Postheroische Phase?
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 5, Herbst 2014, S. 87-90]
Über – de – περι; schon durch seinen Titel reiht Diedrich Diederichsens »Über Pop-Musik« sich ein in die großen Abhandlungen des Abendlandes, als ›opus magnum‹ eines Autors, der seit über drei Jahrzehnten den intellektuellen Diskurs über Pop in Deutschland verkörpert wie kein zweiter. Hier stellt einer auf dem Fundament von Tausenden eigener Essays, Kolumnen, Diskussionen und Plattenrezensionen (angedeutet in der seriellen Collage des Buchumschlags) noch einmal die ganz basale Frage: ›Was?‹, Was ist das, Pop-Musik?
Er stellt sie, auch dies ist singulär, zugleich als Fan, Rezipient, Mitglied einer Nachkriegsgeneration, deren »life was saved by rock ’n’ roll«, und als Journalist, Kritiker und Wissenschaftler, als Dilettant und Profi. Schon deshalb dürfte klar sein, dass die Antwort nicht annähernd so einfach ausfallen kann wie die Frage, und schon gar nicht kann sie lauten: eine Form von Musik.
Denn eines ist historisch wie autobiografisch unzweifelhaft: dass zu dieser Musik von Beginn an der Star gehört, sein Hüftschwung, seine Stimme, seine Bilder und Posen, die blauen Wildlederschuhe, der Golden Suit, die kreischenden Mädchen und die goutierenden Hipster. »One for the money, two for the show« – Warenförmiges, und das ist Pop-Musik, wird seit Anbeginn der Moderne aufgespalten und über mehrere mediale Kanäle vermittelt, und an diesem Punkt setzt die Studie an, ihren Gegenstand zu entfalten.
Da ist (1.) die individuelle Ansprache durch den Tonträger im Kinderzimmer, von Diederichsen mit Barthes’ ›punctum‹ konnotiert. Ein intimes, an den Körper rückgebundenes Individuelles, ein Kiekser, eine raue Stelle sensationiert den Hörer (›Sex‹! ›Authentizität‹!). Jedes wiederholte Hören der Platte erinnert an diesen Moment, an dem klar wurde: »Dass es etwas gibt.«
Ob es sich um Pop-Musik handelt, erkenne man dann (2.) daran, ob man darauf hin wissen will: »Was ist das da für ein Typ?« Über Bilder (angefangen mit dem Plattencover), Interviews, Homestories etc. entsteht der Eindruck eines Lebensentwurfs, den der Rezipient als Möglichkeit und Versprechen auf sich selbst bezieht.
Und (3.) erlebt man dann in Peer Group und Konzertpublikum – als Bestätigung oder Korrektiv –, dass man mit alledem nicht allein ist. Drei Medien (Ton, Bild, Live), drei Modi (ontologisch, existenziell, sozial), und alles über Geschmacks- und Stilfragen ästhetisch vermittelt. It might get complex.
Rainald Goetz hat schon darauf hingewiesen, dass »Über Pop-Musik« ein eigenes Lesetempo erzwingt. Die Prosa bewegt sich auf einem gewissen Abstraktheitslevel und wird opak, sobald man schneller lesen möchte; immer wieder setzt die Lektüre einsichtig ein paar der recht langen Zeilen weiter oben noch einmal neu an – weil es sich lohnt, weil sich auch im Detail konsequente Antworten auf alte Fragen ergeben, wenn man das Argumentationsgewebe nicht abreißen lässt.
Was ist beispielsweise mit den Lyrics – sagen Pop-Songs nicht auch ganz wörtlich etwas? Diederichsen schlägt auch diese Dimension noch Punkt (1.) zu, mit der Pointe, »dass ein zum Medium von Individualität degradierter Sinn dann, wenn er plötzlich verstanden wird, besonders zutreffend erscheint.« Erzählt wird im Folk, Musik aufgeführt in Klassik und Vor-Pop.
