Das Ankommen des ›Gastarbeiters‹ auch im Popsong. Oder: Wer singt hier eigentlich über wen?
von Thomas Kunz
23.10.2013

… träumen von Napoli…

[leicht überarbeitete Fassung des Beitrags aus: Ellen Bareis/Christian Kolbe/Marion Ott/Kerstin Rathgeb/Christian Schütte-Bäumner (Hg.): Episoden sozialer Ausschließung. Definitionskämpfe und widerständige Praxen. Westfälisches Dampfboot, Münster 2013, S. 276-299.]

Einleitung

Nachfolgend wird der Versuch unternommen, die „Einarbeitung“ des Wanderungsgeschehens der vergangenen 50 Jahre in die Popularkultur der Bundesrepublik am Beispiel des Aufgreifens der Thematik im Bereich der Unterhaltungsmusik für die Analyse des gesellschaftlichen Umgangs mit Migration heranzuziehen.

Dies mag auf den ersten Blick ungewöhnlich anmuten, ist jedoch naheliegend, wenn man die Formierung und Sicherung hegemonialer gesellschaftlicher Vorstellungen über Zugehörigkeit und Eigenschaften national (oder auch kulturell) fixierter Eigen- wie Fremdgruppenkonstruktionen nicht nur als nicht losgelöst, sondern als unmittelbar gebunden gerade auch an kulturelle Praxen (hier: der populären Musik) begreift.

Wobei der Begriff „populäre Musik“ ein sehr vielfältiges Spektrum an Spielweisen, Stilformen und Musikrichtungen bündelt. Es ist mitunter schwer bis unmöglich, dieses Terrain mittels weiterer Genrekategorien klar zu strukturieren. (Vgl. Wicke 2010: 1) Dennoch lassen sich idealtypisch Umrisse skizzieren: „Grob lassen sich dabei Schlager, volkstümliche Musik, die Liedermacherszene, Rockmusik, elektronische Tanzmusik, HipHop und der Mainstream der Popmusik als Orientierungspunkte ausmachen.“ (Ebd.)

Der populären Musik zuzurechnende Lieder, welche die Themen Zuwanderung und Integration explizit wie implizit aufgreifen, lassen sich, in Anlehnung an die Cultural Studies, auch als „Artikulationen“ (Hepp 2010: 51) begreifen. Artikulationen im Sinne von Ausprägungen eines gesamtgesellschaftlichen Narrativs über Zuwanderung und Integration, die einen ebenso wichtigen Anteil an der Etablierung jener hegemonialen Vorstellungen haben und nicht minder wichtiger Bestandteil eines sog. Integrationsregimes (Castro Varela 2008) sind wie die ansonsten im Fokus stehenden Printmedien. Die Beobachtung und Analyse von Popularkultur ist folglich ebenso notwendig (und ergiebig) wie die vorherrschende Beobachtung und Analyse vermeintlich originär gesellschaftspolitischer Diskursfragmente.

Zugleich sind besagte Artikulationen auch als Fremdheitsbilder zu deuten. Fremdheitsbilder sind ebenso wenig ein neues Phänomen wie deren Analyse (vgl. Kunz 2012a). Als Fremdheitsbilder lassen sich sämtliche Diskursfragmente (also auch der populären Musik) begreifen, die explizit oder implizit gesellschaftliche Vorstellungen, Symbolisierungen und Inszenierungen bezüglich Fremdsein bzw. dem Fremden und über dessen Personifizierung (im Sinne von „den Fremden“) enthalten – und die als Entgegensetzung zu Vorstellungen und Inszenierungen vom Eigenen und dessen Personifizierungen (beispielsweise als „den Einheimischen“) fungieren, d.h. sich funktional zur Konstruktion von Eigengruppenvorstellungen verhalten.

Die Dichotomie manifestiert sich im national-kulturalistisch aufgeladenen Diskurs der sog. Einwanderungsgesellschaft wesentlich in Gestalt der Verwendung der Personalpronomina „wir“ bzw. „uns“ für die Eigengruppe und den Personalpronomina „ihr“ bzw. „sie“ für die Fremdgruppe.

Wie bereits angesprochen, sind Inhalte und Funktion gesellschaftlicher Fremdheitsbilder seit längerem Gegenstand von Analysen und die Notwendigkeit ihrer kritischen Reflexion ist unbestreitbar. Im Fokus von Analysen stehen zumeist Massenmedien (vgl. hierzu bspw. Butterwegge/Hentges 2006 oder auch die zahlreichen Arbeiten des Duisburger Instituts für Sprach- und Sozialforschung (DISS)) und hier überwiegend Printmedien. Dies mag naheliegend sein, denn schließlich prägen, beeinflussen und vermitteln diese Medien Zuwanderungs- und Integrationsdiskurse im historischen Verlauf entscheidend, sind selbst deren Bestandteil.

Bei der Etablierung gesellschaftlich hegemonialer Vorstellungen von Zugehörigkeit zum nationalen Eigenkollektiv (und vice versa von Nichtzugehörigkeit) darf jedoch nicht außer acht gelassen werden, dass gerade auch Alltags- bzw. popularkulturelle Artefakte Bestandteil eben jener Diskurse sind – und folglich auch daraufhin zu beobachten sind, wie sich das Thema möglicherweise in ihnen abbildet bzw. wiederfindet.

Fokus Migration und daran anschließende Leitfragen

Der engere Fokus in Bezug auf das Thema Migration liegt auf Einwanderung in die Bundesrepublik, beginnend mit der Anwerbephase sog. Gastarbeiter in den 1950er Jahren.[1] Nachfolgend wird der Versuch unternommen, anhand von Liedbeispielen exemplarisch auszuführen, inwieweit sich parallel zu jenen Wanderungsereignissen die Zurichtung und Wahrnehmung jener Zuwanderer als (Problem-) Gruppe auch im Medium populärer Musik (hier zunächst im Schlager, später in der Rockmusik und im HipHop) niederschlug, d.h. wie sich deren Konstruktion und der sich dem anschließende gesellschaftliche Umgang mit diesen auch dort vollzog.

Der vorliegende Text widmet sich unter anderem auch der forschungspraktischen Frage, ob und inwieweit es möglich ist, mittels exemplarischer Fragmente eines populärkulturellen Diskursstranges, d.h. anhand ausgewählter Musikstücke der genannten Genres aus der Bundesrepublik Deutschland aus der Zeit zwischen Ende der 1950er bis in die 2000er Jahre, Phasen der Zuwanderung und der Konsolidierung der Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten seit der sog. Gastarbeiteranwerbung bis hin zu der Zeit, seit der sich Deutschland explizit als sog. Einwanderungsland tituliert, zu rekonstruieren.

Es geht überwiegend um Beispiele aus dem kommerziellen, popularkulturellen Mainstream, die auf eine deutschsprachige HörerInnengruppe abzielten bzw. -zielen. Unberücksichtigt bleiben folglich nicht-deutschsprachige Lieder und Musikstücke, die im Rahmen eher subkultureller Verarbeitungen des Themas beispielsweise von angeworbenen ArbeitnehmerInnen selbst komponiert und dargeboten wurden, die deren Lebenssituation zum Gegenstand hatten und der Selbstvergewisserung der Betroffenen dienten. Ebenso wenig geht es um rechtsextreme und explizit rassistische Musikpropaganda, die zunehmend zu Mobilisierungs- und Agitationszwecken eingesetzt wird und das Thema – in der ihr spezifischen Weise – ebenfalls aufgreift.

Das auf diese Weise gerahmte Sample kann im Verlauf dieses Textes nur kursorisch daraufhin untersucht werden, wie und mittels welcher Bilder Lebenssituation, Befindlichkeiten und Aussehen der Zuwandernden im Lied vermittelt wurden/werden. Ebenso wird darauf geachtet, wie sich demgegenüber die Position der sog. Mehrheitsgesellschaft formiert(e). Die Songs bzw. die Songtexte sind jeweils zu verstehen als zeitgenössische Manifestationen, als Teil gesellschaftlicher Mythen über Wanderungsmotive, über das Aussehen von Zuwandernden und deren vermutete psychische Dispositionen sowie teils auch über die Situation in deren Herkunftsländern.

In die Analyse wird auch der Sachverhalt einbezogen, dass gerade in den letzten Jahren die bis dato gültige Beantwortung der Frage nach der Grundlage nationaler Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit in Folge der demographischen Entwicklung offensichtlich zunehmend irritiert und gesellschaftlich „umkämpfter“ wird.

Stichworte sind hier: die Einführung der Kategorie Migrationshintergrund in Folge dessen, dass immer mehr Menschen in Deutschland geboren werden und aufwachsen, die qua eines familiengeschichtlich gegebenen Ereignisses in einen Kontext mit Migration gesetzt werden, die sich über die bisherige Kategorie „Ausländer“ jedoch bevölkerungsstatistisch nicht mehr als Nichtzugehörige klassifizieren lassen (da sie zu einem Großteil deutsche Staatsangehörige sind).

In der Lebenswirklichkeit dieser Personen gewinnt die Frage nach Identität und Anerkennung eine neue Bedeutung (vgl. Kunz 2012b), weshalb über die bereits aufgeworfenen Aspekte hinaus auch der Frage besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird, ob und inwieweit sich im Rahmen des umrissenen explorativen Samples ebenso Hinweise auf „neue“ Identitätspositionen finden lassen, die diesen Umstand aufgreifen.

