Das Biennaleske oder: Ein Besuch bei den Castingshows des Kunstbetriebs
von Jörg Scheller
17.11.2014

Simultaneität von Starkult und emerging artists, von Standortpolitik und Kunstautonomie

[zuerst erschienen in: Caroline Y. Robertson-von Trotha (Hg.), Celebrity Culture. Stars in der Mediengesellschaft, Baden-Baden: Nomos Verlag, 2013]

Der Himmel über St. Moritz ist von kühlem, frischem Blau. Auf der Terrasse des Luxushotels Badrutt’s Palace parlieren die siegelringtragenden Gäste über Investmentmöglichkeiten und Feriendestinationen, hinter ihnen ragt unerschütterlich die Bergkulisse über dem St. Moritzersee auf. Von Zeit zu Zeit fällt leichter Sommerregen auf Versace-Täschchen und Maybach-Kühlerhauben.

An diesem Augustnachmittag des Jahres 2011 versteht man, warum der erklärte Aristokrat und Engadin-Urlauber Nietzsche 1884 in einem Brief über das nahe gelegene Sils Maria schrieb: „Hier ist gut leben, in dieser starken hellen Luft, hier, wo die Natur auf wunderliche Weise zugleich mild, feierlich und geheimnißvoll ist – im Grunde gefällt mir’s nirgendswo so gut als in Sils Maria.“[1]

Erhabene Natur einerseits, großbürgerliches bis aristokratisches Ambiente andererseits haben St. Moritz schon im frühen 20. Jahrhundert zu einer Drehscheibe des Jetsets der Reichen und Schönen, der Politiker, Medienstars, Unternehmer, Investoren, Dandys und Adligen gemacht. Alle von Rang und Namen waren hier – von Thomas Mann über den Schah von Persien bis hin zu Greta Garbo. Sie wohnten Pferderennen bei, fieberten beim Roulette im Kasino, dinierten in Gourmetlokalen, fuhren Ski, entspannten in einem der Bäder, bauten sich Chalets am Silvretta-Hang. Mittlerweile aber hat St. Moritz seine besten Tage hinter sich. Seit einiger Zeit stagniert der Tourismus, wenden sich die (Einfluss-)Reichen und Schönen exotischeren Luxusenklaven zu.[2] Was tun?

Der Himmel über St. Moritz ist von kühlem, frischem Blau – noch. Auf der Terrasse des Badrutt’s Palace haben sich Menschen versammelt, die auf etwas zu warten scheinen. Die Hälse gereckt, blicken sie in den Himmel, nesteln an ihren Digitalkameras und – da! Ein Punkt nähert sich rasch von Nordost, wird erkennbar als Helikopter, an dessen Unterseite etwas festgezurrt ist, was da eigentlich nicht hingehört: der Chinese Li Wei (Abb. 1).

Abb. 1: Projekt ,Lingua Franca‘, Kunstperformance von Li Wei; Quelle: St. Moritz Art Masters.

Was macht der da, außer, nun ist es zu erkennen, eigenartigen bunten Rauch zu verströmen? Li zählt zur aufstrebenden Gattung asiatischer Stunt- und Spektakelkünstler, baut gerne mit Menschenleibern lustig-sinnlose Skulpturen und fliegt heute höchstpersönlich farbstreifenversprühend durch das Engadin. Das Ganze wird selbstverständlich dokumentiert – ein Stück bemalten Sommerhimmels lässt sich schwer verkaufen.

Lis schrille Performance war Teil der St. Moritz Art Masters (SAM), die 2011 zum vierten Mal stattfanden. Die Ausstellungsreihe lud „regionale, nationale und internationale Künstler und Galerien“ ins Engadin ein, um eine, wie es im Pressetext heißt, „einzigartige und facettenreiche Erlebniswelt“ zu erschaffen.[3] Die ganze Region wurde dabei getreu dem an Biennalen orientierten Prinzip der large scale exhibitions jüngeren Datums[4] als „Walk of Art“[5] in das Programm miteinbezogen.

