und politischer Teilhabe) vorgestellt, aber es soll ja auch nicht in erster Linie Neues erarbeitet, sondern Bewährtes vorgestellt werden.

Der folgende Abschnitt ‚Themen und Felder‘ stellt einige Bereiche feministischen Engagements vor (Neue Medien, Mutterschaft, Ökonomie, Körperlichkeit, Care-Arbeit, Recht, Medizin, Vergewaltigung, Mädchenarbeit). Besonders interessant erscheinen hier außerdem die von den Autorinnen gewählten Formate (z.B. dialogisch im ‚Küchengespräch‘ oder auch immer mal wieder biografisch gefärbt: Wenn etwa Kübra Gümüsay oder Nadia Shedaheh darlegen, warum Feminismus aus einer bestimmten Sicht „rassistisch, islamophob und arrogant“ (146) erscheinen mag, gewinnt die Äußerung ihr besonderes Gewicht auf Grund der persönlichen Erfahrung, die sie hervorbringt.

Ein ebenfalls häufiger im Band vorzufindendes Stil- und Analysemittel findet sich etwa bei Lisa Malich, wenn sie anschließend an Angela McRobbie die ‚Top-Mom‘ als Sozialfigur beschreibt. So macht Kultursoziologie Spaß!

Im Beitrag der Marburger Gruppe zu feministischer Mädchenarbeit zeigt sich abermals, dass Intersektionalität mittlerweile als paradigmatische Klammer der feministischen Perspektive angesehen werden kann. Eine Ausnahme wurde für mich allerdings bei Eggers und Mohamed sichtbar: „Um (die Komplexität und Hybridität von) Deutschsein zu verstehen“, proklamieren Vertreter des Critical-Whiteness-Ansatzes, „dass die Präsenz von People of Color und Schwarzen Deutschen zentral ist für die Konstitution und das Funktionieren des deutschen Staates als Gefüge“ (67). Das finde ich sehr interessant. Die biodeutsche Bevölkerung braucht ihr Anderes? Oder der Verwaltungsapparat? Es wäre schön, wenn sowas weiter ausgeführt würde, evtl. auch als Kritik materialistischer Staatstheorie (Poulantzas 1975). Es handelt sich hier m.E. um hochinteressante Thesen, nur sind sie nicht belegt, geschweige denn argumentativ unterfüttert. Die Autorinnen wissen das sicher besser! So erinnert es mich aber bisweilen an aufgeregte Diskussionen in autonomen Jugendzentren, in denen alle nicht so richtig wissen, was sie meinen (ich habe da viel Erfahrung mit!).

Wieder einmal erscheint mir der Beitrag zu Ökonomie als besonders interessant. Ähnlich wie schon in ihrem Einführungstext (Haidinger/Knittler 2013) erwecken die Autorinnen den Eindruck, der weitgehende Ausschluss feministischer Themen und Fachvertreter aus dem Bereich der Ökonomie geschehe mit bewusster Absicht [„strategisches Schweigen“ – (169)]. So eine These müsste man m.E. besser belegen, bzw. genauer definieren, inwieweit Strategien absichtlich verfolgt werden.

Der dritte Teil des Buches wirft Schlaglichter auf feministische Kulturproduktion im weiteren Sinne (Frauenhäuser, feministische Freiräume an der Universität Bielefeld, Selbstverteidigung, Frauengesundheit, feministischer Film, Rap und nochmal Feminismen „of Colour“). Für eine an Populärkultur interessierte Leserschaft mag interessant erscheinen, dass verschiedene Songtexte von Bernadette La Hengst, die den großartigen Albumtitel „Integrier‘ mich, Baby“ gewählt hat, sowie von Kerstin und Sandra Grether im Buch abgedruckt sind. Das ist eine interessante Abwechslung und unterstreicht erneut die Vielfalt feministischen Engagements im deutschsprachigen Raum (und hauptsächlich in Deutschland).[5]

Das finde ich alles interessant, aber hier fehlt mir dann irgendwie schon eine größere Klammer. Dabei steht der (m.E. sehr gute) Vorschlag ‚Arbeit‘ doch schon immer (und im Buch seit Frigga Haug) im Raum!!!

