Wie ist das europäische Projekt einzuschätzen? Oftmals wird von Politikern und Leitartiklern ein Mangel an Leidenschaft beklagt, der Folge der Politik der europäischen Institutionen sei (dazu Teil 2 dieser Reihe). Roland Benedikter und Georg Göschl teilen in ihrem Artikel, den wir in Heft 4 von »Pop. Kultur und Kritik« veröffentlicht haben, diese Ansicht. Sie stimmen aber nicht in die Beschwörung der europäischen Kultur ein, weil sie glauben, dass die Berufung auf Kultur immer die regionale und nationale Absonderung hervorbringt und kein staatenübergreifendes Programm stiftet (dazu Teil 1). Stattdessen plädieren sie – nach amerikanischem Vorbild (Teil 3) – für eine europäische Variante der Zivilreligion. In der letzten Folge (Teil 4) habe ich diese Überlegungen diskutiert und skeptisch beurteilt.
Im abschließenden Beitrag möchte ich nun die Überlegungen Benedikter/Göschls vom Standpunkt populärkultureller Entwicklungen sowie von der Pop-Warte aus einschätzen. Ich fange mit der populären Kultur an: Benedikter/Göschl betrachten Kultur als Motor der Spaltungen und plädieren deshalb für eine einigende europäische Zivilreligion, die das Bekenntnis zu abendländischen und/oder aufklärerischen Werten und Ideen mit mehr Inbrunst betreibt.
Diese These scheint mir in mehrfacher Hinsicht kritikwürdig zu sein: 1. Die aufklärerisch-demokratische Tradition ist in vielen bedeutenden Ländern des EU-Verbunds stark genug institutionell wie weltanschaulich verankert, eine Gründung der Zivilreligion auf sie scheint mir nicht zwingend, weder notwendig noch erfolgsträchtig. 2. Richtig ist, dass sich populäre Kultur (gemeinschaftsstiftende, schichtenübergreifende Kultur) oftmals auf regionaler oder nationaler Ebene bildet. Wenn man sich aber Frontstellungen gegen andere als Kulturen identifizierte Einheiten (islamische, slawisch-russische, chinesische Kultur – was jeweils auf der politischen Jahresordnung steht) anschaut, sieht man, dass sich dabei Populärkultur nationenübergreifend ausgestalten lässt und einen Rang einnimmt (einnehmen könnte), der einer durchgesetzten Zivilreligion gleichkommt. 3. Dann ist natürlich die Frage, ob es wünschenswert ist, dass es in der Abgrenzung gegenüber anderen so etwas wie eine europäische Kultur gibt, oder ob man nicht vielmehr die möglichen kriegerischen Folgen solch einer kulturellen Unifizierung fürchten sollte. Wer Populärkultur wie Zivilreligion als Antrieb nationaler Machtanstrengung fürchtet, der wird bei ihrer Transponierung auf EU-Ebene erst recht nicht froh.
Was lässt sich vom Pop-Standpunkt aus zu nationenübergreifenden Erfolgen sagen? Ich glaube, es leuchtet unmittelbar ein, dass wir es bei Pop mit der einzigen Kultur zu tun haben, die sich in den letzten 50 Jahren in vielen Teilen der Welt durchgesetzt hat, obwohl deren Ausgangspunkte und -orte (afroamerikanischer Blues und Jazz, Soul und Funk; Südstaaten-Country-Music und -Rockabilly; britischer Pop und Rock; Hollywood; Madison Avenue; New Yorker Pop-Art) in vielen Fällen wenig oder gar nichts mit den Orten und Zusammenhängen zu tun haben, an denen sie oftmals in Mischformen heute sowohl produziert als auch rezipiert werden.
Mit den Kulturen der EU-Länder hatte sie jedenfalls kaum etwas zu tun, mit Ausnahme Englands, das bezeichnenderweise ständig den Weg aus der Gemeinschaft sucht oder sich abseits stellt. Mit Festland-Europa ist Pop aber immerhin insofern verbunden, als einige Avantgarde-Vorlieben in Pop eingegangen sind oder sich mit Pop leicht verbinden lassen: Repetition, Oberflächlichkeit, Künstlichkeit, Reduktion; im Stadtbild sehr gut sichtbar im Kontrast (und teilweise auch wieder Zusammenhang) von puristischem Beton und Glas und bunteren Schaufensterauslagen und Leuchtreklamen (aber die europäischen Touristen mögen ja nur das Ländlich-Sittliche oder das Strandvergnügen, gotische Kirchen, Adelsgemäuer und Barockes).
Pop steht quer zu älteren Volksüberzeugungen, die oftmals martialisch und/oder rassisch ausgerichtet sind oder deren heutige Verfechter auf Schutz, auf Abgrenzung bestehen. Gerade das ist aus meiner Sicht ein guter Punkt, um Pop als Kandidatin für kulturelle oder meinetwegen auch zivilreligiöse, vor allem aber politische Begeisterung in den Blick zu nehmen. Pop ist zwar abwechslungsreich, drängt aber nicht unbedingt auf kulturelle Vielfalt; mit einer möglichen Weltsprache Englisch verbunden, könnte Pop zum Abbau von kulturell-politischen Besonderheiten beitragen, wenn Pop-Anhänger sich stärker von der noch übermächtigen Anschauung, wichtiger sei die Bewahrung kultureller Unterschiede und (vielfältiger) Volkstraditionen, lösen könnten.