Infrastrukturen des Tourismus
von Urs Stäheli / Annika Stähle
17.9.2014

›Der Weg ist das Ziel‹, materialistisch gewendet.

[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 5, Herbst 2014, S. 10-18]

Lange Zeit wurde das Faszinosum des Tourismus mit Modellen erklärt, die den klassischen Paradigmen der Cultural Studies nahestanden: Die außeralltäglichen Erfahrungen – die sensationellen Highlights – interessierten besonders. Sie ließen sich als Spektakel des Sightseeings, als Attraktionen entziffern und mit semiotischen Mitteln decodieren. Der touristische Blick mit seiner Sehnsucht nach Authentizität geriet in den Mittelpunkt des Interesses (etwa bei John Urry und Dean MacCannell). Der Tourist wurde primär als sehendes Subjekt gefasst, das begierig eine Sensation durch die nächste ersetzen will und dadurch in eine tragische Steigerungsspirale gerät; ein Subjekt, das nach exotischen Bildern dürstet, um der eigenen Alltagstristesse zu entkommen.

Die übliche Kritik an der Populärkultur und jene am Tourismus benutzen erstaunlich ähnliche Topoi: In beiden Bereichen wird der Eskapismus bedauert, werden die Akteure als kulturell ahnungslose, passive KonsumentInnen kritisiert, welche die Inszenierungen der Kultur- und Tourismusindustrie kaum durchschauen können und wollen. Diese Kritiken mögen alltagskulturell immer noch recht lebendig sein; glücklicherweise hat sich die Forschung aber zunehmend von solch einfachen Schablonen gelöst.

Auch wenn inzwischen der Tourist als aktives Subjekt gesehen wird, wird der Kern der touristischen Erfahrungen aber auch heute noch als die außeralltägliche, visuelle Erfahrung gefasst. Zu sehr verbleibt das Denken über Tourismus im Korsett einfacher Kommunikationsmodelle gefangen: Der Tourist decodiert – möglicherweise sogar ›subversiv‹ – die Sehenswürdigkeiten (nicht unähnlich der Decodierung von Spielfilmen); er erscheint immer noch primär als ein sehendes und sinngenerierendes Subjekt.

Man mag dann mit dem bewährten, aber inzwischen auch etwas faden begrifflichen Besteck der Cultural Studies ideologiekritisch auf machtvolle Verzerrungen hinweisen; etwa darauf, dass durch Exotisierung der Fremde zum Objekt eines westlichen Blicks gemacht wird; darauf, dass die touristischen Inszenierungen geschlechtsspezifische Klischees weitertransportieren etc. Solche Analysen haben gewiss ihre Berechtigung, sie verpassen aber gerade jene Erfahrungen, die sich nicht auf Repräsentationsprozesse reduzieren lassen.

Wie aber ließe sich ein anderes Verständnis von touristischen Praktiken entwickeln? Wenden wir uns den AkteurInnen selbst zu. Vor kurzem hat eine/r der AutorInnen im Flugzeug das Gespräch zweier Männer über ihre letzte Urlaubsreise mitgehört. Die beiden haben nichts von den Sehenswürdigkeiten erzählt, die sie sich angeschaut haben. Umso ausführlicher wurde aber mit vielen Details von der Verspätung des Fluges in den Urlaub erzählt, von den Anschlussproblemen, die daraus entstanden sind und wie all die logistischen Schwierigkeiten schließlich doch glücklich überwunden werden konnten.

In dem kleinen Narrativ mit Happy End ging es buchstäblich ums Touren – also jener Praxis, die dem Touristen seinen Namen gegeben hat. Man mag selbst ein kleines Experiment durchführen und Freunde nach ihrem Urlaub fragen: Mit großer Wahrscheinlichkeit wird – neben einigen kulinarischen Genüssen, den teuren/billigen Preisen – von Transport- und Beherbergungsinfrastrukturen die Rede sein: von Flughäfen, von unkomfortablen Flügen, von schwierig erreichbaren Busstationen oder den erstaunlich guten Hotels.