Dazu zählten unter anderem die „Engadin Art Talks“ mit prominenten Gästen wie Hans-Ulrich Obrist, Sarah Morris und Lawrence Weiner (in einer Turnhalle in Zuoz), weitere Kunstperformances am Ufer des St. Moritzersees (etwa Ferran Martins fire sculpture) und Ausstellungen an „gewöhnlichen und ungewöhnlichen Orten“[6] wie Galerien, Museen, Hotels, Kirchen oder einem verlassenen Schwimmbad – alles gut zu erreichen mit dem Limousinen-Shuttle.

Im vorliegenden Text werden die SAM als beispielhaftes Event für eine hybride globale Gegenwartskultur erörtert, die sich am deutlichsten auf Kunstbiennalen manifestiert.[7] Im Zentrum des Interesses steht die Simultaneität von Starkult und emerging artists, von Kritik und Kommerz, von Globalisierung und Glokalisierung, von Standortpolitik und Kunstautonomie. Diejenigen Festivals für internationale Gegenwartskunst wie die SAM, welche nicht zwingend alle zwei Jahre, aber doch kontinuierlich stattfinden, werden als ,Biennalesken‘ bezeichnet, um sie einerseits von der Biennale di Venezia abzugrenzen und sie andererseits in denselben genealogischen und strukturellen Zusammenhang einzurücken. Abschließend wird die These vertreten, dass Biennalen und Biennalesken heute eine ähnliche Rolle im Kunstbetrieb spielen wie Castingshows

Bewusst werden nicht nur Kunst-Stars und -Celebrities präsentiert, sondern auch weitgehend unbekannte Namen, bevorzugt aus ehemals ‚peripheren‘ Regionen. Neben dem „Bekannt-Sein“ als Grundprinzip von Starkult und Celebritykultur hat sich das „Bekannt-Werden“ und „Bekannt-Machen“ als integraler Bestandteil der Popkultur wie auch der Gegenwartskunst etabliert, wofür sich flexible, dynamische Formate wie Biennalen am besten eignen.

Dabei gilt: Je wolkiger die Ausstellungsmotti (etwa ,Making Worlds‘ oder ,ILLUMInazioni‘ auf den Biennalen von Venedig 2009 und 2011 oder ,Lingua Franca‘ bei den SAM 2011) und je internationaler die Künstlerinnen und Künstler, desto geringer das Risiko für Veranstalter wie auch Besucher: „Jeder kann sich sein Gegenwarts-Kaleidoskop zusammenstellen, denn für alle Besucher halten die großen Überblicksschauen mindestens ein paar Eindrücke bereit, die nachwirken und für die es sich dann auch gelohnt hat zu kommen.“[8]

Ins Leben gerufen wurde die Biennaleske SAM im Jahr 2008 als zehntägiges, jährlich stattfindendes Kunstfestival. Ziel der Veranstalter war es, dem darbenden Tourismus der Region ein wenig auf die Sprünge zu helfen und das patinierte Image der Stadt aufzufrischen – in dieser Hinsicht teilen die SAM eine ähnliche Gründungssituation mit der Biennale di Venezia (Abb. 2), welche primär zur kulturökonomischen Revitalisierung der Serenissima diente.[9]

Abb. 2: Neue Fassade des Ausstellungsgebäudes, 18. Biennale von Venedig, 1932; Quelle: aus der Sammlung des Autors.

Mit Reiner Opoku wurde ein Mann als Kurator eingesetzt, der Kunst nicht als das große Andere betrachtet, sondern als selbstverständlichen Teil des zeitgenössischen Warensortiments und des symbolischen Kapitals. So hatte Opoku vor seinem SAM-Mandat unter anderem das Kölner Kunstkaufhaus ,Kunsthaus‘ mitbegründet und sich als Anbieter eines Kunst-Investmentfonds versucht. Der eigentliche Initiator der SAM wiederum, Monty Shadow, ist als ehemaliger Playboy-Fotograf, Branding- und Marketing-Experte sowie Event-Impresario „im Dauerverkehr zwischen Ober- und Unterwelt unterwegs“,[10] wie Bazon Brock einmal treffend bemerkte.