In Anlehnung an Cremer-Schäfer (2005: 151) wäre dies auch zu fassen als Identifikation sozialer Ausschließungen – im Sinne von Grenzziehungen als faktische und symbolische Ausweisung im und mittels des populärkulturellen Diskursstranges – sowie der Frage nach deren Bewältigung in Gestalt subjektiver „Ingebrauchnahme“ (Cremer-Schäfer) im Medium Musik.

Für die Analyse des Samples lassen sich anschließend an die bisherigen Überlegungen folgende weitere Leitfragen formulieren: Welche Muster, welche semantischen Merkmale und welche Symbol- und Zeichenhandhabungen sind in den popkulturellen Liedbeispielen in Deutschland identifizierbar? Welcher Illustrationen bedienen sich die Stücke, um Migrantinnen und Migranten sowie das Thema Zuwanderung nach Deutschland im Popsong aufscheinen zu lassen? Sind Hinweise auf Phasen oder Idealtypen zu entdecken? Was für Sprecherinnen- und Sprecherpositionen sind beobachtbar? Entlang der Beantwortung dieser Leitfragen ist auch intendiert, Muster kultureller und sozialer Differenzierungen entlang ausgewählter Songs zu identifizieren und zu prüfen, ob und inwieweit die Zuwanderungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland in diesem Medium chronologisch nachzuzeichnen ist.

Sample und Vorgehen

Für das explorative Vorhaben mit dem Titel „Das Ankommen des ‚Gastarbeiters‘ auch im Popsong“ wird ein Sample ausgewählter Musikproduktionen herangezogen, welches keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Ausgangspunkt bilden zwei relativ prominente Stücke, die Variationen der eingangs angesprochenen Thematisierungen enthalten. Im Jahr 2009 umriss der Journalist Klaus J. Schwehn in einem kurzen Text unter der Überschrift „Der Gastarbeiter im deutschen Schlager“, wie „Conny Froboess und später Udo Jürgens […] das Schicksal der vielen Gastarbeiter, die ins Wirtschaftswunderland kamen [besangen]“ (Schwehn 2009: o.S.).

Womit er implizit eine erste Antwort auf die Frage „Wer singt hier eigentlich über wen?“ lieferte, allerdings ohne den Aspekt in seinen Ausführungen weiter zu verfolgen. Gemeint sind die Lieder „Zwei kleine Italiener“ (Interpretin: Conny Froboess) und „Griechischer Wein“ (Interpret: Udo Jürgens). Als wesentliche Empfindungen, mit denen jene (folgt man den Veröffentlichungsjahren der Lieder) ca. 12 Jahre auseinander liegenden Gastarbeiterschicksale von den genannten InterpretInnen charakterisiert würden, identifizierte Schwehn vor allem „Einsamkeit“, „Traurigkeit“ und „Verlorenheit“ (vgl. ebd.). In den genannten Empfindungszuschreibungen ist bereits zweierlei angelegt: einerseits eine Wahrnehmung der Situation der Gastarbeiter als Mangel- bzw. Defizitposition und andererseits eine bemitleidend-paternalistische Grundhaltung derjenigen, die die Situation – folgt man Schwehn – „trällernd“ (Froboess) oder auch emotional getragener (Jürgens) zum Ausdruck bringen.

Die Einschätzung, die Lieder brächten vor allem „Einsamkeit“, „Traurigkeit“ und „Verlorenheit“ der Gastarbeiter zum Ausdruck, ist indes nur zum Teil richtig, denn sie gerät zu eindimensional und blendet bemerkenswerte Unterschiede und Facetten der in den Liedern vertretenen Positionen aus. Vielmehr lassen sich Differenzen zwischen den beiden Stücken feststellen, hinsichtlich der Thematisierung der Lebenssituation der sog. Gastarbeiter in der Bundesrepublik sowie hinsichtlich der Haltung der sog. Mehrheitsgesellschaft (verkörpert durch die InterpretInnen) ihnen gegenüber.

1961/62 – Zwei kleine Italiener

Circa sechs Jahre nach dem Anwerbeabkommen mit Italien im Jahr 1955 kommen italienische Gastarbeiter in Gestalt zweier „kleiner Italiener“ auch im Lied an. Der Titel „Zwei kleine Italiener“ liefert mit dem Adjektiv „klein“ einen Hinweis, der zum einen als bloßes Körpermerkmal zu lesen ist (geringe Größe), der jedoch auch eine Verniedlichungsform darstellt. Der Akt des Kleinmachens und Verniedlichens (akustisch auch durch die, laut Schwehn, trällernd-flotte Darbietung des Liedes transportiert) trägt bereits die korrespondierende Figur des Paternalismus in sich, in dem die besungenen „kleinen Italiener“, die pars-pro-toto für alle italienischen Gastarbeiter stehen, als kindlich-naiv Verliebte inszeniert werden, die getrennt von ihren Partnerinnen „alleine“ in Deutschland leben, wo sie doch statt dessen lieber „zu Hause“ bei ihren Liebsten wären.

Im genannten Beispiel etabliert sich eine latent vormundschaftliche Beziehung („man“ kennt sie und ihr Schicksal) und die Inszenierung nimmt den Paternalismus der späteren sog. Ausländersozialarbeit (vgl. Scherr 2002) gewissermaßen vorweg. Interessant ist zudem die Liedzeile „Eine Reise in den Süden ist für andere schick und fein“. Hier wird Bezug auf die Bedeutung Italiens als Urlaubsland der Deutschen (im Gegensatz zum „zu hause“, d.h. Heimatland der sog. Gastarbeiter) genommen. Die Anderen sind in diesem Falle die Nicht-Gastarbeiter, d.h. die deutsche Mehrheitsgesellschaft, die im Laufe der 1950er und 1960er Jahre im Zuge des sogenannten Wirtschaftswunders Italien zunehmend als Reiseland und Sehnsuchtsort entdeckte.

Die Bedeutung Italiens als Sehnsuchtsort und Kulturhort reicht historisch durchaus weiter zurück. Für Adel und Bürgertum war es bereits seit dem 18. Jahrhundert selbstverständlich auf Kulturreise zu gehen und auf Goethes Spuren zu wandeln. Doch in den 1950er Jahren erfasste und durchwirkte der fordistische Kapitalismus als herrschende Form industrieller Warenproduktion auch in Deutschland Reisebranche und -gewohnheiten. Hier deutete sich eine neue Wirtschaftsbranche an, d.h. der kommende Massentourismus als der Urlaub der Vielen.

Auch hierfür ist ein Lied beispielhaft, das, von einer gewissermaßen „singenden Gastarbeiterin“ dargeboten, bereits einige Jahre früher in Deutschland erklang. 1956 frohlockte Caterina Valente „Komm ein bißchen mit nach Italien“ und besang Italien als lockende Ferne am „blauen Meer“, in der am Tage die Sonne scheine und am Abend der Mond, „aber dann, aber dann, zeigt ein richt‘ger Italiener was er kann“.

Auch hier ist eines der zentralen Motive eine pars-pro-toto-Figur (der Italiener als heteronormativer Liebhaber) – allerdings in diesem Kontext als Projektionsfläche romantischer Sehnsüchte deutscher Italienreisender. Erwähnenswert erscheint dieses Liedbeispiel als Hinweis auf eine Zeit, während der Italien als die lockende Ferne im Sinne eines Urlaubslandes inszeniert wurde, um dann im Zuge der Gastarbeiteranwerbung statt dessen zum Sehnsuchtsort der nun in Deutschland arbeitenden Italiener besungen zu werden.

Ein weiteres Motiv, welches anzusprechen ist, ist der Topos des Bahnhofes, der in dem von Conny Froboess gesungenen Schlager auftaucht: „Zwei kleine Italiener, am Bahnhof da kennt man sie. Sie kommen jeden Abend zum D-Zug nach Napoli. Zwei kleine Italiener die schauen hinterdrein“. Der Bahnhof besitzt im Migrationsdiskurs eine exponierte Rolle und hat „die Funktion einer Metapher für die Heimatlosigkeit der Migranten“ (Höhne u.a. 2005: 155).

Die Liedzeilen mit dem Bahnhofsbezug, die zugleich den Ort „Napoli“ als Herkunftsort von Italienern prototypisch verdichten, spitzen die Infantilisierung und Verniedlichung zu, in dem sie das Unvermögen der besungenen Italiener betonen, dem ihnen unterstellten Rückkehrwunsch („möchten gern zu Hause sein“) aus uns unbekannten Gründen Folge leisten  zu können. Ihnen bleibe nur, dem Zug hinterdrein zu schaun. Dieser Eindruck wird noch durch den Hinweis gesteigert, dass sie dies jeden Abend täten. Die heiter-beschwingte Komposition und die Vortragsweise des Liedes stehen im Widerspruch zu den existenziellen Gefühlen Heimweh und Trennung, die eigentlich besungen werden.

