Grenzen einzureißen und damit zu verschieben, ist heutzutage modern
Zwei Beobachtungen zunächst. Die eine: Grenzen einzureißen und damit zu verschieben, ist heutzutage modern. Das gilt für die Erziehung genauso wie für den Freihandel. In einer Zeit, die die Festlegung scheut, ist es offensichtlich schwer, Unterscheidungen zu denken. Schließlich bedeutet jede so gezogene Grenze einen Platzverweis: Durch die Trennlinie zwischen mir und dir, zwischen denen und uns, stiften die so gezogenen Grenzen eine mögliche Konfliktgrundlage und stehen einer vermeintlich progressiven Integrations- oder Inklusionsrhetorik entgegen.
Die andere: Die sich ereignenden Grenzverschiebungen sind aktuell Gegenstand vielfältiger Überlegungen, die zwischen Magazin- oder Buchdeckeln gesammelt werden (hierzu etwa Konrad Paul Liesmann, »Lob der Grenze«, Wien 2012; »Brand eins«, 3/2013, »Polar«, 15/2013). Die Trennlinien zwischen akademischen Disziplinen stehen dabei unter besonderer Beobachtung. Der durch die Neuabsteckung angenommene Mehrwert mündet in dem proklamatorischen Ziel, das kaum einem DFG-Antrag fehlen darf: Interdisziplinarität.
Der aus einer Vortragsreihe an der Universität Tübingen entstandene Sammelband »Grenzüberschreitung. Der Mensch im Spannungsfeld von Biologie, Kultur und Technik« ist vorderhand beiden Beobachtungen verpflichtet und damit auf der Höhe der Zeit. Zum einen loten Vertreter unterschiedlicher Disziplinen den Grenzbegriff für ihre Fächer aus. Zum anderen eröffnen sie damit, so die Absichtserklärung, die Grenzen zwischen unterschiedlichen akademischen Glaubensgrundsätzen, um Prognosen über »Gegenwart und Zukunft unserer Erkenntnis des Menschen« (S.9) zu wagen. Und auch Autor Rainer Funk stellt in Aussicht, die Beiträge dieses Bandes sollten »bewusst von ganz unterschiedlichen wissenschaftlichen Ansätzen und Methoden das Thema »Grenzüberschreitung« erörtern und damit zu einem interdisziplinären Dialog beitragen.« (93) Das hehre Ziel gerät hier aber vor allem eines: an seine Grenzen.
Die Beiträge knüpfen an gesellschafts- und wissenschaftspolitische Brennpunkte an. Um das zu erkennen, muss man nur die Zeitung aufschlagen. Sie implizieren die Frage: Wie funktioniert der Mensch? Wie Erkenntnis? Was ist Leben? Und: Wie wollen wir leben? Eine Antwort verspricht also nicht weniger als Weltwahrnehmungserklärung. Der aktuelle Stand der Wissenschaften mag den für sich genommenen höchst aufschlussreichen Beiträgen zugrunde liegen. Und dass der semantische Hallraum eines Grenzbegriffs Alternativen der Fokussierung auf die Einzelwissenschaften ermöglicht hätte, ist so wahr wie unproblematisch. Allein, die Beiträge verbindet bis auf ein sich überschneidendes Vokabular nur wenig. Sehr wenig. Dass alle Aufsätze um einen Grenzbegriff kreisen, lässt sich schlicht aufgrund der quantitativen Nennung einfach ausmachen. Wo allerdings diese Grenzen verlaufen, bleibt ein genauso gut gehütetes Geheimnis wie das, in welchem Zusammenhang die eigene Grenzerkundung mit der der anderen steht.