Und was läge heute auch näher, als Standortmarketing mit zeitgenössischer Kunst zu betreiben? Schließlich haben im postindustriellen Zeitalter weiche Standortfaktoren deutlich an Härte gewonnen. Während sich Heavy-Metal-Festivals trotz der fortschreitenden Feuilletonisierung des Genres bis auf Weiteres nicht als Society-Events eignen, ist die Gegenwartskunst ein globaler, immer mehr Gesellschaftsschichten umfassender Boom-Sektor, über den auch in der Vogue oder in der Vanity Fair berichtet wird.

Weder die frei flottierenden Quasi-Avantgardismen und Idiosynkrasien noch die kritische Emphase oder die Hermetik der zeitgenössischen Kunst schrecken das Publikum ab – dies wiederum ein Unterschied zur Biennale di Venezia zur Zeit ihrer Gründung 1895, als ein eher konservatives Salon-Programm die Ausstellung dominierte. Im Gegenteil: Gegenwartskunst ist aktuell die produktivste Schnittstelle zwischen Oligarchie und Underground, Kritik und Kommerz, Tourismus und Erkenntnis, Hype und Diskurs, Mode und Widerstand, stardom und understatement, celebrity und integrity.

Trotz der stetig wachsenden Bedeutung des Kunstmarkts und der vielen friendly takeovers durch die Tourismus- und Modeindustrie haftet ihr überdies der hartnäckige Ruf an, per se eine ethisch-kritische Agenda zu vertreten, wie etwa Peter Sloterdijk in einem Interview suggerierte: „Leute mit hoher ethischer Motivation gehen heute eher in künstlerische oder therapeutische Berufe“.[11]

Gerade auf denjenigen sich selbst als zeitgemäß-progressiv verstehenden Kunstfestivals, die dem ,White Cube‘ Lebewohl sagen und den gesamten urbanen – und wie bei den SAM auch ländlichen – Raum miteinbeziehen, entstehen veritable Sittengemälde einer Gegenwart voller Widersprüche. So zählte etwa der türkische Großunternehmer Mustafa V. Koç mit seiner Koç Holding zu den Sponsoren der 11. Istanbul Biennale, die mit ihrem von Bertolt Brecht entlehnten Motto ,What Keeps Mankind Alive?‘ eine dezidiert linksalternative, kapitalismuskritische Agenda vertrat. Bezeichnend ist, dass diese inhaltliche Dimension in der Pressemitteilung der Koç Holding anlässlich der Eröffnung der Biennale erst ganz am Ende flüchtig erwähnt wurde. Den Anfang – und damit den impliziten Schwerpunkt – bildeten Statements zum Stadtmarketing:

„The hosting made by Istanbul as being one of the popular cities of the world and the 2010 European Capital of Culture assigns a more special meaning to the Biennial. By hosting such an invaluable art event, Istanbul will by far become a center of attraction in the global art circles and contribute to the development of our country with projects enhancing urban life.“[12]

Hier zeigt sich, wie zwanglos der Kapitalismus die Kapitalismuskritik zu assimilieren versteht – das christliche Prinzip „liebet eure Feinde“ jedenfalls praktiziert er heute mitunter glaubhafter als die Christen selbst. Luc Boltanski und Ève Chiapello haben treffend argumentiert, dass es gerade die Kritik gewesen sei, die den Kapitalismus bislang am Leben erhalten habe.[13]

Bei den SAM war 2011 eine noch drastischere Form der Simultaneität von Spektakel (etwa Li Weis Flugstunde), Diskurs (etwa die ,Engadin Art Talks‘), Kapitalismuskritik (etwa Alejandro Diaz’ ironische Neon-Installation happiness is expensive vor einem Torbogen der Altstadt, Abb. 3), exklusivem Sponsoring (unter anderem durch Finanzdienstleister, Premium-Autohersteller, Luxushotels) und pittoresken Schauplätzen zu beobachten.