Textauszug Conny Froboess: Zwei kleine Italiener (1961/62):
„…Zwei kleine Italiener, die träumen von Napoli
Von Tina und Marina, die warten schon lang auf sie
Zwei kleine Italiener, die sind so allein
Eine Reise in den Süden ist für andere schick und fein
Doch die beiden Italiener möchten gern zu Hause sein…
…Zwei kleine Italiener, am Bahnhof da kennt man sie
Sie kommen jeden Abend zum D-Zug nach Napoli
Zwei kleine Italiener die schauen hinterdrein
Eine Reise in den Süden ist für andere schick und fein
Doch die beiden Italiener möchten gern zu Hause sein…“

1974 – Griechischer Wein

Der von Udo Jürgens gesungene Schlager „Griechischer Wein“ aus dem Jahr 1974 ist zwar ein weiteres Beispiel, wie die emotionale Situation von Gastarbeitern – der Chronologie des Wanderungsgeschehens folgend nun der griechischen – in der Bundesrepublik zum Liedgegenstand wird. Auch hier stehen die Gefühle Traurigkeit, Heimweh und Zerrissenheit im Mittelpunkt. Ebenso finden sich stereotypisierende Hinweise auf Körpermerkmale („Männer mit braunen Augen und mit schwarzem Haar“). Im Gegensatz zu dem Lied von Froboess korrespondiert der Vortragsstil des Liedes in seiner melancholisch-getragenen Art mit der unterstellten Schwermütigkeit und dem Heimweh.

Zum zweiten markiert das Lied ein Aufgreifen der sich in der damaligen Zeit verstetigenden Situation sowohl von Nichtrückkehr (in die Herkunftsländer) als auch von der Enttäuschung über nichtrealisierte Zukunfts- und Lebenspläne sowie unerfüllte Verheißungen, die bei vielen der Angeworbenen im Zuge der Anwerbeabkommen bewußt geweckt worden waren: „Sie sagten sich immer wieder, irgendwann geht es zurück“ und hatten Vorstellungen von bescheidenem Wohlstand, der durch die Arbeit in Deutschland in der Heimat möglich sein würde („das Ersparte genügt zu Hause für ein kleines Glück“).

Beides trat nicht ein und es wird nahegelegt, dass die Gastarbeiter nun offensichtlich traurig in Vorstadtkneipen zusammensitzen, um ihre Enttäuschung beim (griechischen) Wein und Träumen von daheim zu kompensieren. Die Allegorie „griechischer Wein ist so wie das Blut der Erde“ legt nahe, dass die durch die Nichtrückkehr entstandene Situation der Heimatlosigkeit und Entwurzelung durch die Einverleibung des durch den Wein symbolisierten Landes (griechischer Wein = das Blut der griechischen Erde) kultisch kompensiert würde.

Dass dabei ein zufällig vorbeikommender Repräsentant der Mehrheitsgesellschaft von den griechischen Gastarbeitern gastfreundlich behandelt und eingeladen wird, obwohl er ein Unbekannter ist, lädt das Lied zusätzlich moralisch auf: Obwohl es ihnen nicht gut gehe, sie traurig und enttäuscht seien, sie Fremde geblieben seien in Deutschland, laden sie den ihnen fremden Deutschen ein, sobald er das Wirtshaus betritt. Hinzu kommt der Umstand, dass sich der fiktive Grieche im Lied beim eingeladenen Deutschen auch noch für seine Traurigkeit und das Träumen von der Heimat Griechenland entschuldigt („du mußt verzeihen“).

Auch bei diesem Lied singt ein Repräsentant der Mehrheitsgesellschaft über die Gastarbeiter und deren Situation. Allerdings wechselt der Interpret die Sprecherposition, in dem er im Refrain aus der Perspektive des Gastarbeiters singt. Das heißt: zwar wird in diesem Liedbeispiel – im Gegensatz zu „Zwei kleine Italiener“ – die Perspektive erweitert, jedoch nur fiktiv, da der der mehrheitsgesellschaftlichen Position zuzurechnende Interpret beide Erzählperspektiven einnimmt.

Es ist gewissermaßen eine mehrheitsgesellschaftliche Projektion über das So-Sein griechischer Gastarbeiter (welche qua Nationalitätszugehörigkeit zugleich auf das Land Griechenland übertragen wird[2]), die das Lied vermittelt. Die schon angesprochene besondere Gastfreundschaft ist darüber hinaus als folkloristisch-stereotype Figur zu deuten, mittels der häufig Ländern und Menschen aus Südeuropa pauschal eine besondere Gastfreundschaft zugeschrieben wird.[3]

Die im Text erzeugte melancholisch-traurige Stimmung wird durch folklorisierende, getragene musikalische Stilelemente aufgegriffen und verstärkt, die quasi als akustisches Zitat der im Lied besungenen, aus der „Jukebox“ des Wirtshauses erklingenden Musik fungieren, „die fremd und südlich war“. Die Schilderung im Lied fokussiert zwar auf die Trostlosigkeit und Schwierigkeit der Lebenssituation damaliger Gastarbeiter, rückt aber die emotionale Komponente ihrer Situation in den Mittelpunkt und stellt somit im Kern auf Mitleidseffekte ab. Saßen Anfang der 1960er Jahre noch niedlich wirkende „kleine Italiener“ naiv jeden Abend am Bahnhof und schauten dem D-Zug nach Napoli hinterher, sitzen Mitte der 1970er Jahre dunkeläugige, dunkelhaarige Männer in Vorstadtwirtshäusern beieinander und schauen bei blutrotem Wein und südländischer Musik traurig ihren unerfüllten Lebensperspektiven hinterdrein…

Fünf Jahre später, d.h. 1979, stellte dann der Schlagersänger Freddy Quinn fest, dass Istanbul weit sei. Nach Italienern und Griechen rückten bei Quinn Menschen aus der Türkei in den Mittelpunkt des singenden Interesses. Auch hier orientiert sich die Thematisierung also an der historischen Abfolge der Anwerbeabkommen.

Die Analogien zum „Griechischen Wein“ sind auffällig, sowohl mit Blick auf die Traurigkeit und Niedergeschlagenheit der Gastarbeiter, die erneut zum Gegenstand gemacht werden, als auch hinsichtlich der empathisch-paternalistischen Position der Mehrheitsgesellschaft. Das Mitfühlen Quinns mündet hierbei in einen unmittelbaren Hilfsreflex („Da lud ich ihn einfach ein, komm mit zu uns auf ein Glas Wein“), um dann ein für die damalige Zeit fast schon sozialarbeiterisches Angebot zu unterbreiten: „sprich Dich aus, lass Dir helfen, wenn es geht“. Woraufhin der Eingeladene erwidert: „Ich dank Dir, Du bist sehr gut zu mir, aber vielleicht ist es schon zu spät“.

Mittels dieser Passage lässt sich auch die Frage nach den Gründen des Fremdbleibens – und zu Lasten der Gastarbeiter stellen beantworten. Hier besingt sich gewissermaßen die „gute“ Mehrheitsgesellschaft selbst. Die, scheinbar anteilnehmend an der traurigen Situation der Fremden im Land, diesen die Hand reicht, Gesprächsbereitschaft signalisiert und gar Hilfe anbietet. Ausgeblendet bleibt, dass die missliche und benachteiligte Lage von als Gastarbeitern Angeworbenen in der Bundesrepublik seit deren Ankommen, d.h. von Beginn an, maßgeblich geprägt war von Arbeitsbedingungen und Alltagssituationen, in denen sie sich mit Ressentiments, Diskriminierungen und rassistischen Haltungen seitens der Mehrheitsgesellschaft konfrontiert sahen, und die es vielen dieser Menschen gar nicht ermöglichten, sich anders als als fremd und nichtzugehörig zu fühlen.

Textauszug Udo Jürgens: Griechischer Wein (1974):
„…Es war schon dunkel, als ich durch Vorstadtstrassen heimwärts ging.
Da war ein Wirtshaus, aus dem das Licht noch auf den Gehsteig schien.
Ich hatte Zeit und mir war kalt, drum trat ich ein.
Da saßen Männer mit braunen Augen und mit schwarzem Haar.
Und aus der Jukebox erklang Musik, die fremd und südlich war.
Als man mich sah, stand einer auf und lud mich ein…
…Griechischer Wein ist so wie das Blut der Erde.
Komm schenk dir ein, und wenn ich dann traurig werde,
liegt es daran, daß ich immer träume von daheim,
du mußt verzeihen…
…Sie sagten sich immer wieder, irgendwann geht es zurück.
Und das Ersparte genügt zu Hause für ein kleines Glück.
Und bald denkt keiner mehr daran, wie es hier war…“

 1979 – Neppes, Ihrenfeld un Kreuzberg

Im Jahr 1979 erschien das erste Album der Kölner Band BAP. Auf dem Album „Wolfgang Niedecken’s BAP spielt andere kölsche Leeder“ ist auch das Lied „Neppes, Ihrenfeld un Kreuzberg“ enthalten. Das Lied markiert, im Vergleich zu den bisher vorgestellten Beispielen, eine Zäsur in der popkulturellen Bearbeitung des Themas. Statt Schlagersängern nahm sich nun ein Band-Formation des Themas an, die als deutschsprachige Rockband bezeichnet werden kann.