Ähnliches hat Edward Bruners ethnografische Studie »Culture on Tour« (2005) über Tourguides in Indonesien ergeben. Die in diesem Falle sehr gebildeten TourteilnehmerInnen unterhielten sich nicht so sehr über die einzigartigen Tempelanlagen oder die javanesischen Tänze, sondern vor allem über logistische Themen.

Im Jahr 2013 starteten oder landeten allein auf deutschen Flughäfen insgesamt 201,6 (2012: 200,2) Millionen Fluggäste; über 410 Mio. Übernachtungen wurden in Deutschland 2013 gezählt – da gibt es viel zu berichten. Wir sollten also TouristInnen gut zuhören, wenn sie von ihrem Urlaub erzählen, und ihr Interesse für Transportinfrastrukturen nicht als bloße Verlegenheitserzählung abtun.

Bereits ein Blick in Reiseführer hätte eigentlich schon genügen können, um zu sehen, dass dort zwar auch Sehenswürdigkeiten beschrieben werden. Diese werden jedoch – etwa in den frühen Baedeker-Reiseführern, die sich selbst in der Abfolge der Sehenswürdigkeiten am Eisenbahnnetzwerk orientierten – dominiert von logistischen Informationen: etwa über unterschiedliche Verkehrsmittel, Fahrpläne oder auch Hinweise auf Hotels.

Das Interesse am Außeralltäglichen hat nicht zuletzt die Forschung blind gegenüber diesen als banal erscheinenden Infrastrukturen gemacht: Wie sollte man auf Grundlage eines Busfahrplans eine kritische Analyse von Geschlechterverhältnissen anfertigen? Wie sollte der Verweis auf eine Zugverbindung mit der Analyse von Eskapismus zusammengebracht werden? Lieber entlarvt man Klischees des ›guten Wilden‹ in der Tourismuswerbung; lieber weist man darauf hin, dass der Wandertourismus einer verklärten Vorstellung der Natur aufsitzt, als die Schwierigkeit auf sich zunehmen, die (Kontroll-)Logiken von Infrastrukturen zu verstehen.

Von den touristischen ›Infrastruktur-Erzählungen‹ können wir lernen, dass Infrastrukturen mehr als Mittel zum Zweck sind. Es geht nicht nur darum, von einem Ort zum anderen zu kommen. Die weit verbreitete instrumentelle Vorstellung charakterisiert, wenn sie sich überhaupt für Infrastrukturen interessiert hat, einen Großteil der kulturwissenschaftlichen und soziologischen Forschung wie auch die touristische Policy-Planung. Gewiss, so das implizite Argument, müssen TouristInnen Transportmittel benutzen, aber nur, um zum eigentlich interessanten Ort zu gelangen: einem besonders schönen Strand, einer Kathedrale oder einem pittoresken Dorf. Tourismus folgt gemäß dieser vereinfachenden Perspektive einem zweckorientierten Muster, an dem eigentlich nur noch die Ziele interessieren.

Der Widerpart zu diesem Denken findet sich in der Wendung ›Die Reise ist das Ziel‹. Hier wird das in Bewegung-Sein verklärt. Das Reisen wird dann als ästhetische oder para-religiöse Erfahrung des Unterwegsseins (am Modell der Pilgerreise orientiert) gefeiert. Aber auch das ästhetisierte ›Weg-Modell‹ sieht – praktische Ratgeber und Reiseberichte ausgenommen – schnell von den Infrastrukturen ab, welche das ständige In-Bewegung-Sein ermöglichen (und nicht zu vergessen: das damit verbundene ständige Warten). Der Verweis auf die schlechte Luft im Zugabteil passt schlecht zum Pathos des Transitorischen.