Die Dramaturgie der Beiträge erfolgt nämlich traditionell und bleibt ganz in disziplinären Grenzen verhaftet: Auf naturwissenschaftliche Exemplifikationen zu Wahrnehmungs- und Erkenntnisräumen, bzw. zu den Entwicklungen der jungen Disziplin Synthetische Biologie (Singer, Nordheim) folgt eine Auseinandersetzung mit dem Grenzerleben von Individuen (Klosinski; Funk). Hans Konrad Bielaski erläutert anlässlich des Zusammenhangs von Essgewohnheiten und Gesundheit ein Scharnier von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und kulturellen Grenzüberschreitungen. Schließlich bietet eine kulturwissenschaftliche Dimension einen weiteren Pfad, Grenzverschiebung unter die Lupe zu nehmen (Langewiesche; Weidtmann; Antoni). Den Abschluss des Bandes bilden Jürgen Wertheimers Überlegungen zum Grenzbegriff als solchem.
Dass dieser dem Band nicht voran steht, könnte dadurch gerechtfertigt sein, dass er das durchschrittene Gelände kartiert. Das allerdings geschieht nicht. Er steht hier ebenso monolithisch wie seine Nachbarn. Wolf Singers Ausführungen zur Bedeutung und Konsequenz neurobiologischer Erkenntnisse grenzen somit an diejenigen von Dieter Langewiesche zur gesellschaftlichen De-Stabilisierung von Normen. Argumentiert der eine, Wahrnehmung beruhe auf der Bestätigung von Hypothesen, oder Wahrnehmung und Vorstellung unterscheiden sich lediglich in der Hirnaktivität (24), bilanziert der andere, ohne Normenverstoß (Grenzverschiebung!) gäbe es keinen gesellschaftlichen Fortschritt, ohne Normengehorsam keine funktionsfähige Gesellschaft und keinen funktionierenden Staat (168).
Wie heterogen das sich hier entfaltende Grenzpanorama aufscheint, verdeutlichen ebenfalls die Überlegungen, welche Grenzen wissenschaftliche Disziplinen im Spannungsfeld von Natur und Kultur zu verrücken vermögen. Als Craig Venter 2010 etwa sein künstlich erzeugtes Bakterium medienbegleitet der Öffentlichkeit präsentierte, da war von den mit der Synthetischen Biologie einhergehenden Grenzen des Machbaren die Rede. Dürfen wir, was wir können? Alfred Nordheim vollzieht in seinem Beitrag die Grenzüberschreitungen des Menschen im Umgang mit der Natur nach und gelangt zu dem Schluss, dass bereits mit der DNA-Klonierung der Mensch erstmals bewusst „eine grundlegende Grenze der Natur, nämlich die Begrenzung des Austauschs von Erbinformationen über die Artenschranken hinweg« (47) überschritten habe.
In der offensichtlichen Aufklärungs- und Informationsabsicht, verschwindet aber zusehends der roten Faden. Der aus wenigen Sätzen bestehende Ausblick pointiert die Einschätzung des Autors bezogen auf die Möglichkeiten des wissenschaftlichen Feldes, nicht aber die Grenzüberschreitung der Synthetischen Biologie: »Es bleibt dabei der gesellschaftliche Auftrag, die vielversprechenden Anwendungen der Synthetischen Biologie im Rahmen des Erwünschten zu steuern.« (59). Wer wollte dem widersprechen?
Eine Grenzverschiebung, naturgemäß wiederum ganz anderer Art – hat Gunther Klosinski im Blick, wenn er sie bezogen auf die Lebensumstände in psychodynamischen Ausnahmezuständen anwendet. Diese an Fallbeispielen reiche Ausführung allerdings öffnet nicht den Dialog mit den Nachbartexten und -disziplinen. – Welche Rolle spielt hier etwa der freie Wille im Gegensatz zum Neurobiologen Singer? Welche ein Normverständnis ist dem Beitrag im Gegensatz zu Langewiesche eingeschrieben? – Stattdessen nimmt Klosinski unterschiedliche psychische Störungen in den Blick. Der Zusammenhang zwischen Individuum und Gesellschaft schließlich beschäftigt auch Rainer Funk, der nach der Sinnhaftigkeit der Entgrenzungsbestrebungen fragt, die zwar faszinierend seien, aber dennoch zu Erschöpfungszuständen Betroffener führe. Er gelangt zu dem Fazit: »Angesichts der faszinierenden Möglichkeit der heute möglichen Grenzüberschreitungen ist zu fragen, ob wir gut beraten sind, wenn wir auch unsere eigene Persönlichkeit mit ihren Eigenheiten und Begrenztheiten zu entgrenzen versuchen.« (111).