Auch hier geht es inhaltlich um das Schicksal der Gastarbeiter. Auch hier werden mittels des Hinweises auf die Stadt Istanbul und das Stichwort „Türkenviertel“ implizit türkische Gastarbeiter pars-pro-toto für alle Gastarbeiter vorgestellt. Das Lied greift sowohl textlich („Von Istanbul bis Köln Hauptbahnhof“), als auch akustisch (zu Beginn des Liedes sind Bahnhofsgeräusche zu hören) auf den an anderer Stelle angesprochenen Bahnhofstopos zurück. Darüber hinaus lässt sich ebenfalls die Nichterfüllung von Träumen und Erwartungen und die statt dessen schwierige Lebens- und Arbeitssituation der Gastarbeiter als Gegenstand identifizieren.

Allerdings sperren sich bereits Duktus, Instrumentierung und Vortragsstil gegen die getragen-melancholischen Anmutungen der Lieder von Jürgens und Quinn. Nicht mehr eine allgemein-emotionale individuelle Lage steht im Mittelpunkt, vielmehr werden die Enttäuschungen konkreter und kollektiver. Es ist nicht die introspektive Betrachtung eines traurigen Einzelnen, sondern die kollektive soziale Lage aller, die thematisiert wird. Der Text liefert Hinweise auf gesellschaftliche Wohn- und Arbeitssituation jenseits individueller Emotionen und Gefühlslagen. Und insofern markiert das Lied eine Zäsur: die Soziale Frage hält – wenn auch im beschränkten Rahmen – Einzug in die popkulturelle Bearbeitung des Themas.

Zugleich bleibt festzuhalten: weiterhin singen als Angehörige der Mehrheitsgesellschaft zu Identifizierende über „die“ Gastarbeiter und in der auch hier zu erkennenden Grundhaltung der Anteilnahme ist weiterhin eine paternalistische Figur zu entdecken.[4] Ohne an dieser Stelle näher darauf einzugehen, sei zumindest kurz auch ein Song der Gruppe Bots aus dem Jahr 1980 erwähnt, der als weiterer Beleg für die These einer Zäsur bzw. eines markanten Wechsels der Thematisierungsweise anzusehen ist. Unter dem Titel „Ali Kümmeltürke“ wurden auf dem Album „Aufstehn“ die Alltags- und Arbeitssituation sowie die Erfahrung rassistischer Diskriminierungen ebenfalls und auf sehr drastische Weise thematisiert und sich hierzu des stereotypen Namensmerkmales „Ali“ bedient.

Textauszug BAP: Neppes, Ihrenfeld un Kreuzberg (1979)
[der Textauszug des ursprünglich auf Kölsch gesungenen Liedes wird hier zum besseren Verständnis in Hochdeutsch wiedergegeben]
„…Ihr kommt aus Ankara und habt gedacht, hier wäre es wunderbar. Habt geträumt von unserem Wohlstand, vom Glück und von einem vollen Kühlschrank. Von Istanbul bis Köln Hauptbahnhof, mit dem Zug, wobei euch ziemlich klar wurde, wie weit es ist von hier bis dahin, wo Frau und Kinder jetzt noch daheim sind.
So standet ihr da mit dem Pappkartönchen, hattet gedacht, eure Zeit, jetzt käme sie. Ausgerutscht auf Chromattrappen, hattet ihr gedacht: ‚Jetzt muß es klappen!‘
Nippes, Ehrenfeld und Kreuzberg, Castrop-Rauxel, Ford und Bergwerk.
Türkenviertel, fast wie Harlem. Müllabfuhr, und warten, warten…“

1981 – Ali

Das nächste Stück indiziert einen weiteren bemerkenswerten Wechsel: Erstmals im Sample taucht als besungene Figur nicht eine als Gastarbeiter vorgestellte Person auf, sondern „ein Türkenjunge aus Hamburg“. Udo Lindenberg besingt auf dem 1981 erschienen Album „Udopia“ in seinem Lied „Ali“ die Lebenssituation eines Jugendlichen der sog. zweiten Generation, d.h. der in Deutschland geborenen Nachkommen der ehemaligen Gastarbeiter – ebenfalls wie bei der Gruppe Bots (s.o.) unter Rückgriff auf das Namensstereotyp Ali, das im Zuwanderungsdiskurs häufig zur Kenntlichmachung türkischer Nationalitätszugehörigkeit herangezogen wird.

Lindenberg thematisiert mittels seiner Schilderung der fiktiven Figur „Ali“ eine innere Zerrissenheit der in Deutschland geborenen Kinder der Gastarbeiter, die sich aus der ungeklärten Frage nationaler Zugehörigkeitsempfindung ergäbe: der „Türkenjunge aus Hamburg, hier geboren, doch wo gehört er eigentlich hin?“ Das national unspezifische „hier geboren“ rekurriert hierbei auf Deutschland und fungiert als Entgegensetzung zu der im Lied verwendeten Bezeichnung „Türkenjunge“ sowie der Nennung von Ortsnamen türkischer Städte („Istanbul“, „Ankara“), womit ausdrücklich die andere nationale Referenz benannt wird.

Die Figur „Ali“ steht stellvertretend für die sog. zweite Generation. Es geht um die angenommene Schwierigkeit der mittels „Ali“ stellvertretend thematisierten Jugendlichen, eine eindeutige nationale Identität zu entwickeln. Die Entgegensetzung von Türkei und Deutschland unterstellt dabei für „Ali“ die Unvereinbarkeit einer positiven individuellen Bezugnahme auf beide Länder als für ihn herkunftsgeschichtlich gleichermaßen relevante Orte.

Der Sachverhalt wird übersetzt in die Metapher des Sitzens zwischen zwei Stühlen („So hängt er mit den Gefühlen zwischen den Stühlen“). Es ist einmal mehr ein Beispiel, wie im populärmusikalischen Diskursstrang affirmativ auf eine im Zuwanderungsdiskurs sehr prominente Metapher Bezug genommen wird, mittels der eine Problem- bzw. Defizitannahme mit Blick auf Migrantenjugendliche verbunden ist (vgl. Höhne u.a.: 526ff.).

Trotz der von Lindenberg umrissenen schwierigen Identitätsposition des „Türkenjungen“ (und somit all der Jugendlichen, die durch diese pars-pro-toto-Figur verkörpert werden), sei sein Zuhause aber Deutschland: „und trotzdem, Ali, ist das hier dein Zuhause“. Einerseits lässt sich diese Feststellung als indirekte Solidarisierung mit „Ali“ deuten, dem von Lindenberg – allen Schwierigkeiten und Identitätsproblemen zum Trotz – Deutschland als Zuhause zugestanden wird.

Unterstellt man indes die nicht unrealistische Annahme, dass Adressaten des Liedes nicht in erster Linie in Deutschland geborene Nachkommen türkischer Gastarbeiter waren, lässt sich die Botschaft aber auch als sozialpädagogische Intervention, adressiert an eine mehrheitsgesellschaftliche Hörerschaft, lesen: bitte begreift, sie (die in Deutschland geborenen Migrantenjugendlichen) gehören auch dazu.

Da die Kontinuität des Besingens der Migranten durch Repräsentanten der Mehrheitsgesellschaft auch in diesem Liedbeispiel fortgeführt wird, setzt sich auch in ihm der paternalistische Gestus fort, der bereits in anderen Liedbeispielen identifizierbar war. Er korrespondiert mit einem binären Schema, welches einerseits die Rollenzuweisung Migranten = Defizit-/Problemgruppe vornimmt und andererseits Deutsche in eine Helferposition rückt. Dies um so mehr, wenn man sich die Fürsprecherposition vergegenwärtigt, die Lindenberg einnimmt.

Abschließend ist hervorzuheben, dass auch in diesem Lied auf den Bahnhofstopos zurückgegriffen wird. Frappanter als die bemerkenswerte Bezugnahme auf den Ort Bahnhof, der die Zerrissenheit des Jugendlichen räumlich verkörpern soll, ist jedoch die Analogie der Inszenierung hinsichtlich des Froboess-Songs „Zwei kleine Italiener“: „am Bahnhof schaut er [Ali; TK] den Zügen hinterher“.

Im Anschluss an das Liedbeispiel von Udo Lindenberg, das den Thematisierungswechsel von erster auf zweite Generation nahelegte, soll kurz auf ein Lied aus dem Jahr 1987 verwiesen werden, welches geeignet ist, das Konstatieren jenes Wechsels des Objektes der singenden Begierde zu bekräftigen. Die Frankfurter Band Strassenjungs besang auf ihrem 1987 erschienenen Album „Bombenstimmung“ im Lied „Mustafa“ zwar keinen in Deutschland geborenen Jugendlichen, dennoch handelte es sich um einen jugendlichen Migranten – insofern lässt sich dieses Beispiel als Fortführung der in Lindenbergs „Ali“-Song identifizierbaren Hinwendung zur sog. zweiten Generation begreifen.

Es liegt nahe zu vermuten, dass es sich bei „Mustafa, braune Augen, schwarzes Haar“ um einen Jugendlichen handelt, der im Rahmen des Familiennachzuges nach Deutschland gekommen ist, also einen Nachkommen der Gastarbeitergeneration (deshalb zweite Generation). Am Beispiel der Figur des 16jährigen „Mustafa“ wird stellvertretend die Erfahrung jugendlicher Migranten mit rassistischer Diskriminierungspraxis durch Behörden in Alltagssituationen (Bahnfahrt und Fahrscheinkontrolle) geschildert.

