Pop-Ästhetik
von Thomas Hecken
24.11.2013

Oberflächlichkeit ist für die Pop-Ästhetik in dreierlei Hinsicht wichtig

Die Behauptung, Pop besitze eine Ästhetik, zeigt in der Alltagssprache zuverlässig eine Wertschätzung an. Der Satz, es handele sich um ästhetische Aufnahmen – ein Satz, den man in Boulevardsendungen öfter hören kann –, bedeutet zumeist oder immer: Es sind schöne, nicht vulgäre Fotos.

Von der philosophischen Tradition wird diese Einschätzung nicht erzwungen. Ästhetik meint als Disziplin in der Tradition Baumgartens aus der Mitte des 18. Jahrhunderts: Wissenschaft der sinnlichen Erkenntnis. Ihr geht es um sinnliche Wahrnehmungen, nicht um logische Schlüsse. Damit dreht sich nicht zwangsläufig alles um das Schöne, schon gar nicht nur um das Schöne als feststehende Eigenschaft von Objekten.

Immanuel Kants »Kritik der Urteilskraft« aus dem Jahr 1790 ist ein bekanntes Beispiel dafür. Kant stellt nicht nur das Schöne, sondern auch das Erhabene in den Mittelpunkt. Noch wichtiger in unserem Zusammenhang: Er trennt das »Geschmacksurteil« vom »Erkenntnisurteil«. Das Geschmacksurteil sei »nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann.« Die Unterscheidung, »ob etwas schön sei oder nicht«, rühre vom »Gefühl der Lust oder Unlust« des einzelnen Subjekts her (»Kritik der Urteilskraft«, § 1).

Richtet man sich bloß nach diesen Aussagen Kants, öffnet sich für das ästhetische Urteil ein weites Feld. Das Urteil, etwas sei schön, muss sich keineswegs nur auf Kunstwerke beziehen – und es gibt keine Regel, die der Einzelne nachvollziehen müsste, um zu dem Urteil ›schön‹ zu gelangen.

Das heißt mit Blick auf Pop-Phänomene: Sowohl Pop-Songs, Pop-Gemälde, Pop-Romane als auch Pop-Frisuren, Pop-Tänze, Pop-Slogans etc. können als nicht schön beurteilt werden, aber eben auch als schön.

Es wird leicht klar, was das bedeutet, wenn man sich vor Augen führt, welch schlechten Ruf Pop-Phänomene unter Gebildeten besaßen. Sich dem unter ihnen gängigen Urteil, Pop sei hässlich, unästhetisch, wertlos, zu verweigern, benötigte man etwas Mut oder andere Hilfen. Die Ansicht, ästhetische Urteile fußten auf Lust/Unlustempfindungen, nicht auf Erkenntnis und Bildung, kann zweifellos solch eine Hilfe sein.

Ein wichtiger Teil der Pop-Ästhetik besteht darum einfach aus positiven Geschmacksurteilen. Damit sie Eindruck bei denjenigen machen, die von der Position der Universität, der Akademie und anderer Bildungsinstitutionen aus urteilen, ist es natürlich oft hilfreich, wenn solche Urteile von Leuten kommen, die sie nicht verachten. Für Akademiker und staatliche Stellen ist es wichtig, dass positive Einschätzungen zu Pop-Werken wenn schon zu Beginn nicht von Ihresgleichen, so doch von modernen Intellektuellen und Künstlern stammen, keineswegs aber von Teenagern und Geschäftsleuten. Hier ein entsprechendes Beispiel von George Melly, der über die Geschmacksvorlieben der Independent Group, einer kleinen Gruppe englischer Theoretiker und bildender Künstler Anfang und Mitte der 1950er Jahre berichtet:

»For just it was the aggressively American music of Presley and Haley which sparked off the British teenage thing, so it was ‚a trunkful of American magazines which John McHale brought back to England in 1955 from a trip to the U.S.‘ which led to the Independent Group deserting their generalized interest in modern mass culture in favour of an exclusive fascination with the American dream. As you might expect, the working-class adolescents who ›went ape‹ for Presley were naive and uncritical, whereas the intellectuals’ enthusiasm for the subculture of billboards, pin-ups and auto-styling implied a certain irony, and the whole-hearted rejection of ›good taste‹ in their assessment of pop imagery was in itself the attitude of a dandy in the Baudelairean sense.« (Melly [1970] 1989: 13)

Das soll hier noch den Unterschied machen: Die einen sind verrückt nach Elvis, die anderen kultivieren ihre Hingabe mit Ironie und Distanz. Daran, dass beide Gruppen, die proletarischen Jugendlichen und die englischen Intellektuellen der Independent Group, Presley, Pin-ups und amerikanische Straßenkreuzer gut finden, ändert es jedoch grundsätzlich nichts.