Abb. 3: Projekt ,Lingua Franca‘, Alejandro Diaz; Quelle: St. Moritz Art Masters.

Das Festival musste sich einerseits ausreichend marktkonform, unterhaltsam, komfortabel und bürgerlich präsentieren, um die gut bis bestens situierte Klientel nicht zu verprellen.[14] Andererseits musste es durchaus auch spröde, kritisch, kompliziert und challenging zugehen, um nicht den Verdacht zu erwecken, man begnüge sich mit einer bloßen Bebilderung des Status quo. An letzterem beständig zu kratzen gehört in Künstlerkreisen wie auch in Vorstandsetagen mittlerweile zum guten Ton.[15] In der Managementliteratur spricht man in diesem Zusammenhang von commodify your dissent.[16]

Wohl deshalb stellte es in St. Moritz auch kein Problem dar, dass der Schweizer Künstler Jules Spinatsch ein Quäntchen Sozialkritik einbrachte, indem er vor dem Kempinski Grand Hotel des Bains eine Installation mit Überwachungskamera-Bildern präsentierte, aufgenommen am Wiener Opernball (Abb. 4).


Abb. 4: Walk of Art, Jules Spinatsch; Quelle: St. Moritz Art Masters.

Ein bisschen verhält es sich bei standortveredelnden Gegenwartskunstfestivals, von den üblichen Ausnahmen abgesehen, wie mit einem sadomasochistischen Rendezvous: Sie sollen schmerzen, aber gleichzeitig Lust bereiten; in Erinnerung bleiben, aber keine unschönen Narben hinterlassen. Zuckerbrot und Peitsche sind deshalb die wichtigsten kuratorischen Instrumente. Wurde man bei Spinatsch eher nachdenklich gestimmt, so konnte man sich in der Galerie Gmurzynska, wo bereits Sylvester Stallone seine Gemälde ausstellte, bei den schönsten Nackedeis aus dem Pirelli-Kalender erholen. Wenn schon anything goes, dann wirklich anything.

Weiterhin müssen die SAM – wie auch die documenta oder die Biennale di Venezia – einerseits mit großen Namen aufwarten, andererseits aber eine Fülle spannender Neuentdeckungen aus möglichst vielen Erdteilen aufbieten. Das Starprinzip gilt heute wenig ohne die simultane Präsentation der emerging stars, ob in der Mode, in der ,New Economy‘ oder eben im Kunstbetrieb. Sicherlich hat das Internet zu diesem Wandel beigetragen:

„The celebrity culture has definitively been decentralized by the influence of social networks such as Facebook. Multiple star systems with their own codes and platforms have broken up the influence that appraisals by Gala or Vogue once had. We are seeing networking and positioning strategies develop beyond the saturated celebrity scene of the [Venice, J.S.] Biennale opening, which are mirrored in the glossy magazines.“[17]

Eine Biennaleske wie die SAM 2011 verkörperte „multiple star systems“ in Reinform. So können die Stadt St. Moritz und die Region Engadin als ,Star-Standorte‘ oder ,Standort-Stars‘ bezeichnet werden, die bereits in Büchern, Fotos, Filmen oder Zeitungsartikeln mal huldvoll, mal kritisch kanonisiert worden sind – von Nietzsche bis hin zu Vogue und Manager Magazin. Auf dieser Plattform mit ihrem verblassenden Edel-Image wiederum konnten gut informierte, diskursgewandte Neulinge aus den globalen Biennalebrütern umso wirksamer in Szene gesetzt werden.

