Thema: Kultur vs. Popkultur
Zivilisiertheit: Scheidung von öffentlich und privat; Zurückhaltung bei moralischen Anforderungen, die nicht psychische oder körperliche Gewalt betreffen; Liberalität in ästhetischen Fragen; Freude über Hobbys und Amüsement; Toleranz und Indifferenz; Verdächtigung allzu idealistischer Aufschwünge; Anerkennung und Kultivierung nicht-ekstatischer körperlicher und geistiger Genüsse.
Dieser Form von Zivilisiertheit kommen diverse Popmoden entgegen. Sie bestimmen das Leben fast aller Westler, auch ihrer Kritiker. Auf dem Papier der Theoretiker, Akademiker, Feuilletonisten hingegen findet man kaum ein grundsätzlich lobendes Wort dafür. Im Gegenteil, die Frustration, die Abneigung und die Herabwürdigung sind Motor und Gegenstand fast aller Äußerungen aus dem Kreis der Kulturbegeisterten. Ein paar aktuelle Beispiele:
»During the entire year 1967, ›The Chicago Tribune‹ only employed the word ›lifestyle‹ seven times, but five years later the term showed up in the same newspaper more than 3,000 times«, heißt es in einem Essay im »Daily Beast« (Ted Gioia). Darunter leide u.a. die ernsthafte Musikkritik: »Hard-nosed criticism is squeezed out by soft stories, gossip and fluff.« Hauptsache, es ist hart!
»›Popliteratur‹ hieß in der jungen Berliner Republik nämlich nicht, dass nun plötzlich irgendetwas Waches, Schnelles und Unberechenbares in die Literaturhäuser einfiel, sondern nur, dass der sich seit Werther treu gebliebene, leidlich gebildete, heterosexuelle, nicht allzu arme weiße Bub neuerdings Bandnamen und Plattentitel in seine Monologe einbauen konnte«, beklagt die »FAZ« (Dietmar Dath). Besser, man ist arm und unberechenbar.
»Die Loveparade oder das Berghain sind nur erfolgreiche Geschäftsmodelle, die langweilig und idiotisch sind, weil es sich um das Freizeitvergnügen von Partyvolk handelt«, weiß ein Autor (Klaus Bittermann) in »Jungle World«, ein anderer (Roger Behrens): »Der Berlin-Hype hat so die Werbeprospekte, Magazine und Reiseführer mit lustigen Bildern versorgt.« Schade für die traurigen Bilder.
»Jungle World« liefert aber auch das Antidot gleich mit. Zum Berlin-Thema meint Josie Thaddeus-Johns, eine »25-jährige Bloggerin aus London«: »Man kann zu jeder Uhrzeit Alkohol kaufen oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln von einem Club zum nächsten ziehen, was woanders nicht selbstverständlich ist.« Kriterien haben diese Engländer…
All diese Artikel sind übrigens ausgezeichnet geschrieben. Wahrscheinlich muss man diese Anti-Lifestyle-Einstellung besitzen, um so gut und so viel über Kultur und ihre Widersacher schreiben zu können. Sonst würde man ja anderes, Bequemeres tun (der Beitrag der Bloggerin ist nur ein Interview).