Interesseloses Wohlgefallen

Die Stichworte ›Ironie‹ und ›Distanz‹ führen aber zu einer anderen Debatte, bei denen sie sehr wohl einen grundsätzlichen Unterschied bedeuten. Dazu kann und muss noch einmal bei Kant angeknüpft werden. Kants »Kritik der Urteilskraft« geht nämlich über das bisher Gesagte weit hinaus. Zwar ist es Kants Auffassung, dass die Aussage, etwas sei schön, dem rein ästhetischen Geschmacksurteil zukomme, einem durchaus subjektiven Urteil, das keineswegs vom Objekt erzwungen werde. Es gibt nach Kant auch keine Ordnung des Schönen, die man als Geschmacksrichter lediglich nachvollziehen dürfte. Zum Teil scheint Kant bei seiner Argumentation sogar das alte Bild des »Geschmacks«-Urteils wörtlich zu nehmen, wenn es darum geht, das Recht der alten Regelästhetik zu bestreiten: ich »versuche das Gericht an meiner Zunge und meinem Gaumen: und danach (nicht nach allgemeinen Prinzipien) fälle ich mein Urteil.« (§ 33)

Doch dabei bleibt es nicht. Geschmack ist bei Kant nur eine Metapher. Sie zielt auf die Regellosigkeit, nicht auf den tatsächlichen Sinnengenuss, schon gar nicht auf Lust im erotischen Sinne. »Angenehm heißt jemandem das, was ihn vergnügt, schön, was ihm bloß gefällt«, differenziert Kant, und er ist der Ansicht, dass nur das bloße Gefallen, das »interesselose Wohlgefallen«, wie er es nennt, eine ästhetische Haltung ausmacht.

Sinnlicher Genuss, Vergnügen hingegen verhindern ein ästhetisches Urteil, das von allen Interessen gereinigt ist; Interessen machen das freie Spiel der Einbildungskräfte unmöglich. Kant muss von einem solchen »freien Spiel« ausgehen, um den »Gemeinsinn« des Geschmacksurteils sowohl vor der unbedingten Notwendigkeit eines »objektiven Prinzips« als auch vor dem Privatgefühl des »Sinnengeschmacks« zu retten (§ 20).

Deshalb baut Kant eine bedeutsame Klausel ein. Er traut dem Urteilenden nicht zu, sich in jedem Fall von seinen Neigungen distanzieren zu können. Interesselos kann folglich nur das Wohlgefallen urteilen, welches nicht zu sehr »Reiz« und »Rührungen« ausgesetzt ist (§ 13). Äußerst Reizvolles kann nach Kant nicht als schön beurteilt werden. Darum gehören bestimmte Sujets und Präsentationsweisen aus dem Reich des Ästhetischen kategorisch ausgeschlossen. Bei der ästhetischen Beurteilung von Malerei und Musik kann »der Reiz der Farben, oder angenehmer Töne des Instruments« für Kant vielleicht eine Rolle spielen, aber den »eigentlichen Gegenstand des reinen Geschmacksurteils« machen »Zeichnung« und »Komposition« aus (§ 14).

Äußerliche Zutaten, »Zieraten«, lässt Kant ebenfalls gelten. Verzierungen wie »Einfassungen der Gemälde, oder Gewänder an Statuen, oder Säulengänge um Prachtgebäude« verbucht er auf der »Form«-Seite. Dinge wie den goldenen Rahmen schlägt er allerdings der Seite des Reizes zu: »Schmuck […] tut der echten Schönheit Abbruch« (ebd.).

Bei bestimmten Gegenständen der Malerei wie Wiesen und Gärten, die »von Natur gar zu viel Reiz haben«, hat Kant wiederum Bedenken (mit der heute einleuchtenderen Klimax »Wiesen, Gärten, Wollust selbst«). Wenn man aber über solche Gegenstände »noch mehr Reiz verbreiten will«, bleibt für Kant ([1772] 1974b: 112) endgültig ein unästhetischer Eindruck zurück. Sie werden dann wie Schlüsselreize angesehen, die einen ausweglos fesseln und binden.

Verlässt man Kants zumindest teilweise harmlos klingende Beispiele wirksamer Reize – die Wiesen und Gärten –, wird mit einer langen idealistischen Tradition daraus das Verbot oder zumindest die Abneigung, tagesaktuelle, politische, schockierende, eklige, aufreizende, sexuelle oder vulgäre Gegenstände und Meinungen darzustellen. All das ist nicht ästhetisch wahrnehmbar – schon gar nicht, wenn es deutlich oder verwirrend eindringlich gezeigt wird.

Es gibt allerdings eine Möglichkeit, selbst prekäre Sujets zu verwenden. Kant spricht davon, Reizendes »noch reizender zu machen«, im Umkehrschluss darf man wahrscheinlich eine gegenteilige Methode, eigentlich Reizendes reizloser zu gestalten, annehmen. Aus der Annahme wird Gewissheit, wenn man sich dem Kantianer Friedrich Schiller zuwendet. In Schillers Worten besteht diese Operation darin, den »Stoff« durch die »Form« zu vertilgen. Die Kunst der Bearbeitung drängt die Wirkung, die der eindrucksvolle Stoff bei einem geneigten Betrachter zweifelsohne ausgelöst hätte, zurück (Schiller [1795] 1962: 382).

