Finalsieg
Ausnahmesituation Fußball-WM. Wann hat man das schon einmal, dass 90 Minuten lang merkwürdige Menschen auf einen einreden, die man sonst das ganze Jahr über erfolgreich flieht? Nicht einmal auf Familienfeiern muss man etwas erdulden, das an die Penetranz des Live-Kommentars von Wark, Bartels usw. heranreicht.
Da möchte der seriöse Print- und Online-Journalismus natürlich nicht zurückstehen. In punkto Moral und Nationalismus wollen sie sich ungern überbieten lassen.
Moral – da langt es niemandem, dass nach ausgetüfteltem Regelwerk am Ende eine Mannschaft gewinnt. Der Sieger braucht höhere Weihen. Mindestens ein vom Schiedsrichter anerkanntes Tor mehr geschossen zu haben reicht keineswegs aus. Moralischer Fimmel und Meinungshuberei schießen zu einer glücklichen Vereinigung zusammen: Der Sieg war »verdient«, ach nein, »redlich verdient« (»FAZ«: »Erlöser Götze – Deutschland ist Weltmeister«)
Konkurrent »Die Zeit« hat es als liberales Blatt stärker mit dem führenden Individuum: Den Titel hat sich bei ihnen der Bundestrainer Joachim Löw – na was schon – »verdient«. (»Die Zeit«: »Ein Stern, der Götzes Namen trägt«)
Mit menschlichen Maßstäben ist das Gebotene gar nicht mehr fassbar, muss die alternative »taz« anerkennen: »unglaublich war, wie Götze diesen Ball mustergültig mit der Brust annahm«. In Deutschland bleibt einem sogar nur der Glaube, wenn etwas einem Muster entspricht. (»taz«: »Kampf und Können«)
Die »Welt« muss hier nicht lavieren, ihre Kriterien sind irdisch bewährt. Stellvertretend für Deutschland (»Deutschland happy«) muss man sich bei ihr etwas verdienen: Schweinsteiger, ein »echter Chef« und »Führer dieser grandiosen Mannschaft […] verdiente sich die ›Welt‹-Note 1.« Das zeichnet einen Chef aus: Martialischer Dienst an der siegreichen Sache: »eine blutende Wunde unter dem Auge […] war wie ein Symbol für seinen unbändigen Titelwillen.« (»Welt«: »Blutkrieger Schweinsteiger macht Deutschland happy«)
Da will dann auch die »Zeit« eingedenk ihrer preußischen Wurzeln nicht falsche bürgerliche Schwäche und Vornehmheit an den Tag legen. Deutschland verlangt entschieden anderes: »wenn ihm etwas nicht gefiel, haute er dazwischen.« Die Rede ist hier wieder vom »Welt«-»Blutkrieger« (s.o.): »Statt zu lamentieren, schaute er die Argentinier nur finster an. Auge um Auge, Zahn um Zahn, Platzwunde um Platzwunde, das war die Botschaft.« (»Die Zeit«: »Der Boss«) Man beachte auch den herrschenden Pluralismus in den Qualitätsmedien: mal »Chef«, mal »Boss«.
Wie wichtig ein Journalismus ist, der nicht nur dröge Tatsachen und abstrakte Hintergründe schildert, sondern einordnet und wertet, zeigt im Kontrast der langweilige, blutarme Bericht des Fachblatts »Kicker«. (»Je länger die Partie dauerte, desto mehr scheuten beide Seiten das Risiko.« »Kicker«: »Weltmeister!«) So kommt Deutschland nicht weiter.
Zum Schluss ein Lob außer der Reihe: die gelungene Sprachsatire aus dem Archiv des »Merkur«, das die »Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken« zur WM freischaltete: Ein feuilletonistischer Philosoph über Fußball: »Ein fundierter Enthusiasmus für das Ballgeschehen wird nach dem Sein des Seienden fragen, das im Geviert der Eckfahnen sein Unwesen treibt.« Usw. (»Merkur«: »Anfangsgründe der Fußballbetrachtung«) Die Antwort darauf haben »Zeit«, »Welt« und all die anderen längst gefunden, nicht nur im Schwarzwald, sondern auch auf südamerikanischem Boden.