Der Song bezieht im Gegensatz zum Beispiel des Interpreten Lindenberg eine eindeutigere und pointiert kämpferische Position. Er plädiert für uneingeschränkte Solidarität mit („Mustafa, Mustafa, wir stehn hinter Dir Mustafa“) und aktive Unterstützung von Migrantenjugendlichen („wir besorgen ‘nen Rechtsanwalt und der hat ihn rausgeholt“).

Thematisiert wird nicht – wie bislang überwiegend – eine individuelle, psychosoziale Problemkonstellation, sondern handfeste Erfahrungen behördlicher Schikane und rassistischer Praktiken in alltäglichen Situationen, welche die Lebenswelt auch der jugendlichen Migranten prägen und eigentlich symptomatisch für deren schwierige Situation in Deutschland seien. Dennoch steht auch dieser Song hinsichtlich eines wesentlichen Aspektes in der Kontinuität aller bislang vorgestellten: Immer noch singen Repräsentanten der deutschen Mehrheitsgesellschaft[5] über Migranten. Und sie nehmen, daran anknüpfend, weiterhin eine paternalistische Helferposition ein, während Migrantenjugendliche lediglich als Opfer rassistischer Schikane eingeführt werden, die „unserer“ Hilfe und Unterstützung bedürfen.

Textauzug Udo Lindenberg: Ali (1981):
„…Ali ist ein Türkenjunge aus Hamburg,
hier geboren, doch wo gehört er eigentlich hin?
Dauernd gibt man ihm so’n Gefühl, als müßte er sagen,
entschuldigen Sie, daß ich geboren bin…
…Istanbul, das Schwarze Meer,
am Bahnhof schaut er den Zügen hinterher,
doch wahrscheinlich in Ankara,
hätt‘ er Heimweh nach Hamburg-Altona.
So hängt er mit den Gefühlen zwischen den Stühlen,
umgeben von Ghetto-Mauern, isoliert wie im Knast,
und trotzdem, Ali, ist das hier dein Zuhause,…“

 1992 – Fremd im eigenen Land

Der Titel „Fremd im eigenen Land“ der Heidelberger HipHop-Gruppe Advanced Chemistry kann in Bezug auf die über alle bisherigen Liedbeispiele hinweg tragenden Rollenzuweisungen (es singen jeweils Angehörige der sog. Mehrheitsgesellschaft über Migranten als Minderheitsgruppenangehörige) als Beispiel für einen besonders signifikanten Bruch angesehen werden, der eine neue Phase der popkulturellen Bearbeitung des Themas Migration/Integration indiziert.

Dass dieses Lied herangezogen wird, soll nicht heißen, dass es eventuell nicht schon etwas früher Beiträge mit einem ähnlichen Aussagegehalt gegeben haben könnte. Jedoch kann es als paradigmatisches Stück angesehen werden, um zu zeigen, wie sich jener Bruch manifestierte und welche Hauptaussagen – im Gegensatz zu den bisherigen Stücken – nun artikuliert werden.

Bereits die populärmusikalische Bedeutung der Gruppe selbst unterstreicht den besonderen Stellenwert, der dem Lied beizumessen ist: „Die Gruppe Advanced Chemistry zählt zu den musikalischen Vorreitern der deutschen HipHop-Szene und zeichnet sich durch sprachlich kreative Texte mit sozialkritischen Inhalten aus. Die Heidelberger Rapper, mit unterschiedlichen ethnischen Hintergründen, veröffentlichen Ende 1992 ‚Fremd im eigenen Land‘ und erzählen von erlebter Ignoranz und Feindsinnigkeit [sic!], mit denen Migranten in Deutschland konfrontiert werden.“ (Zeise 2006: 9f.).

Auch wenn Zeise hinsichtlich ihrer Einschätzung zum Stellenwert der Band zuzustimmen ist, gerät ihre Annahme, das Stück thematisiere Fremdheitserfahrungen von Migranten, zu ungenau und übersieht, worin das eigentlich Neue hinsichtlich dem Aufgreifen des Themas Migration und der im Lied vorgebrachten Kritik besteht. Denn gerade in der neuen Liedperspektive auf die Gruppe derer, die sowohl in Deutschland geboren sind als auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, vollzieht sich der Wandel und daraus bezieht auch die im Lied vorgetragene inhaltliche Position ihre besondere kritische Spannung.

Die Künstler formulieren aus einer ius soli-Perspektive heraus entschieden den Anspruch, dass dieses Land, d.h. Deutschland, eben auch ihr Land sei („eigenes Land“). Sie sind Deutsche qua Pass und qua Geburt („Ich habe einen grünen Pass mit ’nem goldenen Adler drauf“, „bin in diesem Land vor zwei Jahrzehnten gebor‘n“) und reklamieren mit Blick darauf den selbstbewussten Anspruch, dass Deutschland eben auch ihr Land sei. Und dennoch werden sie alltäglich mit Fragen nach eigentlicher Herkunft („Ey, bist Du Amerikaner oder kommst‘e aus Afrika?“) und zu ihnen unterstellten Rückkehrplänen in eine vermeintlich andere Heimat („Gehst du mal später zurück in deine Heimat?“) konfrontiert und zum Sprechen gebracht. Darüber hinaus sehen sie sich in ihrem Lebensalltag aber auch mit konkreter rassistischer Gewalt konfrontiert.

Die im Lied vorgetragene Kritik beschränkt sich nicht länger auf explizit rassistische Zumutungen und vorsätzliche Gewalthandlungen. Sie weitet den Fokus auf alltagssprachliche Settings und den sog. Rassismus der Mitte aus, die beide – wie ihr explizites Pendant – letztlich auf Homogenitätsphantasien von Nation aufruhen und hierzu im Kern ebenfalls auf biologistische und/oder kulturdifferenzialistische Begründungen rekurrieren.

Ein Grund für diese Weitung ist auch im zeitlichen Kontext der Entstehung des Liedes zu suchen – und den damaligen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Im Jahr 1992 erreichte die öffentliche Debatte, die die faktische Abschaffung des Asylrechtes vorbereitete, einen Höhepunkt. Begriffe wie „Asylmissbrauch“ und „Ausländerkriminalität“ dominierten die Diskussion. Im selben Jahr ereigneten sich die Pogrome in Rostock-Lichtenhagen und die Mordanschläge in Mölln – um nur die gravierendsten rassistisch motivierten Gewalttaten des Jahres 1992 zu nennen. Diese Entwicklungen und Ereignisse greift das Lied nicht nur auf, sondern sieht sie auch in einem Zusammenhang zueinander:

„Politikerköpfe reden viel, doch bleiben kalt und kühl, all dies passt genau in ihr Kalkül, man zeigt sich besorgt, begibt sich vor Ort, nimmt ein Kind auf den Schoß, für Presse ist schon gesorgt, mit jedem Kamerablitz ein neuer Sitz im Bundestag, dort erlässt man ein neues Gesetz. Klar, Asylbewerber müssen raus…“.

Auch in dieser Hinsicht markiert das Lied den Beginn einer neuen Phase der Thematisierung: die herrschende Politik als Ursache für die kritisierte Situation und die erfahrenen Diskriminierungen rückt in den Mittelpunkt.

Die beobachtbare thematische Verschiebung hin zur Gruppe der hier geborenen und mit deutscher Staatsangehörigkeit ausgestatteten Jugendlichen (als Interpreten und gleichzeitig Liedgegenstand), die von der Mehrheitsgesellschaft unter Rückgriff auf Familiengeschichte, auf biologische Körpermerkmale (Hautfarbe, Haare) oder Namensmerkmale weiterhin als Migrantenjugendliche markiert und somit – trotz deutscher Staatsangehörigkeit – weiterhin als Andere adressiert und zugerichtet werden, kann als das Ankommen von Jugendlichen mit sog. Migrationshintergrund (und deren Lebenssituation) in der populären Musik bezeichnet werden.

Dies verwundert einerseits, da doch das dem bevölkerungsstatistischen Diskurs zu zu rechnende Etikett „Migrationshintergrund“ zu diesem Zeitpunkt und in diesem Kontext explizit noch gar nicht im Sprachgebrauch verankert war,[6] sondern erst dreizehn Jahre später, im Jahr 2005, mittels des Mikrozensus exponiert Eingang in den öffentlichen Diskurs fand (vgl. Butterwegge 2011: 27f.). Andererseits zeigt es aber auch, dass der popularkulturelle Diskursstrang dem hegemonialen Zuwanderungsdiskurs nicht bloß folgt, sondern auch voraus sein kann.

Textauszug Advanced Chemistry: Fremd im eigenen Land (1992):
„…Ignorantes Geschwätz, ohne End,
dumme Sprüche, die man bereits alle kennt!
Ey, bist Du Amerikaner oder kommste aus Afrika?
Noch ein Kommentar über mein Haar,
was ist daran so sonderbar?
Ach, Du bist Deutscher, komm‘, erzähl‘ kein‘ Scheiß!
Du willst den Beweis? Hier ist mein Ausweis:
Gestatten sie, mein Name ist Frederik Hahn
Ich wurde hier geboren, doch wahrscheinlich sieht man es mir nicht an.
Ich bin kein Ausländer, Aussiedler, Tourist, Immigrant,
sondern deutscher Staatsbürger und komme zufällig aus diesem Land…
…Ich hab ’nen grünen Pass mit ’nem goldenen Adler drauf,
doch bin ich fremd hier…“

2008 – Ich bin Berliner

Der Befund, der aus der Analyse des HipHop-Stückes von Advanced Chemistry abgeleitet werden konnte, lässt sich abschließend mit einem Liedbeispiel aus dem Jahr 2008 nochmals bekräftigten. Zugleich deutet dieses letzte Beispiel auch Variationen und Abwandlungen der Themenbearbeitung in dieser Phase popkultureller Bearbeitung an. Der 1986 in Berlin geborene Künstler Konstantinos Tzikas besang unter dem Pseudonym Greckoe im Jahr 2008 in seinem Song „Ich bin Berliner“ eine Situation, die der im zuvor analysierten Song stark ähnelt.