Schleiermacher spricht demgemäß von der Aufgabe der Poesie, weder absichtlich noch aus Ungeschick im Leser ein anderes Verlangen als das »ruhiger Betrachtung und freier Anschauung« zu erregen (Schleiermacher [1800] 1988: 178). Der ›Künstler‹, der dagegen verstößt, ist eben keiner.

Man kann sich leicht vorstellen, dass diese Argumentation Phänomene, die gewöhnlich der Populär- und Massenkultur zugerechnet werden, negativ erfasst. Genres wie Rührstück, Melodram, Horror, Thriller, Slapstick, Pornographie, Tanzmusik, Stimmungsmusik besitzen ja ihren Zweck darin, einen auf bestimmte sinnlich-körperliche Wirkungen zu führen und nicht zu ruhiger Anschauung.

Moderne, antipopuläre Kant-Varianten

In der Entgegensetzung von moderner und populärer Kunst kommt dieses Negativurteil sogar noch weitreichender zur Geltung. Hier richtet sich das ästhetische Urteil gegen alle Darstellungen, die auf dem Wirklichkeitseffekt beruhen, gegen alle Darstellungen, die vorgeben und beim Populär-Rezipienten auch erfolgreich den Eindruck hinterlassen, greifbar Wirkliches zu zeigen.

So macht der bekannte spanische Kulturkritiker Ortega y Gassett 1921 deutlich, wie sehr die »Unbestimmheit der Grenzen zwischen Lebens- und Kunstdingen« die ästhetische Wahrnehmung störe, und spricht sich darum für ein Kunstwerk aus, das von der Wirklichkeit deutlich getrennt ist (1978a: 213f.). Diese Trennung vornehmen zu können ist für ihn eine Fähigkeit, die nur Eliten besitzen. Folgerichtig charakterisiert er 1925 in seinem Essay über »Die Vertreibung des Menschen aus der Kunst« die »neue Kunst« kategorisch als »wesentlich volksfremd«, ja »volksfeindlich«. Der »kompakten Majorität« bleibe sie ganz und gar unverständlich und stoße deshalb stets auf tiefe Ablehnung (1978b: 230f.).

Wichtig ist dabei zu wissen, dass Ortega 1925 unter Volkskunst keineswegs nur die Erzeugnisse der Illustrierten- und Filmindustrie versteht. Nein, der »volkstümliche Stil par excellence« sei die Romantik, die »Erstgeborene der Demokratie«. In Absetzung von der klassischen Kunst weise die Romantik bereits eine realistische Grundhaltung auf, die es dem breiten Publikum ermögliche, sich mit den dargestellten Helden genussvoll zu identifizieren und an ihren Gefühlen teilzuhaben; die Malerei liefere den Leuten in gleicher Weise Porträts von interessanten Menschen oder von Landschaften, die sie gerne aufsuchen würden (233). Die Kunst des 19. Jahrhunderts sei deshalb so »populär« gewesen, weil sie »nicht Kunst, sondern ein Auszug aus dem Leben war.« (Ebd.: 230, 233, 236)

Das Gefühl des Realismus verdanke sich vor allem der Technik, den Betrachter gar nicht merken zu lassen, dass er eine Darstellung vor sich habe. Indem die Kunst konventionelle Sichtweisen nicht enttäusche, könne die Mehrzahl der Betrachter zum Kunstwerk eine ähnliche Haltung einnehmen wie zum alltäglichen Leben. Verstöße gegen das aus ihrer Sicht Wahrscheinliche dulden sie deshalb nur insoweit, »als sie dadurch nicht bei der Betrachtung menschlicher Dinge und Schicksale gestört werden. Sowie diese rein ästhetischen Elemente überwiegen und die Geschichte von Hans und Grete nicht klipp und klar zutage liegt, wird das Publikum kopfscheu und weiß sich vor einer Bühne, einem Buch, einem Bild nicht zu helfen.« (Ebd.: 234)

Ortega lehnt diese Einstellung selbstverständlich ab. Als Parteigänger der idealistischen Ästhetik muss für ihn der »ästhetische Genuss im eigentlichen Sinne« strikt von einer alltagspraktischen Dimension getrennt bleiben. An der neuen Kunst fasziniert ihn darum deren ›Unwirklichkeit‹. Sie garantiert in besonders hohem Maße, dass der Ausdruck des Gefallens sich an speziellen künstlerischen Darstellungsweisen entzündet und nicht an dem dargestellten Objekt, das man auch außerhalb des Bildes oder der Beschreibung bewundert oder begehrt hätte (ebd.: 234f.).

