Kling-Klang
Die größte Chance für Pop in Westdeutschland ist nie erkannt worden: die Fußgängerzonen. Die Zwangsmodernisierung nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs wird bis heute ständig beklagt, alten Kirchen und Schlössern, organisch gewachsenen Stadtkernen nachgetrauert. Selbst die Anhänger des International Style bleiben in ihrem Verlangen nach moderner Erhabenheit unbefriedigt: Nicht einmal die weiten Glas- und Betonflächen der Banken-Paläste weisen die Innenstädte zwischen Hannover und Berlin im Regelfall auf.
Mit der Ansammlung von niedrig hängenden Leuchtreklamen, Schaufenstern, Boutiquen, vergleichsweise überschaubaren Straßen bieten sie aber eine sehr gute Voraussetzung für Pop: Funky Chartssound in den Teenagerläden, zeitgenössischer Muzak in den Kaufhäusern. Allgemein die Atmosphäre von günstiger Mode und kommerziellem Gebrauch: Präsentation und Zurschaustellung der Massenwaren in den Geschäften und deren sogleich vorgeführte Adaption und Kombination durch die Kunden und Passanten. Abends dann Disco in Clubs in den Passagen oder Flirt auf den Plastikstühlen vor den Kneipen.
Dass diese Pop-Karte nie richtig ausgespielt wurde, liegt keineswegs nur am Internetversand und an der Musikabstinenz der großen Kleidungsketten unserer Tage. Ob in Westdeutschland oder im Deutschland nach der Wiedervereinigung – die tonangebenden Talente hat es immer aus der Fußgängerzone hinausgezogen. Keineswegs nur in der Hippie-Zeit der 70er Jahre – hinaus aufs Land, in die Kommunen und Tonstudios des Rheinlands und Schleswig-Holsteins –, nein auch in jeder anderen Mini-Epoche: Hinaus auf die Straße, ins Jugendzentrum in der Vorstadt, den Bunker, die stillgelegte Fabrik, das derangierte E-Werk, da wo es vielleicht gefährlich ist, unkommerziell, jedenfalls romantisch und schäbig.
Und wenn sie blieben, dann als trotziges, punkiges Fanal der Kaputtheit gegen den kommerziellen Pop der Innenstadt. Sicher auch ein Gender-Ding, so männlich wie in Deutschland dürfte Pop kaum ein zweites Mal sein. Zivilisation? Lieber natürlich das Widerständige, die Kultur, das Unmodische, das Tiefe. Wenn überhaupt Zivilisation, dann die Feier der Maschine oder des Maschinellen als rohe oder unablässige, bezwingende Kraft, als unreiner Klang oder endlos repetitives Muster, selten als Erleichterung und glatter Sound. Ob D.A.F. oder Kraftwerk, also die international anerkanntesten deutschen Gruppen, ob Berlin-Techno als die bekannteste deutsche ‚Marke‘, darin kommen sie alle überein. Es hätte gar nicht der Äußerungen von Kraftwerk-Musikern, sie wollten ein modernisiertes deutsches Volkslied schaffen, gebraucht, um in dieser Pop-Kultur eine deutsche Vorliebe zu erkennen.
In einer Hinsicht ist die Frage nach dem Stellenwert von deutschem Pop freilich bedeutungslos: Es gibt immer genügend andere Länder und Orte – Jamaika, Stockholm, Nashville… –, die etwas zu bieten haben. Da Pop alles Mögliche ist, nur nicht deutschen Ursprungs, muss auch niemand Klagelieder anstimmen und Verfallsgeschichten erzählen. Im Gegenteil, für viele aus der Generation der 68er und Babyboomer war das der Clou der Popmusik: Sie kam aus Memphis, Chicago oder Liverpool und hatte mit deutscher Klassik, deutschem Schlager, deutscher Volksmusik zum Glück rein gar nichts zu tun.
Selbst wenn ‚Pop‘ nur als Abkürzung für ‚populär‘ steht, schwingt in der Aussprache hierzulande jenes ‚Volk‘ nie mit, das in England, USA, Italien, Lateinamerika stets mitgehört wird. Popkultur erinnert in Deutschland niemanden (außerhalb von Kraftwerks Klingklang-Studio) an Volkskultur (auch eine erfolgreiche Vergangenheits-‚Bewältigung‘). Darum setzten in der BRD viele gegenkulturelle Kräfte stark auf Pop, selbst wenn die Abneigung gegenüber der Kulturindustrie und dem Kommerz eigentlich anderes verlangt hätte. Sogar die Underground-Literatur wurde in Westdeutschland – weltexklusiv – Ende der 60er Jahre mitunter Popliteratur genannt, bevor dann Rock, progressive Musik, Hardcore und Indie den diskreditierten Pop im Sprachspiel längere Zeit ablösten.