Folgerichtig waren neben publikums- und pressewirksamen Kunstmarkt-Celebrities wie Jonathan Meese aufstrebende junge Künstlerinnen wie die Chinesin Jennifer Wen Ma vertreten, die als Land-Art-Intervention den von Nietzsche entlehnten Schriftzug „Amor Fati“ mit schwarzer chinesischer Tinte auf einer Grasfläche am St. Moritzersee anbrachte (Abb. 5).

Überhaupt stellte Asien bei den SAM 2011 einen Schwerpunkt dar – ein Beleg für die gegenwartsdiagnostische Relevanz von Biennalen und Biennalesken, die schneller auf geopolitische Veränderungen reagieren können als die Museen mit ihren ständigen Sammlungen. Stets sind sie „closely related to the major changes in politics, economics and the wider culture often described as ,globalisation‘“ und verdanken ihren weltweiten Erfolg insbesondere „versatility, resilience and high degree of popularity“.[18]

Abb. 5: Projekt ,Lingua Franca‘, Jennifer Wen Ma; Quelle: St. Moritz Art Masters.

Warteten Biennalen und Biennalesken nur mit einem Defilee etablierter Positionen auf, würden sie ihren Wünschelrutencharakter einbüßen, der dem Besucher Goldgräberstimmung verheißt. So dürfte auch der erwähnte Alejandro Diaz den wenigsten Besuchern der SAM bekannt gewesen sein. Geboren 1963, vertrat er mit seiner lakonischen Kapitalismuskritik die ältere Generation, welche im internationalen Kunstbetrieb seit einigen Jahren vermehrt mit Neu- und Wiederentdeckungen gewürdigt wird (etwa Carmen Herrera, geb. 1915 in Kuba, oder Yüksel Arslan, geb. 1933 in Istanbul). Man ist eben immer so alt, wie man ausgestellt wird.

Wie kaum ein anderes Kunstfestival verkörpern die St. Moritz Art Masters den Geist des zeitgenössischen Kunstbetriebs zwischen Globalisierung und Glokalisierung, Inklusion und Exklusion, Luxus und Diskurs, Starkult und Nachwuchspflege. Die Engadiner Biennaleske ist angesiedelt im Spannungsfeld zwischen dem pittoresken Celebrity-Glamour der Mutter aller Biennalen, der Biennale di Venezia, und den überwiegend kritischen, diskurslastigen und dezidiert transnationalen Biennalen jüngeren Datums, deren Zahl sich seit den 1980er-Jahren explosionsartig vermehrt hat – gerade auch in den postkommunistischen 1990er-Jahren und damit parallel zur Ausbreitung des Kapitalismus in Staaten wie China und Russland.[19] Ausschlaggebend bei den neuen Großkunstfestivals ist dabei das Moment der Simultaneität jenseits der postmodernen Emphase von „Cross the Border, Close the Gap“.

Aufgrund ihrer Schnittstellenfunktion zwischen established und emerging erfüllen Biennalen und Biennalesken die Funktion von Castingshows für den zeitgenössischen Kunstbetrieb. Das ist nicht im despektierlichen Sinne gemeint. Die Diagnose ist gänzlich nüchterner Natur. Während die Museen – wollen sie ein gewichtiges Alleinstellungsmerkmal bewahren – tendenziell weiterhin dazu dienen, den Status von Kunst-Stars zu verfestigen, bilden Festivals wie SAM einen melting pot aufstrebender Künstlerinnen und Künstler, aus dem sich Museen und Sammler später bedienen können.

