Kritische Anmerkungen zu Urs Stähelis und Annika Stähles »Infrastrukturen des Tourismus«
In der September-Ausgabe von „Pop. Kultur und Kritik“ (Heft 5, 2014; auch hier als Netzveröffentlichung) haben Urs Stäheli und Annika Stähle die „einfachen Schablonen“ der Tourismuskritik der Cultural Studies kritisiert, die sich darin gefalle, „ideologiekritisch auf machtvolle Verzerrungen hin[zu]weisen“, die „Exotisierung der Fremde“ und die Reproduktion „geschlechtsspezifische[r] Klischees“ aufzudecken sowie die „verklärten Vorstellungen der Natur“ zu entlarven.
Diese kritische Stoßrichtung gründe, so Stäheli/Stähle, in einem überzogenen „Interesse am Außeralltäglichen“, das sie auch dem Touristen unterstelle, um so schließlich in der „Analyse von Eskapismus“ feststellen zu können, wie dieser „in eine tragische Steigerungsspirale gerät“, „begierig eine Sensation durch die nächste ersetzen will“ und nach immer neuen „exotischen Bildern dürstet, um der eigenen Alltagstristesse zu entkommen“.
Diese kompensationstheoretisch inspirierte Karikatur eines unaufhörlich Getriebenen, der als Tourist verzweifelt sucht, was er als Alltagsmensch nicht haben kann, der das Fremde als Projektionsfläche für seine verdrängten Fantasien und Sehnsüchte benützt und verhängnisvollerweise zerstört, was er sucht, im Moment, da er es findet, ist freilich viel zu simpel.[1] Dass sich, wie die AutorInnen anschließend notieren, die Erforschung touristischer Institutionen und Praktiken nun zunehmend von diesen unterkomplexen Denktraditionen löse und stattdessen versucht, ihren Gegenstand mit der distanzierten Sachlichkeit zu erfassen, die jeder wissenschaftlichen Analyse geboten ist, ist deshalb fraglos zu begrüßen, wenn es auch fraglich ist, ob das tatsächlich zutrifft.
Wenn auch den AutorInnen in ihrer Kritik prinzipiell zuzustimmen ist, so ist es doch fragwürdig, inwiefern dem tourismologischen Erkenntnisinteresse damit gedient ist, den Blick vom Außeralltäglichen abzuziehen und sich stattdessen den „banal erscheinenden Infrastrukturen“ von Transport und Beherbergung sowie allgemein „logistische[n] Themen“ zuzuwenden; statt den „sensationellen Highlights“ also die Alltäglichkeiten der ganz gewöhnlichen Urlaubsreise ins Zentrum des Interesses zu rücken.
Ohne Zweifel sind Busfahrpläne, Zugverbindungen, Hotelzimmer, Flughäfen, Toiletten usw. unauflösbar mit dem touristischen Reisen verbunden, und die These, dass die eigenen Freunde, nach dem Urlaub gefragt, „mit großer Wahrscheinlichkeit […] von Transport- und Beherbergungsinfrastrukturen“ und eben nicht von den außergewöhnlichen Sehenswürdigkeiten berichten würden, erscheint zwar gewagt, entbehrt aber durchaus nicht einer gewissen Plausibilität.
Touristen, so behaupten Stäheli/Stähle mit Bezug auf eine Untersuchung Bruners, würden sich gar nicht so sehr für die spektakulären ‚Must-Sees‘ interessieren, sondern für das Ganz-Gewöhnliche, für die ‚Prosa des touristischen Alltagslebens‘ und nicht für die jeweils gebotenen Extraordinaritäten. Diese Tatsache habe die wissenschaftliche Forschung ihrerseits ernst zu nehmen und sie solle das „Interesse für Transportinfrastrukturen nicht als bloße Verlegenheitserzählung abtun“.
Dem ist nicht zu widersprechen, es besteht aber die Gefahr, dass durch diesen Perspektivenwechsel das eigentlich Touristische der touristischen Reise aus dem Blick gerät, da Transport- und Beherbungsinfrastrukturen für alle Formen des Reisens von Bedeutung sind, auch für Geschäftsreisen, Verwandtschaftsbesuche, religiös motivierte Pilgerreisen und Fluchtbewegungen. Mit dem Tourismus verbunden sind sie als Bedingung der Möglichkeit, ein genuin touristischer Charakter kommt ihnen deswegen nicht zu. Dieses Argument sei kurz erläutert.
