In der Zeit vor und nach der Europawahl sollen hier einige Betrachtungen zum Stand und zum Sinn des europäischen Projekts veröffentlicht werden. Zweifelsfrei handelt es sich um einen wichtigen populärkulturellen Gegenstand, schließlich zählt die Behauptung, es gebe bedeutende Gemeinsamkeiten über die Grenzen der nationalen Kultur und Sprache hinaus, zum Kernargument der Europa-Befürworter.
Ausgangspunkt der Betrachtungen sollen Punkte sein, die in Heft 4 von »Pop. Kultur und Kritik« im Artikel »Zur Überwindung der Krise: Europa braucht eine Zivilreligion« von Roland Benedikter und Georg Göschl im März 2014 zur Diskussion gestellt wurden (alle folgenden Zitate sind diesem Aufsatz entnommen).
Benedikter/Göschl treten dort für eine besondere Ausrichtung Europas an amerikanischen Verhältnissen ein – an die Stelle der Beschwörung europäischer Kultur sollte eine »Zivilreligion« treten:
»Der Unterschied zwischen den USA und Europa besteht zentral in der Kraft der Zivilreligion im täglichen Leben. Der amerikanische Traum ist tief in den Köpfen und Herzen der amerikanischen Bevölkerung verankert. […] Diese Zivilreligion findet ihren Ausdruck, unabhängig von religiösen Konfessionen, in einem allgemein akzeptierten Grundverständnis von ›gut‹ und ›böse‹, ›Recht‹ und ›Unrecht‹, ›amerikanisch‹ und ›nichtamerikanisch‹. Dieses wird durch den Glauben an Demokratie, Individualität, Freiheit und Selbstverwirklichung untermauert. Es handelt sich um ein säkular-spirituelles, von Wertevorstellungen durchdrungenes Identitätsgefühl, welches in der Lage ist, Amerikanerinnen und Amerikaner ganz unterschiedlicher sozialer Herkunft, Klasse oder ethnischer und kultureller Zugehörigkeit beim Hissen der US-Flagge mit Einheitsgefühl und Patriotismus zu erfüllen, sie zu Tränen rührt und in ihrer Auffassung die USA als Beispiel für eine bessere Welt (›city upon the hill‹) stehen lässt, um nur einige Beispiele zu nennen.«
Wichtig ist für Benedikter/Göschl nicht nur, dass dieser Patriotismus liberal-demokratische Züge trägt, sondern auch, dass er nicht als ein kultureller Grundzug verstanden werden dürfe – dass er im Gegenteil die Gewähr dafür biete, die unterschiedlichen kulturellen Richtungen des Einwanderungslandes USA einmal hinter sich zu lassen:
»Zivilreligion ist dabei keineswegs mit Kultur zu verwechseln. Zivilreligion ersetzt im Gegenteil in den USA Kultur, so wie sie in Europa seit dem 18. Jahrhundert romantisch-national verstanden wurde. Denn Kultur trennt die Ethnien, Zivilreligion verbindet sie. Dasselbe gilt für den Gegensatz zwischen Zivilreligion und Religion. Während Religionen Gruppen schaffen, löst Zivilreligion Gruppen in ein größeres, grundlegender und zugleich pragmatischer verbindendes Identitätsbewusstsein auf.«
Für Europa sehen Benedikter/Göschl die Grundlage der möglichen Zivilreligion in der abendländischen und aufklärerischen Tradition. Deutlich getrennt soll diese Ausrichtung für sie von einer Ausrichtung auf wirtschaftliche Zusammenarbeit sein, von der bloßen Berufung auf ökonomische Vorteile, welche die Institutionalisierung der EU geprägt und heute, in Folge der ökonomischen Krise innerhalb der Euro-Zone, folgerichtig zur europäischen Krise geführt habe:
»Wo liegt die Perspektive? Der jahrhundertealte humanistische Geist Europas und seine kollektiven wie individuellen Errungenschaften bilden den unverzichtbaren zivilreligiösen Grundstein eines möglichen europäischen Bewusstseins. […] Dieses demokratisch-zivilisatorische Erbe ist es, welches uns Europäer zivilreligiös einigen kann. Es ist ein Demokratieverständnis, welches nicht nur aus der kulturellen Vergangenheit heraus entsteht, sondern in säkular-humanistischem Geist den nationenübergreifenden Nenner eines gemeinsamen europäischen Gedächtnisses der Zukunft bilden kann.«
Auch wenn man natürlich noch gerne näher erläutert bekäme, was genau in dieses säkular-humanistische Aufklärungserbe eingeschlossen ist – noch über die Groß-Angaben »Demokratie und Rechtsstaatlichkeit«, »Freiheit, Laizismus, Säkularismus und Menschenrechte« hinaus –, stehen damit immerhin mehrere Dinge im Aufruf Benedikters/Göschls fest:
– Überwunden werden soll das Nationale, hier vor allem gefasst als »nationale Kultur«
– Sozioökonomische Verflechtung und Zusammenarbeit sei nicht ausreichend
– Angestrebt wird eine Zivilreligion nach US-amerikanischem Vorbild
– Popkultur spielt in dieser Konzeption keine Rolle
Wie immer man zu den Auffassungen Benedikters/Göschls stehen mag, sind das in jedem Falle Punkte, die eine nähere Betrachtung und Diskussion lohnen. Dies soll hier in den kommenden Wochen in mehreren Folgen geschehen.