Aber auch im Pop sind musikalische Zeichen unterschiedlicher Länge im Spiel, geht es um Beats und Sounds und ihre Semantiken, die gelesen werden wollen. Kurz: Literatur-, Kultur- und vor allem Musikwissenschaften müssen keine Angst haben: Es wird ihnen hier nichts weggenommen, im Gegenteil – sie haben nach wie vor alle Arbeit am Gegenstand Pop-Musik vor sich. Nur die Dimension der Kontexte, in die ihre Ergebnisse gestellt werden müssen, um Relevantes zur Deutung beizutragen, wird hier neu definiert. Anders als sonst bisweilen, geht es Diederichsen dabei kaum je um polemische Zuspitzung, sondern um das Phänomen in seiner Gesamtheit. Auch nicht-favorisierte Haltungen, Lösungen und Entwicklungen werden ernst genommen.
In der Tat liegt man vielleicht nicht ganz falsch, wenn man den Ansatz dieses Buches als einen im Kern phänomenologischen begreift, auch wenn der Autor sich selbst wohl eher in methodischer Nähe zu Adorno, den er ernsthaft, ausführlich und fruchtbringend diskutiert, oder Luhmann sähe, dessen Medium-Form-Unterscheidung er aufgreift.
Es entsteht das faszinierende Bild einer Kulturindustrie, die das, was sie verkauft, nicht produzieren kann (»Die unmögliche Produktion« heißt ein Kapitel) – weder das ›punctum‹ noch die sozialen Effekte lassen sich gezielt herstellen. Auf der anderen Seite steht in der »heroischen Phase« der Pop-Musik (einst Pop I genannt) eine Gegenkultur der »Aushäusigkeit«, die sich immer schon massenproduzierter Zeichen bedient, »eine Rebellion, die mit der Ware kooperierte«.
Die historischen Argumentationslinien der Studie (entfaltet in Teil 3 und 5) zeigen auch, wie sich Pop-Musik von den anderen Pop-Künsten unterscheidet: insbesondere durch ihr Nicht-Verhältnis zu den historischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts. Stattdessen versteht Diederichsen sie als »Musik nach Jazz«. Wo dieser sich fremde Elemente aus der Kultur der Sklavenhalter aneignen musste, nimmt sich Pop-Musik ihr Material zweiter Ordnung aus dem »System«, dem Mainstream der Überflussgesellschaften, und baut daraus »kleine Embleme des Aufbruchs«. In beiden Fällen steht im Zentrum eine spezifische Persona zwischen Rolle und Authentizität, und zwar produktions- wie rezeptionsseitig, die anschlussfähig ist an politisch-ästhetische Entwürfe von Selbstermächtigung.
Aber auch angesichts der anhaltenden »postheroischen Phase« (weiland Pop II), in der diese »Person zur dominanten Erscheinungsform der Ware« geworden und es folglich »offensichtlich notwendig ist, dass Pop-Musik überall ist«, verfällt Diederichsen nicht in kulturkritische Nostalgie. »Der klassischen Meinung, dass jemand, der eine Konsumwahl mit einer existenziellen verwechselt, irgendwie blöd ist oder betrogen wurde«, hält er die Eigenschaft von Pop entgegen, das Versprechen, das der Ware eigen war, immer wieder zu erneuern und einzuklagen, es ästhetisch aufzubewahren, und sei es in der Nische.
Auf einem aber wird beharrt: »Ein guter Song ist nur gut, ein Erlebnis nur überwältigend, wenn es in Verbindung steht mit einer sozialen Energie« – Verhandlungen mit dem Kapitalismus und seinen warenförmigen Individualisierungsmöglichkeiten bleibt die historische Hauptaufgabe von Pop-Musik. Dies geschieht nicht im Sinne einer Message: Die Stilgemeinschaft, die sich um eine bestimmte Musik herum bildet, tut dies, bevor oder auch ohne dass sie in einem klassischen Sinne versteht.
Es geht also nicht um Hermeneutik. Auch geht es ausdrücklich nicht um Kunstförmigkeit, die als Perfektion und Verfeinerung am Ende jener geschichtlichen Abzweigungen droht, in denen jede popmusikalische Form (Metal, Punk, Ambient, Hip-Hop…) sich seit ihrer Entstehung weiter hält und entwickelt. Wenn man einen normativen Rest in Diederichsens Pop-Theorie erkennen will, dann in diesem Bestehen darauf, dass selbstreferenzielle Schließungen des Systems Pop – etwa in Form von Kunst – sein Ende wären. Sie werden daher bereits in der Definition von Pop-Musik ausgeschlossen.