Der Formalist Viktor Sklovskij hatte 1917 in »Kunst als Verfahren« das Eigentümliche der Kunst in den Verfremdungsverfahren ausgemacht, welche die automatisierten Wahrnehmungsgewohnheiten erschweren. Ortega y Gassett schließt sich dem knapp zehn Jahre später an, als er vom Kunstwerk fordert, dass es eine praktische, alltägliche Einstellung zum Dargestellten verhindern müsse. Die neue Kunst mit ihrem Hang zur Abstraktion und Selbstbezüglichkeit kommt dem fraglos entgegen. Ihre radikale Abkehr von der Zustimmung der »Masse« gründet in den Verfahren der »Entmenschlichung« und der Wendung gegen die vertraute Wirklichkeit, lautet Ortegas Bilanz der Werke von Mallarmé, Debussy, Picasso, Joyce, Proust und Pirandello  – die ganze junge Kunst sei »unpopulär«, und das nicht zufällig, sondern »notwendig und wesentlich.« (1978b: 230ff.)

Ein gutes Jahrzehnt später, 1939, hat der einflussreiche amerikanische Kunstkritiker Clement Greenberg ebenfalls keine Scheu, populäre und moderne Kunst auch auf der Ebene der Wertung in einen vollkommenen Gegensatz zu bringen. Greenberg bezieht sich auf genau dieselben Künstler, die auch Ortega anführte, und genau wie Ortega stellt er als zentrale Merkmale ihrer Werke Abstraktion und Ironie heraus; deren reine Selbstbezüglichkeit ziele sogar darauf ab, sich von der herrschenden Elite – also von der Schicht, welche allein als kultivierter Rezipient und Käufer in Frage käme – einschneidend zu lösen. Ebenfalls genau wie Ortega sieht Greenberg die populäre, kommerzielle Kunst (Hollywood-Filme, Werbung, »pulp fiction«) als Kunst der neuen Masse an, die von der alten Volkskultur (»folk culture«) strikt verschieden sei – sie gewähre eine bloße, flüchtige Ersatzbefriedigung, bleibe immer gleich, selbst wenn sie sich stilistisch verändere, und arbeite stets mit Formeln und Klischees (1939: 37ff., 47).

Auch Greenberg stellt als zentrale Gemeinsamkeit aller westlichen Kunst, die der Moderne abgewandt bleibt, deren Technik des Realismus heraus; sie erlaube es selbst dem ungebildeten Betrachter, sich und seine Welt wiederzufinden und sich in das Abgebildete hineinzuversetzen. In den populären Werken gebe es eine Kontinuität zwischen »Kunst und Leben«, fasst Greenberg die bereits von Ortega bekannte These prägnant zusammen (ebd.: 43f.). In seinem kanonischen Essay stellt Greenberg darum ein Gedicht von T. S. Eliot und einen Tin Pan Alley-Song, ein Gemälde von Georges Braque und das Cover der »Saturday Evening Post« hart gegeneinander. Die Wertung könnte eindeutiger nicht sein. Gemäß der kantianischen Ästhetik, die nun modern gesteigert wird, sind erstere ästhetisch wertvoll, letztere wertlos.

Reiz-Ästhetik

Nun gehören zu den Richtungen, die solche modernen, unpopulären Werke hervorgebracht haben, zweifelsohne auch Futurismus, Dadaismus, Surrealismus. Ihnen aber kann man nicht nachsagen, sie hätten es programmatisch auf eine Trennung von Kunst und Leben, auf interesseloses Wohlgefallen abgesehen. Ganz im Gegenteil gehört es zu ihrem Grundzug, Leben und Kunst ineinander aufgehen lassen zu wollen, freilich nicht auf dem Wege gewohnter realistischer Darstellungen. Mit aller Vehemenz halten z.B. die Surrealisten fest: Der Surrealismus sei »keine dichterische Form«. Sie wehren sich dagegen, von der kunstinteressierten Öffentlichkeit als Schriftsteller oder Maler missverstanden zu werden; vielmehr seien sie »Spezialisten der Revolte«, die sich aller »Aktionsmittel« – u.a. eben auch der Literatur – bedienten (Büro für surrealistische Forschungen [1925] 1998). »Poesie zu praktizieren« bedeute die »Begierden« im »anarchischen Zustand« zu halten, dekretiert der surrealistische Cheftheoretiker André Breton ([1924] 1968).

Deshalb überrascht es nicht, in Reihen der Avantgarde immer wieder auf Hinwendungen zur Populär- und Massenkultur zu treffen. Die Futuristen wollen in ihrem Theater, im futuristischen Varieté, »Komik, erotische[n] Reiz oder geistreiches Schockieren« voranstellen, sie wollen »dynamische Effekte« bringen, »schnellen und mitreißenden Tanzrhythmus«, »derbe Gags«, »enorme Brutalität«. Die angeblich »unsterblichen Meisterwerke« der Vergangenheit, die zu den bevorzugten Gegenständen der Akademien und Universitäten, der Theater und Opernhäuser gehören, will Marinetti deshalb wie eine »x-beliebige Attraktion« präsentieren, er will sie im genauen Gegenzug zur idealistischen Ästhetik Kants und Schillers reizvoller machen, das »Ernste und Erhabene in der Kunst« soll dadurch zerstört werden ([1913] 1972: 170ff.).