Im Mittelpunkt auch dieses Songs steht die Anerkennungsthematik bzw. Greckoes Wahrnehmung, dass die Frage nach Herkunft und nationaler Selbstzuordnung in besonderer Weise, d.h. sehr häufig und nachdrücklich an ihn bzw. an Jugendliche mit einem sog. Migrationshintergrund herangetragen wird. Diese sehen sich hierdurch kontinuierlich in diesbezügliche Rechtfertigungspositionen und Erklärungsdilemmata gebracht. Egal, welche Antwort von ihnen auf diese Frage auch gegeben wird, sie stellt die Fragenden bzw. die fragende Mehrheitsgesellschaft nicht zufrieden.

Entgegen der verbreiteten Annahme, dass Jugendliche mit sog. Migrationshintergrund einen Identitätskonflikt durchlitten, der in der vermeintlichen Verschiedenheit ihnen zuzuordnender Kulturen (oder Nationalitäten oder Religionen) gründe, erweist sich der vermeintliche intraindivuelle „Konflikt“, folgt man den Schilderungen der Liedbeispiele, vor allem als extern verursachtes Anerkennungsdilemma, von außen an die Jugendlichen herangetragen durch die permanente Abfrage von Herkunft.

Wobei das Problem insbesondere darin besteht, dass ihnen, egal welche Antwort sie auch geben, diese dann nicht zugestanden wird: „Ich wurde schon paar Mal gefragt ‚Bist du Deutscher?‘ und als ich ‚nein‘ sagte, sah man mich enttäuscht an…“ An anderer Stelle heißt es: „Ich wurde schon paar Mal gefragt ‚Bist du Deutscher?‘ und als ich ‚ja‘ sagte, hatt‘ ich‘s schon bereut, Mann, Deutscher könnt ich ja nicht sein wegen meinem Pass…“ Greckoe löst dieses Dilemma durch den Verweis auf die gegenüber der nationalen Identitätsfrage wesentlich wichtigere Dimension regionaler bzw. lokaler Zugehörigkeit: „Ich bin Berliner, damit kann ich mich identifizier’n. Ich bin Grieche auf Papier, doch geboren bin ich hier. Mein Pass ist rot, Tempelhof mein Bezirk. All die Eindrücke und Erlebnisse gehör‘n zu mir…“.

„Ich bin Berliner“ belegt, wie sich sowohl die Erzählperspektive (Wer singt?) als auch die Problem- und Themenstellung, die aus dieser heraus formuliert werden, seit 1992 verstetigt haben und zu einem festen Bestandteil des HipHop in Deutschland geworden sind. Beachtung verdient noch der Sachverhalt, dass – wie das Beispiel zeigt – nicht notwendig eine explizit herrschaftskritische und politische Grundhaltung wie im Falle des Advanced Chemistry-Stückes eingenommen werden muss.

Vielmehr haben sich Problembeschreibung und der Umgang damit veralltäglicht, sind profaner geworden. Nichtsdestotrotz zeigt sich in den Schilderungen des Sängers, wie umkämpft die Zugehörigkeitspositionen weiterhin sind und wie selbstverständlich die Lebenssituation dieser Jugendlichen durchzogen ist von permanenten Zumutungen, anderen zu Fragen der eigenen Herkunft Auskunft geben zu müssen (vgl. Kunz 2012b).

Die Mehrheitsgesellschaft hält die von ihr als Migrantenjugendlichen identifizierten mittels dieser verfestigten Ungeklärtheit quasi fortlaufend in Atem. Es scheint eine fortwährende Anstrengungsleistung um Anerkennung nötig und es wird deutlich, dass diese Situation eigentlich nur zwei Optionen zur Lösung offen lässt: Entweder das Sich-Arrangieren mit dem identitären Dauerschwebezustand um den Preis, somit für die Anerkennungsfrage dauerhaft disponibel gehalten zu werden oder der selbstbewusste Rückzug bzw. die demonstrative Zurückweisung dieser Zumutung („Haltet die Luft an oder haut ab, denn ihr fragt mir zuviel“), die dann aber möglicherweise diskursiv als sog. Integrationsverweigerung oder abweichendes, aggressives Verhalten gerahmt wird.

Textauszug Greckoe: Ich bin Berliner (2008):
„Ich wurde schon paar Mal gefragt ‚Bist du Deutscher?‘
und als ich ‚nein‘ sagte, sah man mich enttäuscht an.
Ein Grieche sei ich wohl auch nicht, denn ich bin hier geboren,
analysierten ‘n paar schlaue Typen mit Riesenohren…
…Deutscher bin ich scheinbar nicht
Doch ich kenn kaum einen Deutschen,
Der viel besser deutsch spricht als ich…
…Ich bin Berliner, damit kann ich mich identifizier’n.
Ich bin Grieche auf Papier, doch geboren bin ich hier
Mein Pass ist rot, Tempelhof mein Bezirk.
All die Eindrücke und Erlebnisse gehör‘n zu mir…
…Ich wurde schon paar Mal gefragt ‚Bist du Deutscher?‘
und als ich ‚ja‘ sagte, hatt ich‘s schon bereut, Mann.
Deutscher könnt ich ja nicht sein wegen meinem Pass,
analysierten paar schlaue Typen in einem Satz…
…Was ist das für ‘ne Debatte, lasst mich mal außen vor
und hör dir diesen Track an, Malaka, ich geb dir auf die Ohren.
Hier ist mein Zuhause, ich lieb es und ich brauch es.
Und das ist so weil mir fast jeder Winkel hier vertraut ist…

Versuch einer Einordnung – fünf idealtypische Thematisierungsweisen?

Hinsichtlich der eingangs formulierten Frage nach möglichen idealtypischen Thematisierungsweisen (oder Phasen) kann nun festgehalten werden, dass sich im Bereich der populären Musik verschiedene Hinweise finden lassen, die geeignet sind, fünf unterschiedliche Typen zu identifizieren und voneinander abzugrenzen, die mit einem gewissen Zeitversatz dem Migrations- und Integrationsdiskurs der Bundesrepublik folgen.

Die musikalische Einarbeitung bestimmter Zuwanderergruppen entspricht hierbei der Chronologie des Wanderungsgeschehens, vergegenwärtigt man sich die Jahre, in denen die jeweiligen Anwerbeabkommen geschlossen wurden (1955 mit Italien, 1960 mit Griechenland und 1961 mit der Türkei). Zugleich ist anzumerken, dass die an dieser Stelle vorgenommene Einordnung in idealtypische Thematisierungsweisen lediglich ein erster Versuch ist, die Ergebnisse der Erstanalysen zu strukturieren. Die Einteilung und deren zeitliche Zuordnung, als eine idealtypische, soll und kann nicht ausschließen, dass es Überschneidungen zwischen jenen Phasen gegeben hat. Die Tragfähigkeit der Einordnung und Unterteilung wäre durch weitere Analysen und eine Erweiterung der empirischen Grundlage zu überprüfen:

Thematisierungsweise 1: Unsere niedlichen Gastarbeiter

Auf die Frage „Wer singt über wen?“ zeigt sich, dass zunächst im Schlager über italienische Gastarbeiter unter der Bedingung einer existierenden Rückkehrperspektive gesungen wurde. In dieser frühen Phase der 1960er Jahre dominierte eine verniedlichend-infantilisierende Perspektive. Besungen wurden „kleine Italiener“ und deren Heimweh aus Sicht der sog. Mehrheitsgesellschaft.

Thematisierungsweise 2: Unsere traurig-melancholischen Gastarbeiter

In dem Maße, in dem sich der Aufenthalt verstetigte, änderte sich sowohl die Thematisierung im Schlager als auch die Gruppe, die im Beobachtungsfokus stand. Mitte der 1970 Jahre singen weiterhin „wir“ über „sie“. Jedoch rückte zunächst die Gruppe der griechischen Gastarbeiter in den Blick sowie die Thematisierung des Daueraufenthaltes in den Mittelpunkt. Ende der 1970er Jahre verschiebt sich das Interesse dann auf die Gruppe der türkischen Gastarbeiter. Wobei die Wahrnehmung des Daueraufenthaltes als folgenreiche Abschiednahme von der Rückkehrperspektive sowohl für die griechischen als auch für die türkischen Gastarbeiter einseitig als Enttäuschung von Hoffnungen und Nichterfüllung von Träumen der Gastarbeiter inszeniert wurde. Die zentrale Figur ist in beiden Fällen der traurig-melancholische, entwurzelte Gastarbeiter.