Den Tourismus als sozialen Tatbestand zu erfassen, setzt voraus, das Spezifische dieser Reiseform zu verstehen, das sie von anderen Formen unterscheidbar macht. Das Entscheidende ist zunächst weniger die Bewegung im Raum, sondern die temporalstrukturelle Rahmung. Touristisches Reisen ist müßiges Reisen. Man könnte auch zu Hause bleiben. Die Formel dafür wäre etwa: Reisen um des Reisens willen, was direkt anschließbar ist an die „materialistische Wendung“ des Slogans vom Weg als Ziel, wie Stäheli/Stähle sie überzeugend durchführen.
Muße bedeutet aber nicht nur einfache Nicht-Notwendigkeit bzw. die Lösung aus alltäglichen Mittel-Zweck-Konstellationen, sondern – zumindest potentiell – auch die Freiheit, sich dem Fremden und Unbekannten zu öffnen, es wahrzunehmen und zu erfahren, ohne es sogleich zweckgerichtet klassifizieren zu müssen. Touristische Erfahrungen gründen in zwanglos produzierten Krisen durch müßige Konfrontation mit Fremdem, wodurch ihnen wesentlich ein ästhetischer Charakter zukommt.
Müßige Praxis ist stets außeralltäglich, sie konstituiert sich durch ihren Gegensatz zum Alltag. Der Alltag erfordert die routinehafte Erledigung zweckbestimmter Handlungen: man muss waschen, einkaufen, arbeiten usw. Muße bedeutet dagegen, sich vorübergehend aus diesen Handlungszusammenhängen zu lösen und eine gewisse Praxisentlastung herzustellen. Sie liegt also in der widersprüchlichen Einheit einer in sich un-praktischen Praxis. Muße ergibt sich selten einfach so und von allein, sondern muss eigens eingerichtet und auch abgesichert werden, sie bedarf der raum-zeitlichen Rahmung, d.h. der Abgrenzung zum Bereich des Alltäglichen.
Wie Durkheim es in seiner Religionssoziologie beschrieben hat, kennt jede Gesellschaft die Unterscheidung zwischen dem Alltäglichen (profan) und dem Außeralltäglichen (sakral), und es ist deshalb für die Soziologie von einiger Wichtigkeit, diese temporalstrukturellen Differenzierungen zu erfassen. Dabei ist es von besonderer Bedeutung, nicht einfach ein schematisches Entweder-Oder zu beschreiben, sondern die Übergänge und dialektischen Verwicklungen zu studieren. Ein bekanntes Modell dafür ist etwa Max Webers charismatheoretisches Konzept der ‚Veralltäglichung des Außeralltäglichen‘.
Der Tourismus (wie der gesamte Bereich der Kulturindustrie) ist eine soziale Institution, die sich auf die Organisation – also gewissermaßen: Veralltäglichung – von Außeralltäglichkeit spezialisiert hat, und eignet sich deshalb besonders gut für das Studium dieser Zusammenhänge. Es ist freilich einseitig und mangelhaft, sich nur auf das Spektakuläre und Extraordinäre zu konzentrieren. Ebenso einseitig ist es aber, sich auf die andere Seite zu schlagen und nur das Banale und Gewöhnliche zu thematisieren. Von ihrem Engagement für das Alltägliche zwar etwas verdeckt, scheinen die AutorInnen das allerdings auch ähnlich zu sehen, ihnen geht es ja um das „Changieren zwischen banalster Infrastruktur und dem Sich-Einlassen auf ungewohnte und unkontrollierbare Kontexte“, um die Wechselseitigkeit also von Alltäglichem und Außeralltäglichen.
Sie setzen sich dafür ein, die Akteure ernst zu nehmen und ihnen „gut zu[zu]hören], wenn sie von ihrem Urlaub erzählen“. Das ist tatsächlich sehr wichtig, eine gute Möglichkeit ist die Analyse von Reiseberichten, wie sie sich im Internet in großer Zahl finden (dazu demnächst mein Buch „Tourismus und Authentizität“).
Allerdings ist dabei unbedingt zu vermeiden, die Selbstbeschreibungen der Akteure einfach zu übernehmen und sich mit wenig aufschlussreichen Paraphrasen zufrieden zu geben. Touristisches Reisen ist strukturell außeralltäglich, unabhängig davon, wie die Akteure es inhaltlich beschreiben. Dass nicht von Sehenswürdigkeiten erzählt wird, sondern von den logistischen Schwierigkeiten, die auf der Reise aufgetreten sind, ist nicht einfach festzustellen und zu wiederholen, sondern zu verstehen und zu erklären.