Nach Elvis Presley und den Rolling Stones sind viele dieser Leitlinie gefolgt, um Rock ’n’ Roll und Beat zu legitimieren und zu preisen. Eine Pop-Ästhetik wäre somit eine Reiz-Ästhetik, die gerade nicht auf interesseloses Wohlgefallen, sondern auf sinnlich interessiertes Gefallen, ja Ekstase setzt. Jon Landau etwa, der Manager von Bruce Springsteen, lobt den Rock ’n’ Roll als »hard, simple, body music« (Landau 1972: 129). Ein bekannter US-amerikanischer Kritiker deutet in dieselbe Richtung, wenn er »pop« mit den Adjektiven »fast, flash, sexual, loud, vulgar, monstrous or violent« charakterisiert. Was Kant genau als Grund aufgefasst hätte, ein ästhetisches Urteil für ausgeschlossen zu halten – und seine vielen Gefolgsleute als Grund genommen hätten, solche Werke zur Unkunst zu erklären –, gilt den Verteidigern der Jugendszenen nach 1950 genau als Ausweis ästhetischer Klasse.

Interessant ist freilich, dass Nik Cohn die Apologie des Lauten, Gewaltsamen und Sexuellen am berühmten Album der Beatles, »Sergeant Pepper«, vornimmt. Nicht jedoch, um das Konzeptalbum als Pop-Meilenstein zu loben, sondern um vor ihm zu warnen. In Cohns Sicht erfüllt es nämlich seine Pop-Kriterien nicht: »This was far beyond Pop, beyond instinct and pure energy. Limp and self-obsessed, it was art. Not art; Art«, heißt seine Ablehnungsformel, die wie gesehen bildungsbürgerliche Maßstäbe schlicht umdreht. Um »pop« zu sein, fehle den späteren Beatles fast alles, nämlich die bereits genannten Eigenschaften: »It wasn’t fast, flash, sexual, loud, vulgar, monstrous or violent«, lautet Cohns aus seiner Sicht vernichtende Bilanz (1996: 137f., 144).

Pop-Definition

Ich nehme diese Zuschreibungen Cohns und seine Reserve gegenüber dem Beatles-Album zum Anlass, um eine Pop-Ästhetik tatsächlich nicht in einer Reiz-Ästhetik aufgehen zu lassen, zumindest nicht in einer, die das Ekstatische betont. Für Letzteres stehen ja auch schon Konzepte wie Rock oder Avantgarde in ihrem Bemühen um energetischen Ausdruck oder Transgression bereit. Berücksichtigen möchte ich ebenfalls, dass mit Volkskultur und Massenkultur zwei weitere bedeutende, gut eingeführte Konzepte existieren, weshalb es meines Erachtens keine Notwendigkeit gibt, Pop einfach als Synonym für Populär- oder Massenkultur zu verwenden.

Die Unterscheidung zwischen Pop und Gegenständen der Populär- oder Massenkultur drängt sich auch aus historischen Gründen auf. Spätestens seit der Pop-Art und der englischen Mod-Bewegung Anfang der 1960er Jahre liegt es nahe – und oft genug ist seitdem ja auch so verfahren worden –, Pop nicht kategorisch in der Volks- bzw. Populärkultur mit ihren Merkmalen wie Einfachheit, Ursprünglichkeit, Ungekünsteltheit, Gemeinsinn, Verwurzelung im Regionalen, Nationalen oder im Alltagsleben der kleinen Leute aufgehen zu lassen. Den anderen oft zu lesenden Ansatz, Pop im Sinne der Massenkultur an große, schichtenübergreifende Rezipientengruppen zu binden, strikt an allgemeine Beliebtheit und Verständlichkeit, möchte ich ebenfalls streichen, weil er das Problem mit sich bringt, viele Künstler von Velvet Underground über Rolf Dieter Brinkmann bis hin zu kleinen Independent-Produktionen nicht als Pop ansprechen zu dürfen.

Als Merkmale, die erfüllt sein sollten, damit ich von Pop in Reinkultur spreche, sind mir u.a. wichtig (ich nenne hier nicht die komplette Liste; sie ist zu finden in meinem Aufsatz »Pop-Konzepte der Gegenwart« in der Zeitschrift »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 1; und als Internetveröffentlichung hier):

Konsumismus. Pop tritt dafür ein, dass nicht nur dem tätigen Leben ein hoher Rang zukommt. Sich berieseln, erregen, unterhalten lassen steht ebenso hoch im Kurs. Konsumieren, also verzehren, ist zudem ein Pop-Kennzeichen, weil es den Gegensatz dazu bildet, sich verzehren zu lassen. Bewusstseinsverlust, Aus-Sich-Selbst-Heraustreten, Rausch zählen allenfalls vorübergehend einmal zur Pop-Welt – als Samstagnachtphänomen. Die Grundhaltung von Pop ist anti-ekstatisch.

Künstlichkeit. Im Gegensatz zur Populärkultur steht auch, dass Pop mit dem Natürlichen nichts anfangen kann, außer es zu elektrifizieren, im Studio bewusst aufzusplitten, digital zu modellieren. Plastik, Aufnahme- und Abspielgeräte, Schneideraum, Mischpult, Scheinwerfer, Schminke, Silikon, Dildos, Photoshop, Synthesizer- und Sampler-Software, Spraydosen, Keyboards zählen zu den wichtigsten Instrumenten und Materialien des Pop.