Ausgerechnet in Deutschland verdankt sich die vom Feuilleton viel beachtete und zum Teil bereits kanonisierte Popmusik stets Gesten des Widerstands. Hier ist schon vieles herausgehoben worden, mit gemischten Gefühlen bei den Berliner Aggro-Rapper um 2005, euphorisch angesichts der anarchischen Techno-Szene zu der Zeit, als Berlin Mitte nach dem Mauerfall eine herrschaftsfreie Zone war. Gerne genannt werden ebenfalls die antideutschen Muttersprachler von Blumfeld und Tocotronic, nicht zu vergessen jene Hippies Anfang/Mitte der 1970er Jahre, die Genregrenzen von Rock, Jazz, elektronischer, minimalistischer Musik, Popsong (Neu!, Can) missachteten. Einen festen Platz im Geschichtsbuch besitzen auch die New Waver Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre (von den Einstürzenden Neubauten bis zu Der Plan) mit ihren halbwegs punkigen, halbwegs poppigen Bezugnahmen auf Dada und Fluxus.
Mit dem heutigen Pop-Begriff kann man das alles wohl fassen, zu ihrer Zeit hätten sich die meisten der genannten Musiker und ihre Anhänger allerdings kaum unter ‚Pop‘ einordnen lassen wollen. Tatsächlich stehen sie auf ihre Weise fast alle gegen den oberflächlichen, künstlichen, hedonistisch-liberalen, eingängigen, tanzbaren oder unterhaltenden Pop.
Das ist zweifellos nicht außergewöhnlich, in den meisten anderen europäischen Ländern und in den USA sind zur jeweils gleichen Zeit ähnliche, sich alternativ verstehende Szenen zu beobachten. Bemerkenswert ist aber, dass es so wenig nennenswerte deutsche Chart-Erfolge gibt, die in den Pop-Ländern England und USA Anerkennung finden. (Munich) Disco geht auf das Konto von Zugereisten und Durchreisenden (Giorgio Moroder, Donna Summer); die Frankfurter Snap!-Producer konnten ihre Hit-Serie nur kurz halten; andere erfolgreiche deutsche Produzenten von Farian bis Bohlen arbeiteten viel stärker mit Schlager-Klängen und -Harmonien als mit Popsounds; schließlich die gut anhebende Neue Deutsche Welle der 80er Jahre, auch sie scheiterte rasch an der altbekannten deutschen Malaise, das kindlich Lustige und Amüsante mit dem Schrill-Albernen zu verwechseln.
Bis heute hat sich daran nichts geändert. Zwar gibt es vereinzelt erstaunliche Gruppen – etwa Deichkind, die von der Gegenkultur/Dada-Position aus Karneval-Pop machen (ihr WM-Song kommt nicht nur mit einprägsamem Slogan und Refrain, „Verbrenne deine Fahne“, sondern auch einem Panini-Sammelbildchen-Video daher) –, aufs Ganze gesehen bleibt aber Deutschland das Land nicht der Pop-, sondern der Populärkultur. Anders gesagt: Es bleibt bei den deutschen Erfolgstiteln das Land der Stadthallen, Fan-Meilen, Fernsehshows und Gemeinschaftsbeschwörungen, wie nicht nur die Wiederbelebung des deutschen Schlagers eindrucksvoll belegt: „Melodie“ – „Auf uns“.
Pop in der Einkaufszone: „Transient (short-term solution) / Expendable (easily forgotten) / Low cost / Mass produced / Young (aimed at youth) / Witty / Sexy / Gimmicky / Glamorous / Big business” (so Richard Hamiltons Definition bereits 1957) – das ist den meisten Deutschen bis heute fremd geblieben, den Künstlern wie den Käufern, den Biederen wie den Hippen. Mit dem Siegeszug der ärmlichen Ein-Euro-Läden in den Innenstädten ist das Kapitel ohnehin vorerst abgeschlossen. Dadurch bekommt der deutsche Pop wieder eine Chance, die ihm liegt: Trash, sei es in der kaputten, sei es in der ‚Kult‘-Version, da kennt er sich aus, da fühlt er sich wohler.