Was heißt es, wenn Touristen sich während ihrer Urlaubszeit – temporalstrukturell also im Bereich der Außeralltäglichkeit – vor allem mit Alltäglichkeiten befassen? Und außerdem: wie alltäglich sind die überhaupt? Es geht auch in den Beispielen, die die AutorInnen aufzählen, nicht um das Selbstverständliche und Gewöhnliche, sondern um Erlebnisse, die in der Erfahrung von Krisen gründen. Erzählt werde „von unkomfortablen Flügen, von schwierig erreichbaren Busstationen“, nicht einfach vom Fliegen und vom Busfahren. Es gehe um „Verspätungen, geplatzte Reifen oder ausfallende Klimaanlagen“, um Probleme und Schwierigkeiten und wie diese gelöst wurden. So wird das, was eigentlich alltäglich, gewöhnlich oder banal sein sollte und der Routine zugerechnet wird, zum Ereignis, zur Krise und zum (mehr oder weniger) außeralltäglichen Abenteuer.[2]
Tatsächlich aber trifft, wie es Stäheli/Stähle auch beobachtet haben, die empirische Erforschung von Reiseberichten sehr rasch auf ein erstaunliches Interesse an der vermeintlichen Banalität logistischer und sanitärer Infrastrukturen. Ein gutes Beispiel mag dafür die Thematisierung von Toiletten sein und den alltäglich-leiblichen Prozessen, die damit verbunden sind, wie sie in Reiseberichten häufig zu finden sind.
Dabei werden Toiletten nicht nur diskursiv thematisiert, sie werden auch fotografiert, selbst wenn sie nicht irgendwie außergewöhnlich sind. Wie ist das zu erklären? Wie ist zu verstehen, dass neben dem Bild vom Kolosseum quasi gleichberechtigt ein Bild einer ganz normalen Toilette publiziert wird? Manifestiert sich darin nicht genau das Interesse am Banalen, das von den AutorInnen betont wird?
Spätestens hier wird deutlich, dass die schematische Gegenüberstellung von spektakulären ‚Top-Sights‘ einerseits, banaler Infrastruktur andererseits nicht so viel bringt und einige Präzisierungen erforderlich macht. Zunächst ist es hilfreich, zwischen der Außergewöhnlichkeit der Objekte und der der Erfahrungen zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ermöglicht die Beobachtung, dass auch ganz gewöhnliche Dinge, entsprechend gerahmt, in einem außergewöhnlichen Modus erfahren werden können.
In der Kunst gibt dafür Duchamps ‚Fountain‘ (1917), ein gewöhnliches Urinal, rechtwinklig gekippt, das Modell ab. Mit dem touristischen Interesse an sanitären Infrastrukturen verhält es sich ähnlich wie mit dieser Kunst-Toilette: das Allergewöhnlichste wird außergewöhnlich erfahren, im Modus müßiger Wahrnehmung. Das Interessante am touristischen Interesse an Toiletten ist ja, dass es sich im Alltag nicht in diesem Maße finden lässt. Im Alltag werden Toiletten gesucht, betreten, benutzt und wieder verlassen. Sie haben schlicht einen Zweck zu erfüllen.
Auf der touristischen Reise, d.h. innerhalb des zeitlichen Rahmens der Muße und der gesteigerten Zweckfreiheit indessen, ist es möglich, solch zweckmäßigen Objekten ästhetisch zu begegnen. Das heißt keineswegs, dass ihre Schönheit bewundert wird, ästhetische Wahrnehmung kann sich auch auf das Hässliche richten. Es heißt aber, dass Toiletten dann nicht mehr nur als Mittel-zum-Zweck wahrgenommen werden, sondern sich eine selbstgenügsame Wahrnehmung einstellen kann, eine Wahrnehmung um ihrer selbst willen und gar eine Wahrnehmung der Wahrnehmung, also eine reflexive Rezeption.
Man nimmt dann nicht mehr nur wahr, wie man es ständig tut (auch im Schlaf sind ja nur die Augen geschlossen, die anderen Sinneskanäle aber weiterhin ‚offen‘), sondern nimmt auch noch wahr, dass man wahrnimmt. Diese Selbstbezüglichkeit der Wahrnehmung und ihr Charakter der Müßigkeit drücken sich schon in der bloßen Tatsache des Fotografierens aus. Dafür muss man Zeit haben, einen passenden Ausschnitt wählen, sich mit Lichtverhältnissen auseinandersetzen etc. Es ist eine ästhetische Praxis, d.h. eine müßige und darum: außeralltägliche Praxis, und das touristische Reisen ein Format, in dem solche ästhetische Praktiken verdichten können.