Oberflächlichkeit. Pop wendet sich gegen moderne, nüchterne Prinzipien. Die Überzeugung, dass die Form dem praktischen Zweck des Gegenstands im Sinne technischer Funktionalität dienen müsse, wird nicht geteilt. Eine auffällige Oberfläche, die in keinem Zusammenhang zum Nutzen von elektronischen Geräten, von Häusern und Möbeln steht, markiert das Pop-Design. Die dekorative Verpackung von Gütern weitet das Oberflächen-Prinzip über solche Objekte entscheidend aus; die Ablösung des braunen Umschlags durch das Schallplattencover ist ein bedeutsames Beispiel dafür.

Stilverbund. Ein Pop-Gegenstand kommt niemals allein. Nicht nur gehören zum Pop-Objekt der Aufdruck und die Verpackung bindend dazu, ein spezieller Gegenstand steht auch in einer Reihe mit Dingen aus anderen Bereichen. Der Musikstil z.B. ist mit einer Frisur, einer Hose, einem Auto, einer Attitüde verbunden. Das unterscheidet Pop von den meisten anderen Kulturrichtungen. Zwar zieht sich der Opernbesucher beim Besuch einer »Aida«-Aufführung zumeist anders an als an seinem Arbeitsplatz, das ist aber den Konventionen der Arbeits- und Abendkleidung geschuldet, nicht einer spezifischen Verdi-Mode. Anders bei den Anhängern von Pop-Stilen, die ganz bewusst – mit oder ohne Vorgaben des Marketing – solche Zusammenhänge kultivieren.

Pop-Ästhetik der Oberflächlichkeit

Nimmt man diese Charakteristika zusammen, müssen die Bedenken der kantianischen Ästhetik offenkundig geltend gemacht werden. Pop ist zwar moralisch weitgehend desinteressiert, tritt aber nicht mit dem Anspruch ästhetischer Interesselosigkeit auf. Es gibt hier mehr als einen Zweck: für Belebung sorgen, angenehm erregen, den Körper in Bewegung setzen, Attraktivität erhöhen und eine nette, heitere Stimmung oder eine coole Haltung bewirken.

Andererseits treffen die Kriterien der Verfechter der Rock- und Avantgarde-Transgression nicht zu. Rausch und Intensität, Blut, Schweiß und andere Körperflüssigkeiten stehen keineswegs im Mittelpunkt der Pop-Vergnügungen. Aus der körperlichen Tiefe kommt eher wenig, und in die metaphorische Tiefe – zu den Gründen des Menschlichen, Sozialen oder ihrer Auflösung – will der Pop-Fan auch kaum.

Deshalb schlage ich vor, für die Pop-Ästhetik das Prinzip der Oberflächlichkeit stark zu machen. Oberflächlichkeit ist für die Pop-Ästhetik in dreierlei Hinsicht wichtig:

1. Oberflächlichkeit als plane bildnerische Darstellung. Diese Operation besitzt ihre Grundlage in der zuerst von Clement Greenberg vorgebrachten, schnell äußerst wirkungsmächtigen Auffassung, dass jede Kunstgattung sich auf die ihr gemäßen, ihr allein eigenen Möglichkeiten konzentrieren sollte. Im Falle der Malerei sei das wegen der Flachheit der Leinwand eine Malweise, die sich von der illusionären Erweckung dreidimensionaler Tiefe lossage (Greenberg [1960] 1997). Die Angabe ›oberflächliche Malerei‹ ist in dem Sinne ein äußerst anerkennendes Wort für eine moderne Malweise, welche die wesentliche Bedingung des Mediums Leinwand erkennt. Sie steht im Bunde mit der abstrakten Absage an die realistische Malweise.

Der Bruch der Pop-Art mit der abstrakten Malerei, ihre teilweise Hinwendung zu menschlichen Szenen und Figuren scheint darum ein Rückschritt zu einer älteren, unmodernen, pseudorealistischen Kunst zu sein. Mitte der 60er Jahre hat sich jedoch bereits in weiten Teilen der Kunstkritik die Ansicht durchgesetzt, dass auch die Pop-Art in den Kanon der Oberflächen-Moderne hineingehört. Robert Rosenblum hebt bereits 1963 hervor, dass u.a. Roy Lichtenstein aus den vielfältigen Möglichkeiten der »commercial illustration« genau jene ausgewählt habe, die ein Höchstmaß an »pictorial flatness« gewährten. Rosenblum verweist auf die extreme, giftige Farbgebung Lichtensteins (»the colors – the harshest yellow, green, blue, red – produce flat and acid surfaces«), auf die perfekt abgedichtete Farbfläche (»an opaque, unyielding paint surface that bears no traces of handicraft«) und auf weitere Techniken, die den Eindruck einer planen Oberfläche zum Ergebnis haben, selbst wenn es sich um Darstellungen einer menschlichen Figur handelt. (1997c: 191).