Und die besondere Bedeutung von Arbeit sieht man auch wieder am Beitrag über „Brot und Rosen“. Das Lied zu dem durch die Industrial Workers of the World organisierten Streik migrantischer Textilarbeiterinnen in Massachusetts Anfang des 20. Jahrhunderts stellt einen wunderbaren Ausgangspunkt feministischer Programmatik dar [Ethnizität/Staatsbürgerschaft, Klasse und Geschlecht (+X) als Praxis, Struktur und symbolische Ordnung im Verhältnis zur Organisation von Leistungserstellung und Güterverteilung].

Meine persönliche Sternstunde mit dem Band erlebte ich, als „Dagmar“ und „Magdalena“ – wieder in Dialogform – das Verhältnis der Anerkennung des am Körper inszenierten Modegeschmacks und der Möglichkeit der Regulierung transnationaler Wertschöpfungsketten in der Textilindustrie erörtern. Genau so können Kultur- und Arbeitssoziologie kombiniert werden, um erklären zu können, wie ungerechte Produktionsverhältnisse legitim werden und bleiben. Die im Beitrag formulierte Kritik ist pointiert, radikal und reflexiv:

„Und gleichzeitig muss ich mich selbst in Frage stellen. Ich muss meine eigenen Positionen als ‚Weiße‘, im Globalen Norden positionierte Akademikerin, die einiges an Konsummöglichkeiten hat, in Frage stellen, wenn ich wirklich hinterfragen will, wie dieses System funktioniert und warum dieses System globale Ausbeutung zur Grundlage hat“ (305).

Das gefällt mir gut. Genauso wie die (implizite) Integration des „Identitätsbehaupters“ (Schimank 2010) in die Analyse von Codes of Conduct als Instrument internationaler Erwerbsregulierung: „Der ethical turn addiert so zum Distinktionsspiel nur noch eine weitere Ebene: Ich kann mich nun auch noch über das ethische Konsumieren abgrenzen“ (307). Hohes (und undogmatisch zusammengebautes) theoretisches Reflexionsvermögen, aufgewandt zur Rahmung der richtigen empirischen Fragen.

Den Zweck eines Überblicks über Feminismus im deutschsprachigen Raum erfüllt der Band insgesamt sehr gut (bis auf die konservative Leerstelle eben). Besonders Leute, die sich nicht gut mit dem Thema auskennen, werden hier viele wichtige Neuigkeiten erfahren – und dies in sehr zugänglicher Form: Die Beiträge erscheinen mir alle als gut und verständlich geschrieben; das ist bei wissenschaftlichen Texten ja nicht immer der Fall.

„Kaleidoskopischer Blick“ ist als Beschreibung zur Programmatik des Buches insofern gut gewählt, als eine verschiedenfarbige Konstellation abgebildet wird, deren genaue Systematik sich nicht auf Anhieb erschließt (mir jedenfalls nicht). Aber das spiegelt die Wirklichkeit des Feminismus in Deutschland ja auch gut wider, denke ich. Und dem Einführungscharakter des Buches entspricht es auch. Man kann Einführungen ja auf (mindestens) zwei Weisen konzipieren, einmal historisch (und dann zumeist als Monographie) oder grundbegrifflich (und dann auch öfter mal als Band). Auf letztere Weise ist dies hier wunderbar gelungen.

Definitiv besser wäre m.E. eine stärkere Berücksichtigung des Arbeits- und Wirtschafts-Themas. Leider wird das in diesem Band auf drei Beiträge beschränkt. Der Diffusion einer solchen Perspektive wünsche ich dieselbe Zukunft wie dem Konzept der Intersektionalität. Dass dieser Wunsch vermutlich nicht in Erfüllung gehen wird, liegt m.E. nicht unbedingt an der tatsächlichen Komplexität des Gegenstandsbereichs. Meine Theorie: Er wirkt auf viele einfach langweilig und kompliziert. Politische Haarfrisuren (322) und LBTG sind dann doch irgendwie interessanter und (scheinbar) weniger schwierig zu durchschauen.[6]

Dem Vorhaben, den „Status Quo mit einem Grinsen in Frage“ stellen zu wollen, wie es z.B. in der Selbstbeschreibung des „Missy Magazin“ formuliert wird, würde es sicherlich nicht schaden, den Blick stärker auf Produktionsverhältnisse zu richten. Oder doch? Wäre das politische Projekt dann im Mainstream weniger attraktiv? Ein Dilemma feministischer (und linker?) Politik? Vermutlich.