Worauf uns die Erzählungen über Reiseinfrastrukturen hinweisen, ist genau die eigentümliche Faszinationskraft auf den ersten Blick ›banal‹ anmutender Transportmittel. Das schwärmerische Klischee ›Der Weg ist das Ziel‹ muss materialistisch gewendet werden: Wir müssen uns die Wege, ihre Beschaffenheit und die Transportmittel anschauen und uns fragen, wie das, was – buchstäblich im Sinne der Infrastruktur einer nicht sichtbaren Struktur – zwar materialisiert ist, aber im Hintergrund verbleibt, selbst in den Mittelpunkt der Erfahrung drängt. Die Materialität von Infrastrukturen beschränkt sich weder auf ihre technische Existenzweise noch auf ihre als solide gesehene Materialisierung.

Infrastrukturen bewegen sich nicht außerhalb des Sozialen. Sie sind mehr als bloße Staffagen und Bühnen des sozialen Verhaltens. Als materialisierte soziale und kulturelle Strukturen üben sie einerseits eine disziplinierende Wirkung aus: Dies beginnt bereits bei der Beachtung von Fahrplänen, beim mehr oder weniger geordneten Boarding und reicht bis zur Platzierung auf Sitzen, die eine bestimmte Haltung nahelegen.

Gleichzeitig, so die Medientheoretikerin Lisa Parks in ihrem Aufsatz »Media Infrastructures and Affect« aus dem Jahr 2012, schaffen diese immer wieder kleinere oder große Brüche: Nicht umsonst tauchen in alltäglichen Reiseerzählungen mit großer Regelmäßigkeit Verspätungen, geplatzte Reifen oder ausfallende Klimaanlagen auf. Dies sind die Momente, in denen die Infrastrukturen in ihrem Nicht-Funktionieren sichtbar werden; ja, in denen sogar eine kollektivierende Dynamik freigesetzt wird. Das Warten auf die verspätete Fähre zur Urlaubsinsel vereinigt für einen Moment die heterogenen Wartenden zu einem Gefühlskollektiv. In dieser Situation mag sich der ersehnte Kontakt zur lokalen Bevölkerung wie von selbst herstellen, alle vereint in der Ungewissheit des Wartens.

Transportinfrastrukturen sind wir nicht nur mit unseren Augen ausgesetzt, sondern der ganze Körper wird durch diese erfasst. Während wir die Sehenswürdigkeiten meist nicht berühren dürfen und uns ein distanzierender Blick aufgezwungen wird, stellt sich im Zug oder Bus ein unmittelbarer Kontakt ein. Infrastrukturen affizieren die Körper, die in ihnen und durch sie bewegt werden. Infrastrukturen sind nicht ohne das durch sie und in sie investierte Begehren, ohne die Stimmungen, Atmosphären und Rhythmen, die durch sie möglich werden, denkbar:

Wir mögen die Geschwindigkeit genießen, nicht nur, indem sie die Landschaft in einen Film verwandelt, sondern bereits die Erfahrung des Bewegt-Werdens, der Beschleunigung beim Abheben des Flugzeugs selbst. Wir bedauern die quälende Bewegungseinschränkung in der Economy Class und erinnern den Ekel vor den schmutzigen Toiletten auch lange nach der Reise. Die dicht gedrängten, schwitzenden Körper im Shuttlebus und schließlich das Einbiegen in die Auffahrt des eigenen Hotels (das oft über den Erfolg des Urlaubs entscheidet) bestimmen noch die Unterhaltung beim Buffet. Und die Taxifahrt durch die Rushhour Bombays ist nur erträglich, wenn wir uns der Unüberschaubarkeit der Verkehrs-Choreografie hingeben.