Eine einschneidende, tiefe Differenz von der Pop-Art zu den Bildern der Comics und Werbefotos existiert in dieser Hinsicht nicht. Auch letztere säubern oftmals ihre Darstellungen von menschlichen Unregelmäßigkeiten und glätten Haut- oder beliebige Farbpartien zu einer undurchdringlichen, reinen Oberfläche. Manchmal ist die Pop-Art in der Farbgebung giftiger, in der Zusammenstauchung der Anatomie radikaler, einen prinzipiellen Unterschied ergibt das aber nicht. In dem ersten kunsthistorisch bedeutenden Buch zur Pop-Art weist Lucy Lippard Mitte der 1960er Jahre darum auf deren »hard-edge, commercial techniques and colours« hin ([1966] 1967: 69).

2. Oberflächlichkeit als Rezeptionshaltung. Lucy Lippard schreibt nach ihren Betrachtungen zu den scharf voneinander getrennten Farbflächen und den kommerziellen Werbetechniken weiter: »Because it is easy to look at and often amusing, recognizable and therefore relaxing, Pop has been enjoyed and applauded on an extremely superficial level.« (Ebd.: 80) Man braucht wohl nicht groß zu betonen, dass die Angabe »superficial« hier wieder einen vollkommen negativen Klang besitzt.

Mit dieser Wertung bricht aber die Pop-Ästhetik. Ihr ist das Amüsante, Unterhaltsame, Erfreuliche, Angenehme – das Oberflächliche – nicht nur gut genug, sondern das, was sie als Wirkung von Ereignissen und Werken häufig an die erste Stelle setzt. Kant hätte das fraglos als unästhetische Wirkung abqualifiziert, die das interesselose Wohlgefallen und damit ein ästhetisches Urteil unmöglich mache.

Es gibt aber eine Dimension des Angenehmen, die genau in die kantianische Richtung geht. Liest man sich Pop-Texte durch, schaut sich Pop-Videos an oder betrachtet die Zeichen und Insignien von Pop-Performern, dann stößt man nicht selten auf Eindrucksvolles und elementar Wichtiges – auf ekstatische Bilder, Kriegs-Zeichen, Bekundungen von Schmerz und Leid. Der Pop-Rezipient, wenn er der beschriebenen oberflächlichen Pop-Ästhetik folgt, denkt sich jedoch nichts weiter groß dabei, bleibt weitgehend ungerührt bis auf einen angenehmen Kitzel der Ablenkung und Zerstreuung.

Oder er führt sich einen starken Reiz zu, weiß aber gewohnheitsgemäß, dass es sich dabei um ein vorübergehendes Manöver handelt, das an speziellem Ort, in speziellem Genre auf zeitlich befristete Weise erfolgt. Dadurch wird dem Reiz von vornherein das Moment der alles in Unordnung bringenden Übertretung, der nachhaltigen Verstörung genommen. Wegen der genremäßigen Wiederholung solch starker Reize ist es dem Rezipienten im Modus der Pop-Ästhetik sogar leicht möglich, das Gefühl des Angenehmen oder sogar Erregenden auszukosten und gleichzeitig zu einem interesselosen Urteil über die ästhetischen Qualitäten des Rezipierten zu gelangen. Dieses Verfahren kann sich sogar bis zu einer coolen Haltung steigern, die zwar immer wieder sinnlich attraktive Pop-Reize sucht, es sich aber abtrainiert hat, körperlich sichtbare Reaktionen auf sie zu zeigen.

Das soll nicht heißen, der Pop-Rezipient beuge sich über seine Gegenstände mit einem distanzierten, ironischen Lächeln oder gar Grinsen. Dies ist jene Attitüde, die Susan Sontag dem Camp-Dandy, dem Dandy im Zeitalter der Massenkultur, zuschreibt. Solch eine Haltung ist zu snobistisch, zu desinteressiert für die hier vorgeschlagene Pop-Ästhetik. In der lebhafteren Wertschätzung von Trash und Kult kann sie allerdings auch im Pop-Bereich vorkommen.

Es bleibt aber ein weiteres Problem der Abgrenzung. Die hier unter Punkt 2 – Oberflächlichkeit als Rezeptionshaltung – vorgestellte Haltung entspricht genau dem sehr gut eingeführten Konzept der ›Unterhaltung‹, dem Vergnügen am Entertainment. Es wäre überflüssig, hierfür einen weiteren Titel – den der ›Pop-Ästhetik‹ – auszuloben. Deshalb muss für die Pop-Ästhetik noch etwas hinzukommen. Die Kombination mit Punkt 1 – Oberflächlichkeit als plane bildnerische Darstellung – ist zu beschränkt auf besondere optische Phänomene, es muss also ein weiteres Element ins Spiel gebracht werden, mit dem die Unterhaltungs-Ästhetik weitergehend modifiziert wird. Das ist der nächste Punkt:

3. Oberflächlichkeit als Ansammlung von Zutaten. Wie bereits erwähnt, hat Kant die Zutat in Form des Zierrats (nicht aber des Schmucks) als tauglich für die ästhetische Einbildungskraft charakterisiert. Unter »Zutat« fasst er das auf, »was nicht in die ganze Vorstellung des Gegenstands als Bestandstück innerlich, sondern nur äußerlich […] gehört und das Wohlgefallen des Geschmacks vergrößert«. Als Beispiel solcher Zutat nennt er etwa, um auch das zu wiederholen, »Gewänder an Statuen« (§ 14).