Thematisierungsweise 3: Unsere sozial benachteiligten Gastarbeiter

Ebenfalls Ende der 1970er Jahre lässt sich eine neue Thematisierungsweise identifizieren, die mit einem Genrewechsel verbunden ist (vom Schlager zur Rockmusik). Sie schreibt zwar die paternalistische Erzählperspektive der Mehrheitsgesellschaft weiter fort und rückt erneut türkische Gastarbeiter in den Fokus. Sie kann aber in Abgrenzung zu der vorherigen paternalistisch-sentimentalen Haltung als eher paternalistisch-sozialkritische Haltung gedeutet werden.

Thematisierungsweise 4: Unsere Gastarbeiterkinder mit Identitätskonflikt

Zugleich taucht zum Ende der 1970er Jahre die sog. zweite Generation in der populären Musik auf (ebenfalls in der Rockmusik). Weiterhin aus mehrheitsgesellschaftlicher Perspektive werden nun in Deutschland geborene oder nachgezogene Kinder von Gastarbeitern thematisiert. Die Beschreibung ihrer Situation wird dominiert durch die Annahme eines bei ihnen bestehenden Identitätskonfliktes sowie ihren Diskriminierungserfahrungen und ihrem alltäglichen Kampf um Anerkennung. Der Genrebreite der Rockmusik entsprechend variieren die Thematisierungen von verhalten-kritisch bis offensiv-sozialkämpferisch.

Thematisierungsweise 5: Jugendliche mit sog. Migrationshintergrund über die Mehrheitsgesellschaft und ihren Kampf um Anerkennung

Der markanteste Wechsel ist zu Beginn der 1990er Jahre zu identifizieren: nun dreht sich die Erzählperspektive. Fortan singen die, über die bislang gesungen wurde. Dieser Wechsel kann, in Anlehnung an Bareis und Cremer-Schäfer, auch als Hinweis auf eine Form der Alltagsaneignung „von unten“ gedeutet werden (vgl. Bareis/Cremer-Schäfer o.J.). Die Thematisierungsweise konzentriert nun sich auf gesellschaftliche Mißstände, auf die Identitätszumutungen und -verweigerungen durch die Mehrheitsgesellschaft aus Sicht der bisher „von oben“ Beschriebenen. Kritisiert werden rassistische Gewalt und gesellschaftliche Ablehnung, die als zwei Seiten desselben Phänomens begriffen werden. Es geht um Anerkennung vor dem Hintergrund, dass die mittels des Etiketts Migrationshintergrund weiterhin als nichtzugehörig markierten Jugendlichen in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, teils die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen und dennoch unter Rückgriff auf rassistische Merkmale als „Andere“ und „Fremde“ ausgeschlossen und um gesellschaftliche Teilhabe gebracht werden.

Fazit

Die beobachtbaren Positionen reichen von romantisierend fremdbeschreibenden Zuweisungen Anfang der 1960er Jahre („Zwei kleine Italiener“, Cornelia Froboess) über Udo Jürgens populären, paternalistisch-bedauernden aber gleichwohl exotisierenden Hit „Griechischer Wein“ in der Mitte der 1970er Jahre bis hin zum selbstbeschreibenden Bekenntnis sog. Jugendlicher mit Migrationshintergrund in Gestalt des HipHop-Stückes „Ich bin ein Berliner“ (Grecko) aus dem Jahr 2008.

Es ist ergiebig zu beobachten, wie sich Inhalte und Identitätspositionen im Laufe der Jahrzehnte veränderten, wer und auf welche Weise mit der Thematik identifiziert wurde und wird.

Die Analyseergebnisse des an dieser Stelle nur explorativ-exemplarisch umrissenen Gegenstandes sind auch insofern von Relevanz, als antirassistische und toleranzorientierte Programme und Aufklärungsambitionen häufig auf bestimmte kritikwürdige rassistische Verhaltensmuster und explizite politisch rechte oder als fremdenfeindlich bezeichnete Einstellungen abheben und dabei ausgeblendet wird, dass Vorstellungen und Bildangebote des herrschenden Diskurses selbst stärker in den analytischen Blick genommen werden müssen, da sie einerseits immense Verbreitung finden, aber häufig als frei von Rassismen und somit als unbedenklich gelten.

Die Analyse alltags- und popularkultureller Artefakte am Beispiel der sog. populären Musik erweist sich auch deshalb als bedeutsam, da diese auf subtile Weise gesellschaftliches Wissen etabliert, weiterträgt und flankiert und hierdurch gesellschaftliche Wahrnehmungskorridore und Möglichkeitsräume für alternative Beschreibungen gesellschaftlicher Realitäten limitiert.

Hieraus ist das Plädoyer für den ebenso überfälligen wie unbedingt notwendigen Einbezug gerade auch dieser nur scheinbar abseitigen Diskursstränge (im Sinne eines Abseits in Bezug auf die „klassische“ Printmedienanalyse) in Analyse und Kritik des herrschenden kulturellen Rassismus abzuleiten – nicht zuletzt gerade auch deshalb, weil der sog. Unterhaltungsmusik nicht selten etwas Beiläufiges, Profanes oder Unpolitisches beigemessen wird und damit deren Beitrag zur Formierung kulturell-rassistischer Gesellschaftsvorstellungen unterschätzt bzw. ausgeblendet wird.

Ergänzend und vertiefend zu diesen ersten Analyseergebnissen wären Arbeiten und Analysen heranzuziehen, die Phasen und Konjunkturen ausländerfeindlicher und rassistischer Diskurse in der Bundesrepublik nachzeichnen, um genauer zu Überprüfen, ob und inwieweit die jeweiligen Lieder seinerzeit eingebettet waren in unmittelbar aktuelle Debatten und gesellschaftliche Konflikte. Darüber hinaus wäre vertiefend möglichen Differenzierungen und Variationen der explorierten Thematisierungsweisen in der populären Musik nachzuspüren.

Das überschaubare Sample lieferte lediglich einige erste – wenn auch stichhaltige – Hinweise auf idealtypische Thematisierungen sowie Veränderungen des popkulturellen Aufgreifens und der Verarbeitung der Migrations-/Integrationsthematik im Zeitverlauf. Es müsste in einem nächsten Schritt zum Beispiel geprüft werden, inwiefern sich die konstruierten Thematisierungsweisen durch weitere Beispiele bekräftigen  oder variieren lassen. Darüber hinaus wäre es ergiebig, das Spektrum der Thematisierungen zu einem jeweiligen konkreten Zeitpunkt in Abhängigkeit von Konjunkturen bestimmter Musikrichtungen und -szenen zu untersuchen.

Dies lenkt die Aufmerksamkeit nicht zuletzt auf die Frage der Beeinflussung durch Rap und HipHop als Elemente der gleichnamigen Subkultur bzw. deren Adaption in der Musik- und vor allem Jugendszene in der Bundesrepublik. Die beiden zuletzt vorgestellten Liedbeispiele sind eben dieser Stilrichtung zuzuordnen. Der Artikulationsform des Sprechgesangs bedarf nicht notwendigerweise aufwendiger Studiotechniken und ist mit dem Glaubwürdigkeitsbonus der sog. street credibility ausgestattet.

Mittlerweile im musikindustriellen Mainstream angekommen, teils gar als medienpädagogisches Instrument in sozialarbeiterischen Settings eingesetzt, eröffnete diese Musikrichtung mit ihrem Aufkommen gerade Jugendlichen Artikulationsmöglichkeiten und mediale Aufmerksamkeit, die diesen bis dato so nicht zur Verfügung standen. Im Bereich HipHop lassen sich zahlreiche weitere Beispiele entdecken, die zum einen dem hier behandelten Thema verhaftet sind, jedoch die Thematisierungsweisen und Erzählperspektiven weiter diversifizieren.

So zum Beispiel in Gestalt des sog. Gangsta-Rap oder mittlerweile auch in Gestalt von HipHop-Stücken, welche religiös orientierte Botschaften transportieren. Ihnen allen ist jedoch gemein, dass die Nachkommen der ehemals als Gastarbeiter angeworbenen Personen, d.h. die sog. dritte Generation nun ihre Alltagserfahrungen und Lebenssituation selbst und selbstbewusst artikuliert. Die dadurch eingetretene Deckung von Interpretenposition mit Betroffenenposition (bezüglich der im Lied geschilderten Diskriminierungen und sozialen Mißstände) kann durchaus als Emanzipation von bisher asymmetrischen musikalischen Beschreibungsroutinen begriffen werden, welche bisher mehrheitsgesellschaftliche Defizit- und Problemperspektiven reproduzierten. Es ist die Zurückweisung des über lange Jahre auch im Popsong vorfindbaren paternalistischen Gestus.

Gleichwohl wird auch diese Zurückweisung vom hegemonialen Diskurs wieder aufgegriffen und einsortiert. Die teils trotzigen, teils provokativen Attitüden, die kämpferischen Botschaften, die die Interpreten häufig vertreten, werden im hegemonialen Diskurs nicht selten beargwöhnt und herangezogen, um beispielsweise als Belege für angebliche Integrationsunfähig- oder gar -unwilligkeit zu fungieren und weiterhin Andersartigkeit, Gefährlichkeit und Bedrohlichkeit von Migranten (nunmehr der dritten Generation) zu konstruieren.