In dialektischer Hinsicht verstärkt die Kombination mit etablierten Positionen diesen Eindruck noch: Wenn aufgestrebt wird, so muss markiert werden, wo ,oben‘ ist. Wird auf den Biennalen und Biennalesken auch keine Kunst direkt verkauft, so ähnelt die Situation doch jener im Salon de Paris des 18. Jahrhunderts, wo ebenfalls prominente und noch unbekannte Künstler vertreten waren, und der in den livrets schon damals als „Fest“ bezeichnet wurde: „Für die Künstler war der öffentliche Salon ein temporäres Ziel, die Sammlungen von Privatleuten oder des Königs der definitive Bestimmungsort der Werke.“[20]

Wichtig ist also nicht, wie wichtig die Festival-Künstler sind, sondern wie wichtig sie werden könnten. Ohnehin kompensieren die Exotik, die urbane Dynamik oder das Ländlich-Pittoreske der jeweiligen Schauplätze etwaige Promidefizite. So wurde etwa bei der Öffentlichkeitsarbeit zur 54. Biennale di Venezia großen Wert darauf gelegt, dass ein Drittel der Ausstellenden unter 35 Jahre alt und damit noch nicht kanonisiert sei.

Vorrangig für die jeweiligen Kuratoren der neuen und neuesten Biennalen oder Biennalesken ist es, einen Querschnitt der globalen Szene abzubilden und so einen Eindruck größtmöglicher demokratischer Heterogenität zu erzeugen – Nerds und Strategen, Jung und Alt, Ost und West, Internationales und Regionales etc.

Dasselbe Prinzip erleben wir – für ein anderes Zielpublikum und mit bewusst asymmetrisch inszenierten Machtverhältnissen – bei Castingshows und Talentwettbewerben wie Das Supertalent oder Star Search, die zunehmend darauf bedacht sind, neben mythenkonformen Traumfiguren auch den Küblböck- oder Potts-Faktor zu berücksichtigen.

Die mit der Globalisierung einhergehende Biennalisierung bedeutet für den Kunstbetrieb eine Demokratisierung des Starprinzips und des Celebritykults – auch wenn diese Demokratisierung mitunter, gleichsam in der Tradition des aufgeklärten Absolutismus, einzig am Tropf der Sponsoren hängt wie im Engadin. Emerging aber ist das kulturökonomische Zauberwort der Stunde. Die alte Diva St. Moritz hat gut aufgepasst.

 

Anmerkungen


[1] Zitiert nach Friedrich Nietzsche: Sämtliche Briefe, Kritische Studienausgabe, Bd. 6, Januar 1880 bis Dezember 1884, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 2003, S. 516.

[2] Vgl. u. a. die BDO-Studie zum Ferientourismus in Zermatt, St. Moritz, Interlaken und Montreux von 2010; Onlinedokument http://www.bdo.ch/uploads/tx_assaipublication/Artikel_Evol_Ferienorte_I_2010.pdf [Link erloschen] [20.11.2012].

[4] Vgl. u. a. Carlos Basualdo: The Unstable Institution (2003), in: Elena Filipovic u. a. (Hrsg.): The Biennial Reader. An Anthology on Large-Scale Perennial Exhibitions of Contemporary Art, Ostfildern 2010, S. 124-135, hier S. 133: „Large-scale international exhibitions never completely belong to the system of art institutions in which they are supposedly inscribed, and the range of practical and theoretical possibilities to which they give rise often turns out to be subversive.“

[5] Die SAM-Organisatoren verstehen darunter „einen Parcours durch das Engadin […], der Sie [die Besucher, J.S.] […] zu den von uns für Sie ausgesuchten künstlerischen Projekten und Installationen sowie der im Engadin existierenden kulturschaffenden Institutionen führt“; http://www.stmoritzartmasters.com/de/walk-of-art/willkommen.html [Link erloschen] [02.01.2012].

[7] Vgl. u. a. Gustavo Grandal Mondero: Biennalization? What Biennalization? The Documentation of Biennials and Other Recurrent Exhibitions, in: Art Libraries Journal, Nr. 1, Jg. 37, 2012, S. 13-23, hier S. 14: „More recently […] all biennials have become ,global exhibitions‘, reflecting cultural and economic globalisation, and focusing on and questioning globalisation itself as an idea, in contexts including post-colonialism and identity politics.“

[8] Imdahl, Georg: Von Kassel bis Venedig: Die wichtigsten Kunst-Events 2012; Onlinedokument http://www.sueddeutsche.de/kultur/von-kassel-bis-venedig-die-wichtigsten-kunst-events-1.1253531-2 [20.11.2012].