Vielleicht ist es genau dieses Changieren zwischen banalster Infrastruktur und dem Sich-Einlassen auf ungewohnte und unkontrollierbare Kontexte, das gewöhnlichste Ereignisse im Tourismus zu intensiven Erfahrungen verdichtet. Infrastrukturen schaffen und organisieren ein heterogenes Ensemble von Affekten und körperlichen Erfahrungen; ein Ensemble, das wir im jeweiligen Moment möglicherweise nicht greifen mögen, das sich aber dennoch meist mit größerer Intensität in unsere Urlaubserinnerungen eingräbt als die kurzen Momente auf der Aussichtsplattform oder bei einer anderen Sehenswürdigkeit (wo wir wiederum lange auf den Einlass warten…).

Die Fremdheitserfahrung im Urlaub erfolgt nicht nur auf einer affektiven und körperlichen Ebene. Wir fühlen, riechen und spüren den Transportweg nicht nur, sondern vergleichen ihn dauernd mit den aus unserem Alltag gewohnten Infrastrukturerfahrungen. Dieses Vergleichen kulturalisiert Infrastrukturen, zumindest wenn man Niklas Luhmanns Verständnis von Kultur als einer Vergleichspraktik folgt: Kulturen existieren nicht aus sich heraus, sondern dadurch, dass Unterschiede zwischen eigenen und fremden Praktiken getroffen werden.

Die Nutzung von Infrastrukturen ist denn auch häufig mit dieser alltäglichen Kulturarbeit verbunden: Wir vergleichen die griechische Fähre mit derjenigen, die uns nach Juist bringt, und markieren auf diese Weise – häufig recht genüsslich – einen Unterschied. Im Gegensatz zur ›freiwilligen‹ Sightseeing-Tour, der wir uns entziehen können oder die wir als schlechte Inszenierung demaskieren mögen, drängt sich uns die Transportinfrastruktur auf. Wenn wir an unser Ziel gelangen wollen, ist kein Entzug möglich; und die körperliche Erfahrung lehrt uns, dass wir es nicht nur mit einer inszenierten Fluglinie zu tun haben (auch wenn sich selbstverständlich Fluglinien in ihren PR-Strategien inszenieren).

Es ist diese Unentrinnbarkeit von Transportinfrastrukturen, die uns vergleichsfähige Erfahrungen geradezu aufzwingt. Denn um etwa einen Bus im Urlaubsland benutzen zu können, beziehen wir uns wie selbstverständlich auf unsere bisherigen Buserfahrungen. Wir sind auf diese Erfahrungen angewiesen, um das Verkehrsmittel überhaupt nutzen zu können – und sind ebenso darauf angewiesen, diese Erfahrungen möglichst schnell anpassen zu können. Der fremde Busbahnhof mag ganz anders organisiert sein, die Fahrpläne mögen nicht eingehalten und der Bus viel stärker klimatisiert sein als an unserem Heimatort. Es sind diese Erfahrungen, die zum kulturellen Beobachten von Infrastrukturen einladen, dazu also, Unterschiede zu treffen – und meist auch lustvoll zu bewerten.

Dass Verkehrsinfrastrukturen weit davon entfernt sind, als bloße Mittler zu fungieren und eine eigene Faszinationskraft entfalten, verdeutlicht die Kreuzfahrt. Ein boomender Tourismuszweig (die Wirtschaftsleistung der Kreuzfahrtbranche stieg 2013 in Deutschland um 3,6 Prozent auf 3,1 Milliarden Euro; die Zahl der Passagiere aus Deutschland erhöhte sich um 9,2 Prozent auf 1,69 Millionen), in dem Bewegung, Rhythmus und Affizierung Teil des Versprechens sind; Fremdheitserfahrungen werden entlang der Routen portioniert, während die eigene Kultur die Szenerie bestimmt. Hier dienen Infrastrukturen gleichermaßen dem Weg und dem Ziel; statt unsichtbar zu bleiben und zu vermitteln, inszenieren sie sich selbst: Infrastruktur wird reflexiv, Infrastruktur wird Urlaub.

 

Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Transcript Verlags.

Näheres zum Heft 5 der Zeitschrift »Pop. Kultur und Kritik« hier.