Ein anderes Beispiel, das Stäheli/Stähle anführen, ist das Interesse an Busfahrplänen, Zugverbindungen und Flugzeugsitzen. Woher kommt es und wie ist es zu erklären? Reicht dafür der Verweis auf die „Unentrinnbarkeit von Transportinfrastrukturen“, auf die bloße Tatsache, dass man ihnen sich nicht entziehen kann, dass sie sich auf Reisen zwingend aufdrängen, während man die Sightseeingtour auch bleiben lassen kann?
Natürlich kommt ihrem Zwangscharakter einige Bedeutung zu, aber das hat wiederum nichts spezifisch Touristisches. Auch im Büro erzählt man sich vom Stau, in den man auf dem Arbeitsweg geraten ist oder von der verspäteten Bahn. Touristisch wird diese Erfahrung jedoch erst, wenn sie die Selbstbezüglichkeit müßiger Praxis annimmt.
Ein illustratives Beispiel erwähnen die AutorInnen selbst: die Kreuzfahrt. Hier würden die Infrastrukturen nicht nur „als bloße Mittler fungieren“, sondern „eine eigene Faszinationskraft entfalten“ – „Infrastruktur wird reflexiv, Infrastruktur wird Urlaub“. Hier ist dann tatsächlich der Weg das Ziel, es geht nicht ums Ankommen, sondern ums Unterwegssein. Und damit natürlich auch um die Infrastrukturen, die dieses Unterwegssein ermöglichen.
Darin unterscheidet sich eine touristische Kreuzfahrt von einer nicht-touristischen Schifffahrt mit dem Ziel, möglichst rasch von A nach B zu kommen. Sie ist müßig und das bedeutet: außeralltäglich. Der „Faszinationskraft“ sich hingeben zu können, also der Möglichkeit, sich von diesen Infrastrukturen quasi-magisch ‚behexen‘ zu lassen, ist allerdings auch wieder nur denen möglich, die touristisch unterwegs sind und nicht im Maschinenraum arbeiten müssen.
Für die soziologische Untersuchung touristischer Institutionen und Praktiken ist es zentral, sich mit der Dialektik von Alltag und Außeralltaglichkeit auseinanderzusetzen. Innerhalb des Bereichs des Außeralltäglichen kann diese Unterscheidung dann wieder eingeführt werden: auch während des Urlaubs, der sich strukturell durch die Unterscheidung vom Berufs-Alltag konstituiert, gibt es Alltägliches und Außeralltägliches.
Das Alltägliche und Gewöhnliche kann dann aber als solches wahrgenommen und somit auch seiner Selbstverständlichkeit entkleidet werden. Man hat dann die Muße, sich mit Dingen zu befassen, die im Alltag einfach funktionieren müssen. Dadurch lässt sich das Vertraute mit neuen Augen wahrnehmen, lässt sich das Ganz-Gewöhnliche in einer außergewöhnlicher Art und Weise erfahren.
Diese strukturelle Außeralltäglichkeit ist es, die den Tourismus ausmacht, unabhängig davon, ob sie von den Touristen selbst so beschrieben wird oder nicht. Und vor allem unabhängig davon, ob es sich um „Eskapismus“ handelt, der womöglich ideologiekritisch zu durchschauen wäre. Der Fokus auf das Außeralltägliche erfordert das in keiner Weise, und es kann die gesellschaftliche Organisation von Außeralltäglichkeit wertneutral studiert werden, ohne aus der Tatsache, dass während des Urlaubs versucht wird, ‚dem Alltag zu entkommen‘, gleich eine Kritik an kapitalistischen Ausbeutungskonstellationen und Herrschaftsverhältnissen zu konstruieren. Lässt man diese konstitutive Außeralltäglichkeit aber außer Acht, wie es Stäheli/Stähle an einigen Stellen zu fordern scheinen, verliert man das Touristische des Tourismus aus dem Blick.
Anmerkungen
[1] Vgl. als klassische Referenz dafür: Hans Magnus Enzensberger, „Eine Theorie des Tourismus“, S. 147-168 in: Einzelheiten. Frankfurt a. M., Suhrkamp 1962.
[2] Die Dialektik von Außeralltäglichkeit und Alltag ist überhaupt eng angelehnt an die von Routine und Krise, wie sie Ulrich Oevermann formuliert hat. Vgl. dazu etwa Oevermanns Abschiedsvorlesung 2008.