Dies möchte ich nun für die Pop-Ästhetik aufnehmen. ›Zutat‹ fasse ich dafür weiter, als es Kant getan hat. Als Verfertiger der Zutaten rücke ich nun vor allem die Rezipienten von Gegenständen in den Mittelpunkt, die Pop-Künstler geschaffen haben, seien es nun Musiker, Maler, Marketingleute etc. Bei meiner Pop-Definition hatte ich ja das Merkmal ›Stilverbund‹ als bedeutsam herausgestellt. Dies möchte ich nun auch für die Pop-Ästhetik fruchtbar machen.

Um meinen Standpunkt zu verdeutlichen, gehe ich erneut von der historischen Erinnerung und der These George Mellys aus: Mellys Unterscheidung zwischen den Intellektuellen, deren Begeisterung für Elvis Presley eine »gewisse Ironie« enthalte, und Presleys jugendlich-proletarischen Fans, die nach ihm verrückt gewesen seien (»›went ape‹ for Presley«).

Grundsätzlich soll das gar nicht in Zweifel gezogen werden. Es soll aber mit Nachdruck darauf hingewiesen werden, dass, empirisch gesehen, auch bei den nicht-intellektuellen Fans der Enthusiasmus sich oftmals keineswegs in einem kurzen oder häufig wiederkehrenden Begeisterungsrausch für ein Stück, einen Artisten, ein Image erschöpft. Am besten sieht man das an den Teenage-Fans, die im Fernsehen gerne gezeigt werden, wenn sie vor der Bühne ihr Idol anhimmeln, anschreien und kurz darauf vielleicht sogar vor lauter ekstatischer Hingabe ohnmächtig umfallen. Von interesselosem Wohlgefallen, von (ironischer) Distanz, von einer Trennung zwischen zweckmäßigem Leben und dysfunktionaler Kunst kann da wahrlich keine Rede sein.

Was aber seltener gezeigt wird, ist die langwährende Aktivität auch und gerade dieser Enthusiasmierten – die Abstimmung von Kleidung und Frisur, die ausgeschmückten Poster, der Blog-Eintrag, die Party mit den Gleichgesinnten, die gemeinsame Anfahrt zum Konzert, die Konfigurierungsarbeit am I-Pod, welcher Song zu welchem anderen passt, einstudierte Gesten und Bewegungen, usf. Was hier äußerliche Zutat ist, was innerer Bestand, mag mitunter nur noch schwer oder gar nicht mehr zu unterscheiden sein.

Durch all diese Handlungen wird (vorübergehende) Ekstase keineswegs ausgeschlossen. Quantitativ (allein vom Zeitaufwand her), aber auch qualitativ gesehen, steht aber anderes im Vordergrund. Es geht nicht um eine Zutat im Singular, sondern um die oberflächliche Ansammlung diverser Zutaten, um ihre Anordnung und Abfolge. Es geht nicht um eine ›tiefe‹ Begründung von Zusammenhängen, von prinzipiellen Ursachen für verschiedene Wirkungen und Ausformungen, sondern es geht um die Anschauung und intuitive Gewissheit, dass etwas zu etwas anderem passt, ein Lidstrich zu einer Bewegung, ein Gürtel zu einem Song.

Über solchen Überlegungen und Aktivitäten wird zwar Kants interesseloses Wohlgefallen nicht erreicht, dafür sind sie noch zu sehr am Gebrauch und am sinnlich Angenehmen ausgerichtet. Sie führen einen aber vollständig von einer dauerhaften Überwältigung durch bindende Reize weg. Deshalb ist die hier vorgestellte Pop-Ästhetik – in ihrer Verknüpfung dreier Dimensionen des Oberflächlichen – gar nicht so weit vom ästhetischen Geschmacksurteil Kants entfernt, wie es ursprünglich scheinen mochte.

 

 

Literatur

Breton, André (1968): Erstes Manifest des Surrealismus [1924]. In: Ders.: Die Manifeste des Surrealismus, Reinbek bei Hamburg, S. 11-43.

Büro für surrealistische Forschungen (1998): Erklärung vom 27. Januar 1925. In: Heribert Becker (Hg.): Es brennt. Pamphlete der Surrealisten, Hamburg, S. 27-28.

Cohn, Nik (1996): Awopbopaloobop Alopbamboom. The Golden Age of Rock [1969], mit einem neuen Vorwort, New York.

Greenberg, Clement (1939): Avant-Garde and Kitsch. In: Partisan Review, Vol. VI, No. 5, S. 34-49.

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