 

Anmerkungen

[1] Kann ich nachvollziehen (Stichwort: Bündnispolitik). Andererseits finde ich es auch schade, denn ich hätte gern mehr über sie erfahren.

[2] Ist Mutterschaft wirklich ein unterrepräsentiertes Thema? Mit den Publikationen von Lenz (2008) und Villa/Moebius (2011) fallen mir auf Anhieb zwei wesentliche Beiträge ein, und eine entsprechende Präsenz des Themas nehme ich auch in der zeitgenössischen feministischen Öffentlichkeit wahr. Wenn ich da nicht falsch liege, handelt es sich möglicherweise hierbei um die anfangs angesprochene Schwierigkeit, feministische Diskurse vollständig zu überblicken.

[3] Für eine alternative Typologie siehe Lenz (2008), für eine postkoloniale oder queer-theoretische Kritik hieran stehen exemplarisch verschiedene andere Beiträge im Buch. Dass sich feministische Vielfalt auch in selbst-reflexiven Sichtweisen widerspiegelt, wird spätestens hier erstmals deutlich (obwohl eine explizite Kritik an Notz im Buch ausbleibt; hat man untereinander nicht offen streiten wollen? Oder war das nicht klar?)

[4] Die Friedrich-Ebert Stiftung, für die Notz lange tätig war, steht – soweit ich das für den arbeitspolitischen Bereich beurteilen kann – beispielsweise auch nicht unbedingt für Positionen jenseits (maximal) linkssozialdemokratischer Reformprogrammatik. Und kritische Wissenschaft fast nur in den Gender-Studies? Oder nur in Bezug auf Feminismus jetzt? Ich verstehe es wirklich nicht…

[5] Ehrlich gesagt verstehe ich nicht so ganz, was die Texte hier verloren haben. Aber möglicherweise ist das auch ein Abwehrreflex. Diese Populärkultur ist mit ihrer undifferenzierten Oberflächlichkeit und kurzfristigen Impulsivität ja viel einflussreicher als die sperrige Wissenschaft. Schön jedenfalls, dass die Herausgeberinnen mit der Aufnahme der Beiträge Irritation erzeugen!

[6] Ob das stimmt, ist sicherlich eine andere Frage.

 

Literatur

Haidinger, Bettina; Knittler, Käthe (2013): Feministische Ökonomie. Wien: Mandelbaum

Lenz, Ilse (Hg.) (2008): Die Neue Frauenbewegung in Deutschland und ihre Folgen. Abschied vom kleinen Unterschied. Wiesbaden: VS

Poulantzas, Nicos (1975): Staatstheorie. Politischer Überbau, Ideologie, Autoritärer Etatismus. Hamburg: VSA

Schimank, Uwe (2010): Handeln und Strukturen. Einführung in die akteurtheoretische Soziologie. Weinheim: Juventa

Villa, Paula; Moebius, Stephan (Hg.) (2011): Soziologie der Geburt: Diskurse, Praktiken und Perspektiven. Frankfurt a.M./New York: Campus

 

Bibliografischer Nachweis:
Yvonne Franke, Kati Mozygemba, Kathleen Pöge, Bettine Ritter, Dagmar Venohr (Hg.)
Feminismen heute. Positionen in Theorie und Praxis.
Bielefeld 2014
Transcript Verlag
ISBN: 978-3-986-2673-5361
400 Seiten

 

Dr. Martin Seeliger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Arbeit und Wirtschaft an der Universität Bremen.