Kleine Artikelrevue Juni 2014
von Thomas Hecken
29.6.2014

Normcore

Im Jahr 1985 schrieb ich in »Spex« in einer Singles-Besprechung von Prefab Sprouts »When Love Breaks Down«: »Der Ausweg liegt jetzt in der, mit Oskar Maria Graf zu sprechen, Flucht in die Mittelmäßigkeit.«

Das war damals keineswegs eine originelle Bemerkung von mir. Die Idee bzw. Attitüde lag in der Luft und stand in manch anderem Zeitgeistblättchen – nach all den Abweichungen musste man irgendwann als letzten Schritt darauf kommen, das Mittelmäßige als dissidenten Stil einzuführen. Abweichend ist das dann natürlich nur für jene anderen, die, von Hippies bis zu Punks und modernen Künstlern, nach wie vor auf subkulturelle und kreativ-originelle Differenz setzen – und für diejenigen, die von ihnen erwarten, dass sie genau das tun.

Es ist, je nach Temperament, schön, amüsant oder deprimierend zu sehen, dass diese abweichende Geste des Mittelmäßigen nun drei Jahrzehnte später erneut gepflegt wird. Diesmal sind die Redaktionen derart ausgehungert, sie besitzen angesichts des modischen Pluralismus ein so großes Verlangen nach identifizierbaren Stilen, dass innerhalb von wenigen Wochen alle Blätter, Blogs und Seiten zwischen Brisbane und Seattle die Normcore-Mode propagieren. Natürlich die übliche Propaganda des ›sachlichen‹ Journalismus: indem sie teils im Modus der Berichterstattung, teils im Modus des feuilletonistischen Kommentars darüber schreiben, dass andere darüber schreiben.

Den Ausgangspunkt bildet für viele ein Papier der Kreativ-Gruppe K-Hole mit der Feststellung: »If the rule is Think Different, being seen as normal is the scariest thing. […] When the fringes get more and more crowded, Mass Indie turns toward the middle. Having mastered difference, the truly cool attempt to master sameness.« Dazu ein skurril entideologisierter und banalisierter Kommunitarismus: »Normcore doesn’t want the freedom to become someone. Normcore wants the freedom to be with anyone. You might not nderstand the rules of football, but you can still get a thrill from the roar of the crowd at the World Cup. In Normcore, one does not pretend to be above the indignity of belonging.« (K-Hole: »Youth Mode: A Report on Freedom«)

Natürlich haben die ›Masters of Difference‹ keinerlei Problem damit, das Durchschnittliche schnell als Außergewöhnliches zu entdecken: »At first, I spotted just occasional forays into normcore: the rare cool kid wearing clothes as lukewarm as the last sips of deli coffee—mock turtlenecks with Tevas and Patagonia windbreakers«, heißt es schon Ende Februar im »New York Magazine« (»Normcore: Fashion for Those Who Realize Theyʼre One in 7 Billion«). Klar, ›lauwarme Klamotten‹, aber »cool kid«, nicht allgegenwärtige uncoole Majorität.

Im Juni weiß das dann jeder; ein Beispiel unter Hunderten, die »South China Morning Post« und ihre Kulturexperten: »Lizzie Garrett Mettler, LA-based cultural observer, says: ›Hipsters do things to be funny and ironic – like those T-shirts from 10 years ago that said ‘Spelling bee champ’ on them. But those shirts are dated, and the jokes are old. Now that the ironic T-shirt and the handlebar moustache have become stale, hipsters are being funny by going mainstream. It’s a bit condescending to wear normal clothing as a joke, but maybe that’s the next natural iteration of the hipster.‹« (»South China Morning Post«: »Introducing ›Normcore‹, the Anti-Trend-Trend«)

Selbst Modehasser wissen bereits Bescheid: »All my life I’ve congratulated myself on not being a slave to whatever the Anna Wintours of this world are telling us to swathe ourselves in this week, but now I’m right at the sharp end of cutting edge and I don’t know what to do. I’m worried that I’ll be mistaken for normcore when, in fact, I’m just norm.« (»The Scotsman«: »Normcore?«)

Da ist es tröstlich, dass es wenigstens eine Institution gibt, die nicht den Cool-Kid- und Hipster-Standpunkt einnimmt. In der »Neuen Zürcher Zeitung« kann man lesen: »Normcore ist das Resultat von Übersättigung und leistet der textilen Verödung durch Discounter Vorschub, sorgt für noch einmal aggressivere Preisschlachten und beraubt die Mode so jeglichen Zaubers. Allerdings ist Normcore sicher auch ein Warnsignal an die Modebranche, die mit ihrem überdrehten Tempo und immer kurzfristigeren Trends den Draht zu den Leuten verloren hat. Dass Normcorer trotz dem gigantischen modischen Angebot einfach abschalten und nicht einmal mehr rebellieren, müsste all jenen zu denken geben, die in dem Metier tätig sind.« (»NZZ«: »Die Mittelpracht«)

Die Rebellion, und ergehe sie als Normcore-Hipsterismus, sie hat also doch eine modische Chance! Schalten Sie bitte wieder ein, wenn in dreißig Jahren das nächste Mittelmaß-Revival ansteht.