›Funktionieren‹ meint in »Yeah Yeah Yeah«, ob ein Sound die Teenager der jeweiligen Zeit überzeugt
[aus: »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 4, Frühling 2014, S. 84-87]
Eine der treffendsten Definitionen dessen, was Popmusik uns bedeutet, wird Martin Scorcese zugeschrieben: »Popular music formed the soundtrack of my life.« Was das heißt, weiß jeder, der sich an die wirklich bedeutsamen Momente in seinem Leben erinnert – die meisten dieser Erinnerungen sind fest und für immer mit Songs oder Platten verknüpft. Während sich das eigene Leben noch entfaltet, ist man allerdings wenig daran interessiert, wie dieser Soundtrack eigentlich funktioniert und sich entwickelt.
Darum ist Geschichtsschreibung in der Popmusik im identifikatorischen Sinne ein überflüssiges Unterfangen. Andererseits kennen wir seit der Mitte des 20. Jahrhunderts kein anderes kulturelles Phänomen, das eine solche Breitenwirkung erreicht hat wie die Popmusik – und da wundert es denn doch, dass der Pop weitaus seltener Gegenstand umfassender historischer Darstellungen geworden ist als z.B. der Film.
Nach langer Zeit liegt nun einmal wieder ein ausführlicher Versuch dazu vor. Zugetraut hat ihn sich Bob Stanley, Jg. 1964, der als DJ, Labelchef, Musikjournalist und Mitglied der Band Saint Etienne so ziemlich alle Aspekte des Business aus der Nähe kennt. Zuerst und vor allem aber ist er ein »pop obsessive« (Stanley über Stanley in seinem Blog »Croydon Municipal«). Die Aufgabe, die Geschichte der Popmusik in ihrer Gesamtheit zu schreiben, ist gewaltig und der Autor zeigt sich ihr gewachsen – nicht zuletzt aufgrund seines stupenden, enzyklopädischen Detailwissens, aber auch weil er sehr bewusst einige Vorentscheidungen trifft, die der Komplexitätsreduktion dienen und die nachvollziehen muss, wer die Leistung des Buchs angemessen würdigen will.
Neben der Sortierung der nahezu unendlichen Materialfülle und der Etablierung eines systematischen Rahmens zu ihrer Interpretation liegt eine der wesentlichen Herausforderungen des Unternehmens im Umgang mit den Dichotomien der diversifizierten Popwelt, die stets auch eine Geschmacksentscheidung fordern: Rock vs. Pop, Authentizität vs. Artifizialität, Simplizität vs. Intellekt, uncool vs. cool usw.
Stanley hebelt diese Schwierigkeit mit einer charmanten These aus (»The energy and insight of pop comes from juggling its contradictions rather than purging them«, S. xiv), verzichtet auf eine übermäßige Intellektualisierung des Pop (schreibt also letztlich im Modus des Fans) und begrenzt seinen Gegenstand definitorisch wie folgt: Sämtliche Musik, die auf Tonträger gepresst wird und in Hitparaden erfasst werden kann, ist Pop.
Und so beginnt er seine Geschichte im Jahr 1952, an dessen Ende in Großbritannien binnen weniger Wochen die Einführung der 45rpm-Vinyl Single, der Abdruck der ersten verkaufsbasierten Hitparade und die Patentierung des ersten transportablen Plattenspielers erfolgte. Aus diesem Anfangspunkt ergibt sich zwangsläufig auch der Schlusspunkt von Stanleys Buch – es ist der Beginn des digitalen Zeitalters der Popmusik um das Jahr 2000, mit dem zwar der moderne Pop nicht an sein Ende kommt, das aber zumindest mit den physischen Tonträgern auch die nationalen Hitparaden der Bedeutungslosigkeit preisgegeben hat. All diese Voraussetzungen sind auf ihre Weise anfechtbar, doch geben sie der mit 800 großformatigen Seiten gewichtigen Pophistorie, die Stanley vorlegt, die nötige Struktur und Richtung.
Nachdem Stanley das Feld solchermaßen abgesteckt hat, macht er sich an die Kartierung. In 65 kurzen Kapiteln, die zumeist entweder ein Subgenre oder einen Künstler zum Mittelpunkt machen, werden 50 Jahre Pop-Panorama entfaltet: vom Jump Blues über Soft Soul und Glamrock bis hin zu Shoegaze; von Bill Haley über die Monkees und Marc Bolan bis hin zu Suede. Die Funktionsprinzipien der Darstellung sind simpel: Die Chronologie sorgt für die Makrostruktur, die Analogie für die Mikrostruktur – eine gerade Entwicklungslinie durch den Pop zu ziehen, ist das erklärte Ziel des Buchs.
Dies gelingt vor allem, weil der Autor neben den evidenten Zusammenhängen immer wieder auch überraschende aufdeckt und er neben den Genres, deren Wichtigkeit Konsens ist (Punk etwa), eben auch die Sackgassen und obskuren Subgenres des Pop wie den britischen Folk Rock der 70er Jahre würdigt. Fast zwangsläufig ergibt sich daraus aber auch ein wesentlicher Nachteil des Buchs – der deiktische Gestus wird nur selten verlassen, um einer These Raum zu geben, die über die Grenzen der Popmusik hinausweisen könnte.