[9] Vgl. Jan Andreas May: La Biennale di Venezia. Kontinuität und Wandel in der venezianischen Ausstellungspolitik 1895-1948, Berlin 2009, S. 41: „Zwar war es die erklärte Absicht der Initiatoren, mit einer regelmäßigen Kunstausstellung in der Stadt Venedig der italienischen Kunst wieder neues Leben einzuhauchen. Dahinter steckten aber vor allem wirtschaftliche Gründe“; vgl. ebd., S. 48: „Besonders wichtig war für die Verantwortlichen der wirtschaftliche Nutzen, der von der Ausstellung für Venedig abfallen sollte. Das wohl wichtigste Instrument hierbei war der offizielle Katalog, der seit der Erstausgabe von 1895 in nahezu unveränderter Weise Wirtschaft und Ausstellung verband. Schon in dieser ersten Ausgabe fand man ein Verzeichnis mit den Namen und Adressen hunderter lokaler Unternehmen, das von der Gastronomie über den Einzelhandel bis hin zu den Galerien keine Branche ausließ. Dies waren zwar noch keine direkten Werbeanzeigen, aber die enge Verknüpfung mit der Wirtschaft sollte die Kunstausstellung von Anfang an prägen.“

[10] Zitiert nach: Ruth Spitzenpfeil: Kunst im Hochtal. Veranstaltungen wie das Art Masters machen das Oberengadin im Sommer zur Kulturlandschaft; Onlinedokument http://www.nzz.ch/lebensart/reisen-freizeit/kunst-im-hochtal-1.6246223 [20.11.2012].

[11] Zitiert nach: Claus Christian Malzahn: Japan hätte eine Dosis deutsche Angst gut getan. Interview mit Peter Sloterdijk; Onlinedokument http://www.welt.de/politik/deutschland/article13128797/Japan-haette-eine-Dosis-deutsche-Angst-gut-getan.html [20.11.2012].

[13] Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2006 [im Original 1999], S. 86: „Wir haben die Kritik zu einem der wirkungsmächtigsten Motoren des Kapitalismus erklärt. Indem die Kritik ihn dazu zwingt, sich zu rechtfertigen, zwingt sie ihn zu einer Stärkung seiner Gerechtigkeitsstrukturen und zur Einbeziehung spezifischer Formen des Allgemeinwohls, in dessen Dienst er sich vorgeblich stellt.“

[14] Das Prekariat hätte theoretisch ebenfalls problemlos Zugang zu den Art Masters, sind die meisten Ausstellungen und Veranstaltungen doch kostenlos. Faktisch aber verirren sich Vertreter der einkommensschwachen Schichten eher selten nach St. Moritz, dessen abgeschiedene Lage und hochpreisige Erlebnisangebote es ja gerade als Enklave der upper class so geeignet machen.

[15] Vgl. u. a. Wolfgang Ullrich: Mit dem Rücken zur Kunst. Die neuen Statussymbole der Macht, Berlin 2000.

[16] Vgl. u. a. Thomas Frank/Matt Weiland (Hrsg.): Commodify Your Dissent. Salvos from ,The Baffler‘, New York 1997.

[17] Schieren, Mona: Interview with Dorothee Albrecht, in: dies./Andrea Sick (Hrsg.): Look at Me. Celebrity Culture at the Venice Art Biennale, Nürnberg 2011, S. 192-205, hier S. 195.

[18] Fillitz, Thomas: Worldmaking – The Cosmopolitanization of Dak’Art, the Art Biennale of Dakar; Onlinedokument http://www.globalartmuseum.de/site/guest_author/270 [Website erloschen] [20.11.2012].