Diese Delegitimierungsansinnen sind als Versuche zu werten, das im popkulturellen Diskursstrang aufscheinende widerständige Moment (jene Thematisierungsweise) konform zur bislang gültigen thematischen Rahmung wieder mit gewohnt asymmetrischer Positionszuweisung (Migranten in niedriger gesellschaftlicher Machtstatusposition, d.h. in diesem Sinne „unten“) in den hegemonialen Diskurs einzuarbeiten (Stichworte: Migrantenjugendliche als Problemgruppe). Jene erneute „Ingebrauchnahme“ (Cremer-Schäfer) dieser zuvor bereits als Versuche der Alltagsaneignung „von unten“ umschriebenen popkulturellen Artikulationen verweist auf das grundsätzliche Nicht- und Nie-Abgeschlossensein des sozialen Prozesses der Etablierung kultureller Hegemonie.

Die gesellschaftliche Auseinandersetzung um Deutungen erweist sich einmal mehr als dynamisches, d.h. fortwährendes Ringen um die Etablierung und Durchsetzung von Gültigkeit. Das heißt eben auch, dass mit einer neuen Position bzw. Erzählperspektive (wie bspw. Thematisierungsweise 5) kein Endpunkt erreicht, kein Deutungskampf abgeschlossen ist. Das Singen „von unten“ wird – um im Bild zu bleiben – im weiteren Verlauf „von oben“ wieder in Gebrauch genommen und nicht selten in eine Vorstellung über die Existenz gefährlicher Klassen transformiert.[7]

Um so spannender und erforderlicher ist es, eben auch diese popkulturellen Diskurse im Sinne einer kritischen Alltagsforschung (Bareis/Cremer-Schäfer) in den Blick zu nehmen und als dazugehörigen, notwendigen Bestandteil bei der Etablierung von Herrschaftsverhältnissen auf ihre Funktion und Implikationen hin zu beobachten.

 

Literatur

Bareis, Ellen/ Cremer-Schäfer, Helga (o. J.): Empirische Alltagsforschung als Kritik. Grundlagen der Forschungsperspektive der „Wohlfahrtsproduktion von unten“, in: Graßhoff, Gunther (Hrsg.): Adressaten, Nutzer, Agency. Akteursbezogene Forschungsperspektiven in der Sozialen Arbeit. Wiesbaden (im Erscheinen).

Butterwegge, Carolin (2011): Zuwanderung in Deutschland. Eine historische Betrachtung des Wanderungsgeschehens und der Migrationspolitik, in: Kunz, Thomas/Puhl, Ria (Hrsg.): Arbeitsfeld Interkulturalität. Weinheim/München, 16-31.

Butterwegge, Christoph/Hentges, Gudrun (Hrsg.) (2006): Massenmedien, Migration und Integration. Herausforderungen für Journalismus und politische Bildung. 2. Aufl., Wiesbaden.

Castro Varela, María do Mar (2008): ‚Was heißt hier Integration?‘ Integrationsdiskurse und Integrationsregime, in: Stelle für interkulturelle Arbeit der Landeshauptstadt München (Hrsg.): Dokumentation der Fachtagung „Was heißt hier Identität? Was heißt hier Integration? Alle anders – alle gleich?“. München, 77-87.

Cremer-Schäfer, Helga (2005): Situationen sozialer Ausschließung und ihre Bewältigung durch die Subjekte, in: Anhorn, Roland/Bettinger, Frank (Hrsg.) Sozialer Ausschluss und Soziale Arbeit. Positionsbestimmungen einer kritischen Theorie und Praxis sozialer Arbeit. Wiesbaden, 147-164.

Hepp, Andreas (2010): Cultural Studies und Medienanalyse. 3. überarb. und erw. Aufl., Wiesbaden.

Höhne, Thomas/Kunz, Thomas/Radtke, Frank-Olaf (2005): Bilder von Fremden. Was unsere Kinder aus Schulbüchern über Migranten lernen sollen. Frankfurt am Main.

Kunz, Thomas (2012a): Medienbilder in der Einwanderungsgesellschaft – Kritische Medienreflexion als Bestandteil Interkultureller Kompetenz, in: Migration und Soziale Arbeit, Jg. 34, H. 3, 210-218.

Ders. (2012b): ‘Woher kommst Du eigentlich?‘ Das Interesse an Herkunft als Zuweisung von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit, in: Sozialmagazin, Jg. 37, H. 4, 19-27.

Scherr, Albert (2002): Abschied vom Paternalismus. Anforderungen an die Migrationssozialarbeit in der Einwanderungsgesellschaft, in: Treichler, Andreas (Hrsg.): Wohlfahrtsstaat, Einwanderung und ethnische Minderheiten. Opladen, 187-198.

Schwehn, Klaus J. (2009): Der Gastarbeiter im deutschen Schlager: Die kleine Conny machte mit zwei kleinen Italienern den Anfang; (Online verfügbar unter; http://suite101.de/article/der-gastarbeiter-im-deutschen-schlager-a57549 [Website erloschen]; Stand: 31.10.2012 )

Wicke, Peter (2010): Genres, Stile und musikalische Strömungen populärer Musik in Deutschland (Online verfügbar unter:  http://www.miz.org/static_de/themenportale/einfuehrungstexte_pdf/04_JazzRockPop/wicke_genres.pdf; Stand: 31.10.2012).

Zeise, Tina (2006): Worte und Vinyl. Kommunikative Aspekte der Rapmusik in Deutschland. Inaugural-Dissertation zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität, München.

 

Diskographie

Caterina Valente: Komm ein bißchen mit nach Italien (1956)

Conny Froboess: Zwei kleine Italiener (1961/62)

Udo Jürgens: Griechischer Wein (1974)

Freddy Quinn: Istanbul ist weit (1979)

BAP: Neppes, Ihrenfeld un Kreuzberg (1979)

Bots: Ali Kümmeltürke (1980)

Udo Lindenberg: Ali (1981)

Strassenjungs: Mustafa (1987)

Advanced Chemistry: Fremd im eigenen Land (1992)

Greckoe: Ich bin Berliner (2008)

 

Anmerkungen

[1] Hiermit sind vor allem die Abkommen zur Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer (überwiegend aus Südeuropa) gemeint, die bilateral in der Zeit von 1955 bis 1968 zwischen der Bundesrepublik und den jeweiligen Anwerbestaaten geschlossen wurden. Diese Staaten waren: Italien (1955), Griechenland und Spanien (1960), Türkei (1961), Marokko (1963), Portugal (1964), Tunesien (1965) sowie das frühere Jugoslawien (1968).

[2] Die aktuelle Diskussion zu Griechenland in der sog. Euro-Krise belegt, dass diese wohlmeinend-mitfühlende Haltung nicht statisch ist, sondern sich durchaus in ihr Gegenteil verkehren kann.

[3] Möglicherweise ist dies auch ein Hinweis auf residuale Querbezüge zum oben bereits genannten Motiv des fordistischen Reisens (Massentourismus) bzw. der Reisenden im Fordismus (Touristen). Auch und gerade der Massentourist möchte Reisegeschäft und Tourismusindustrie ungern als die schnöden Warenangebote bzw. Dienstleistungen wahrnehmen, die sie nun einmal sind und sich selbst statt dessen als besonders gewertschätzten Besucher eines Landes wahrnehmen, der um seiner selbst Willen in den Genuß besonderer, ländertypischer Gastfreundschaft gekommen ist – und nicht infolge einer profan bezahlten Hotelleriedienstleistung.

[4] Es wäre interessant, zugleich eine Einordnung hinsichtlich der Bedeutung bestimmter Musikrichtungen/-stile, die Art ihrer Themenbearbeitungen und deren gesellschaftliche Wahrnehmung in der Bundesrepublik für die Zeit der 1970er und 1980er Jahre vorzunehmen, nicht zuletzt auch mit Blick darauf, inwieweit sich Bands, einzelne Musikerinnen und Musiker bzw. Sängerinnen und Sänger teils dem Spektrum der damaligen Protestbewegungen zuordneten bzw. zuordnen ließen – oder sich im anderen Fall von diesen distanzierten. Dies kann an dieser Stelle jedoch nicht geleistet werden.

[5] Die mehrheitsgesellschaftliche Verortung der Band Strassenjungs gilt in diesem Fall allerdings nur in Bezug auf die besungenen Migranten, da die Strassenjungs mit ihrer Musik sich teils dem sog. Sponti- und Punkrock-Spektrum zuordnen ließen und somit selber eine gesellschaftlich eher randständige Position für sich reklamierten.

[6] Schließlich handelt es sich bei diesem Etikett ursprünglich auch nicht um eine Selbstbeschreibung, sondern eine bevölkerungsstatistische Fremdzuschreibung.

[7] Wobei das hier zur Illustration herangezogene Oben-Unten-Schema nicht einfach nur deskriptiv verwendet werden kann, sondern seinerseits schon Bestandteil und Mittel von Alltagsaneignungen und Ingebrauchnahmen ist.

 

Veröffentlichungsnachweis: Thomas Kunz: „Das Ankommen des ‚Gastarbeiters‘ auch im Popsong“. In: Ellen Bareis, Christian Kolbe, Marion Ott, Kerstin Rathgeb, Christian Schütte-Bäumner (Hrsg.): Episoden sozialer Ausschließung.Definitionskämpfe und widerständige Praxen. Westfälisches Dampfboot, Münster 2013, S. 276-299.

Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags Westfälisches Dampfboot.