Marginalisiert werden dabei jene weit verbreiteten popmusikalischen Stilgemeinschaften, die sich zwar durchaus im Sinne Diederichsens ›ad personam‹ identifizieren, aber weniger mit Styles, alternativen Lebensentwürfen oder Genderrollen, sondern vor allem mit dem technischen Outfit und Vermögen einer Band – welche Gitarre, welches Equipment, wie ist der Drummer, wie der Flow?
Hier ist die im Buch zumindest angedeutete Verwandtschaft von Pop-Musik mit Fußball greifbar, dessen Attraktion und Bedeutung als Sport ja genauso unzureichend erklärt wäre wie die von Pop-Musik als Musik – die Gemeinschaft ist gar nicht selten eine von Fans, die vermeintlich ebenso da stehen könnten, auf dem Platz oder auf der Bühne (»there was 15 million fingers / learnin’ how to play…«). Hier ist eine selbstreferenzielle Schließung des Systems Pop geradezu gängig, die quer zur Grundthese des Buches liegt.
Ist Diederichsens Studie »Über Pop-Musik« nun anschlussfähig für die Geisteswissenschaften? Das wollen wir doch sehr hoffen, und zwar für letztere! Nie zuvor ist, soviel ich sehe, aus dem journalistischen Pop-Diskurs, letztlich aus der Sekundärsozialisation des Fantums selbst, ein derart profunder Theorieentwurf hervorgegangen, eine neue, relevante Form einer Wissenschaft des Populären, an die wir uns werden gewöhnen müssen.
Selbst in ihrer Allgemeinheit lassen sich aber sofort akademische Anschlussstellen finden: Dean MacCannells Semiotik der Attraktionskultur, Wolfgang Ullrichs Konsumästhetik oder Jochen Venus’ Phänomenologie spektakulärer Selbstreferenz drängen sich unmittelbar auf. Auch den Spezialwissenschaften kann ein solcher Horizont, wie gesagt, nur gut tun – ihre Fachkompetenzen in Musik-, Text- und Bildanalyse wären einzubringen in ein übergeordnetes Konzept von Pop-Musik, wie es hier entworfen ist. Und dass die Phänomene in ihrer Komplexität die real existierende Ausdifferenzierung der Wissenschaftslandschaft unterlaufen, sollte seit dem Cultural Turn eigentlich bekannt sein. Deshalb betreiben wir ja Kulturpoetik.
Fans und Pop-Philologen wollen natürlich trotzdem wissen: Wie nah kommt man mit alledem den Songs? Diederichsens Buch liefert keine Analysen einzelner Stücke oder Platten, nur im vierten Teil lotet er spezifische Grenzpositionen von Popmusik aus (etwa von Mike Kelley, The Red Crayola oder Ultra-red). Wie gern – dies ein wiederholtes Sentiment des Rezensenten angesichts von Diederichsen-Lektüren – hätte man statt dessen etwas über, sagen wir, Big Star, The Silos oder PeterLicht gelesen. Oder wenigstens über AC/DC, Depeche Mode und Michael Jackson.
Nun, zu verstehen wäre, wie gesagt, ja nicht die Musik, sondern die Musik in ihrer spezifischen Rezeption. Stimme und Star, Persona und Stilgemeinschaft sind am ehesten zentral »in dem Gesamtkunstwerk ohne mediales Zentrum und ohne zentralisierende Medienarchitektur«, als das Pop-Musik hier dargestellt wird.
Der Song mit seinen sonischen und lyrischen Angeboten bleibt dabei nur ein Faktor unter vielen, aber doch immer auch ein Faktor, und so freut man sich über gelegentliche Wolkenlöcher im Abstrakten und legt bereichert einmal wieder »Itchycoo Park« (Small Faces), »I Feel Fine« (Beatles) oder auch den jüngst verstorbenen Johnny Winter auf, an dem der Autor um 1970 seine ersten Pop-Erfahrungen machte – schöne Nebeneffekte einer historisch situierten Theorie, gesättigt mit Erfahrung.
»Über Pop-Musik« ist der erste Versuch, das Gesamtphänomen auf der Höhe seiner kulturellen Komplexität darzustellen. Es gelingt ihm, seinen Gegenstand unter die großen Themen des Abendlandes zu heben; schon deshalb trägt es seinen Titel mit Recht.
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