[19] Vgl. Hans Belting/Jacob Birken/Andrea Buddensieg/Peter Weibel (Hrsg.): Global Studies. Mapping Contemporary Art and Culture, Ostfildern 2011.

[20] Bätschmann, Oskar: Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem, Köln 1997, S. 16.

 

Literaturverzeichnis

Basualdo, Carlos: The Unstable Institution (2003), in: Elena Filipovic/Marieke van Hal/Solveig Øvstebø (Hrsg.): The Biennial Reader. An Anthology on Large-Scale Perennial Exhibitions of Contemporary Art, Ostfildern 2010, S. 124-135

Bätschmann, Oskar: Ausstellungskünstler. Kult und Karriere im modernen Kunstsystem, Köln 1997

BDO (Hrsg.): Entwicklung Ferientourismus im Vergleich: Hotellerie. Ferienorte Zermatt, St. Moritz, Interlaken, Montreux; Onlinedokument www.bdo.ch/uploads/tx_assaipublication/Artikel_Evol_Ferienorte_I_2010.pdf [Link erloschen][20.11.2012]

Belting, Hans/Birken, Jacob/Buddensieg, Andrea/Weibel, Peter (Hrsg.): Global Studies. Mapping Contemporary Art and Culture, Ostfildern 2011

Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2006

Fillitz, Thomas: Worldmaking – The Cosmopolitanization of Dak’Art, the Art Biennale of Dakar; Onlinedokument http://www.globalartmuseum.de/site/guest_author/270 [Website erloschen] [20.11.2012]

Frank, Thomas/Weiland, Matt (Hrsg.): Commodify Your Dissent. Salvos from ,The Baffler‘, New York 1997

Grandal Mondero, Gustavo: Biennalization? What Biennalization? The Documentation of Biennials and Other Recurrent Exhibitions, in: Art Libraries Journal, Nr. 1, Jg. 37, 2012, S. 13-23

Imdahl, Georg: Von Kassel bis Venedig. Die wichtigsten Kunst-Events 2012; Onlinedokument http://www.sueddeutsche.de/kultur/von-kassel-bis-venedig-die-wichtigsten-kunst-events-1.1253531-2 [20.11.2012]

Malzahn, Claus Christian: Japan hätte eine Dosis deutsche Angst gut getan. Interview mit Peter Sloterdijk; Onlinedokument http://www.welt.de/politik/deutschland/article13128797/Japan-haette-eine-Dosis-deutsche-Angst-gut-getan.html [20.11.2012]

May, Jan Andreas: La Biennale di Venezia. Kontinuität und Wandel in der venezianischen Ausstellungspolitik 1895-1948, Berlin 2009

Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Briefe, Kritische Studienausgabe, Bd. 6, Januar 1880 bis Dezember 1884, hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, München 2003

Schieren, Mona: Interview with Dorothee Albrecht, in: dies./Andrea Sick (Hrsg.): Look at Me. Celebrity Culture at the Venice Art Biennale, Nürnberg 2011, S. 192-205

Spitzenpfeil, Ruth: Kunst im Hochtal. Veranstaltungen wie das Art Masters machen das Oberengadin im Sommer zur Kulturlandschaft; Onlinedokument http://www.nzz.ch/lebensart/reisen-freizeit/kunst-im-hochtal-1.6246223 [20.11.2012]

Ullrich, Wolfgang: Mit dem Rücken zur Kunst. Die neuen Statussymbole der Macht, Berlin 2000

11th International Istanbul Biennial Has Started under the Sponsorship of Koç Holding; Onlinedokument http://www.koc.com.tr/en-us/Media_Center/PressReleases/Press_Releases/10.09.2009_en.pdf [20.11.2012]

 

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Nomos Verlags.

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Jörg Scheller ist Dozent an der Zürcher Hochschule der Künste.