Was Stanley eigentlich tut, ist Namen zu einer MindMap zu gruppieren und die Zwischenräume mit Anekdoten und gut zitierbaren Einzeilern anzureichern. Das aber kann er exzellent, und der Effekt ist eine faszinierende Reichhaltigkeit und suggestive Sogkraft seiner Popgeschichte. Die Linie, die Stanley durch den Pop zieht, mag zwar konstruiert und zu gerade sein, aber sie ist breit, unterhaltsam und bringt die Punkte, die sie touchiert, zum Funkeln!
Stanleys Bonmots sind insbesondere dort stark, wo er aus seinem Missfallen am Gegenstand keinen Hehl macht: Die Boomtown Rats »looked rather like Showaddywaddy on their way to a swingers party« (S. 453), die mittleren Whitesnake reduzieren sich auf »poodle-haired eye candy for the girls« (S. 575). Der Autor ist nach Erscheinen des Buchs vor allem daran gemessen worden, welche Vorlieben er in seiner Auswahl offenbart. Dieser Zugang erscheint unproduktiv, weil durch ihn nur bestätigt wird, was man ohnehin voraussetzen konnte – wer einmal eine Platte von Saint Etienne gehört hat, der wird nicht erwarten, dass Stanley Mötley Crüe im Zentrum des Pop-Universums verortet.
Gleichermaßen müßig ist eine Debatte der einzelnen Wertungen, die das Buch vornimmt; selbstverständlich sind sie subjektiv, doch das tut nichts zur Sache. Die Antwort auf die Frage, ob »New Morning« wirklich die beste Dylan-Platte ist (S. 172), schmälert weder Leistung noch Bedeutung von »Yeah Yeah Yeah«. Im Text selbst entlarvt sich die Beliebigkeit solcher Wertungen gar unfreiwillig, wenn zunächst (S. 562) »Like A Prayer«, keine anderthalb Seiten darauf jedoch »Erotica« zum unzweifelhaft besten Madonna-Album erklärt wird.
Durchaus wesentlich ist hingegen der Einwand, dass Stanley seiner eigenen Vorgabe, den Kontext ins Zentrum zu stellen (»Context is everything«, S. xiii), nur in sehr eingeschränktem Maße gerecht wird – kaum je werden ihm nämlich kulturelle, gesellschaftliche oder technologische Kontexte zu den treibenden Kräften im Pop. Stattdessen führt sein Entwicklungsschema immer wieder den kommerziellen Erfolg als Motor ins Feld. Die zentrale Denkfigur von einer Entwicklungsstufe zur nächsten lautet: Etwas funktioniert, bis es nicht mehr funktioniert, und dann geht es weiter.
›Funktionieren‹ aber meint in »Yeah Yeah Yeah« lediglich, ob ein Sound die Teenager der jeweiligen Zeit überzeugt und es daher auf hohe Hitparadenpositionen schafft. Als Folge davon wird auch die Reflexion der Diskontinuitäten dieser Entwicklungen, die eigentlich Gleichzeitigkeiten sind, nahezu unmöglich. Warum New Wave, Disco und die Bee Gees zur selben Zeit stattfinden, wird nicht zum Gegenstand einer Überlegung – sie finden sich in drei aufeinanderfolgenden Kapiteln, die monolithisch gegeneinander abgegrenzt sind.
In Summe handelt es sich bei »Yeah Yeah Yeah« um den nostalgischen Abgesang auf ein Zeitalter, in dem Popmusik über das Radio oder Zeitschriften entdeckt, archiviert, kombiniert, weitergegeben wurde, etwas sehr Privates, Persönliches, eine Religion war. Ob dieses Zeitalter wirklich zu Ende ist, darf bezweifelt werden. Ironischerweise jedenfalls ist gerade die als sein Totengräber identifizierte Digitalisierung dafür verantwortlich, dass Stanleys Darstellung mit Spaß und Gewinn konsumiert werden kann: Vor 20 Jahren hätte man die immerhin kühne These, »It’s Almost Tomorrow« von den Dreamweavers aus dem Jahre 1956 sei die erste Indieplatte in der Geschichte des Pop gewesen (S. 578), nur hinnehmen können. Heute kann man sie binnen weniger Sekunden über YouTube am Hörbeispiel mit den eigenen Vorstellungen abgleichen.
So funktioniert das Buch am besten – nicht als Geschichte einer Epoche, die man von vorn nach hinten und Wort für Wort mit großem Erkenntnisgewinn liest. Aber man greife sich ein beliebiges Kapitel heraus und höre während der Lektüre die verschiedenen Songs nach, die Stanley miteinander ins Gespräch bringt. Dann wird man mit reichhaltigen, überraschenden Evidenzen belohnt, die auch noch einmal die eigentliche Stärke dieser Geschichte des Pop deutlich machen:
Selbst wenn der Autor leugnet, dass er eine Enzyklopädie vorlegen wollte, liegt der Hauptwert von »Yeah Yeah Yeah« gerade darin – es ist ein Nachschlagewerk, in dem man zu wirklich allen Künstlern, die auch nur einigermaßen relevant in der Geschichte des Pop waren, zumindest ein paar interessante Sätze und Verbindungslinien zu anderen Künstlern finden kann. Zu allen, mit einer einzigen Ausnahme: Einen Hinweis auf Stanleys eigene Band Saint Etienne sucht man vergebens. Britisches Understatement in einem Werk von beachtlicher Größe und Reichweite.
Bibliografischer Nachweis:
Bob Stanley
Yeah Yeah Yeah. The Story of Modern Pop
London 2013
Faber and Faber
ISBN 978-0571281978
776 Seiten