Die Grenze zwischen Natur und Kultur, zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit, fordert auch andere Beobachtungen heraus. Dass in diesem Zusammenhang etwa der Umgang mit Lebensmitteln ein höchst aktuelles Thema ist, zeigt nicht nur der Hype um entsprechende Bioprodukte. Neben fairen Produktionsweisen verspricht deren Erwerb schließlich einen wertvollen Beitrag zur eigenen Gesundheit zu leisten. Sie sind somit nicht weniger als ein Instrument der Selbststeuerung. Was aber genau ist eigentlich für den Einzelnen gesunde Ernährung? Welche Rolle spielt hier der jeweilige Lebensraum?
Hans Konrad Bielaski gelangt angesichts dieser Fragen zu dem Schluss, die »Übertragung bestimmter Ernährungsformen ohne Kenntnis der Nischen, der Nischenkonstruktion und der Population« (128) sei äußerst problematisch. Er führt überzeugend den Zusammenhang von Lebensumständen, Ernährungsgewohnheiten und Gesundheit vor. »Was genau gesunde Ernährung ist, erschließt sich demnach wahrscheinlich nur im Rahmen engerer Grenzen und nicht als allgemein gültiges Prinzip.« (133).
Das ist ja alles schön und gut und mitunter auch wahr. Doch fragt man nach dem interdisziplinären Nährwert der Untersuchungen, wird man auf Diät gesetzt. Denn die Verbindungen zwischen den verschiedenen Ansätzen dieses Grenzziehungspotpourries scheinen oft mit den Händen greifbar. Dass etwa die Überwindung der Disziplinengrenzen auch ein Sprachproblem ist, das gehört etwa zu den Gemeinplätzen von C.P. Snow. Aber Menschen verbindet nun einmal ihr Gebrauch von Sprache. Alleine deshalb ist die Suche nach gemeinsamen Sprachwurzeln an den Grenzen zwischen Sprachen in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Dass die Rekonstruktion von Ursprache, von Sprachverwandtschaft auch disziplinär verbindungsstiftend und damit im disziplinären Sinne grenzüberschreitend ist, zeigt Gerhard Jäger, indem er Ähnlichkeiten zwischen Biologie und Linguistik aufzeigt. (etwa in Hinblick auf die taxonomische Klassifikationen) und damit offensichtlich ein produktives Feld des Dialogs im Blick hat. Was dies über die singuläre Betrachtung (auch praktisch) zu bedeuten vermag, kann an dieser Stelle jedoch nicht geklärt werden.
Neben der Sprache sind es zudem Normen und Werte, die unser Menschsein bestimmen. Damit ist die sie betreffende Grenzziehung ebenfalls ein im Sinne des Anliegens klug gewählter Ort. Zu einer nur bedingt innovativen Einschätzung gelangt Dieter Langewiesche allerdings, indem er die Begründung und Verschiebung von Normen untersucht. Ohne Normenbruch, so die Diagnose, keine Innovation und kein gesellschaftlicher Fortschritt. »Grenzüberschreitung durch Bruch kultureller Normen ist ein ständiger Prozess, der hilft, Änderungen zu ermöglichen und Gesellschaft vor der Erstarrung zu bewahren.« (182) Ein Bruch mit den Grenzziehungen der Einzeldisziplinen, gar eine begriffliche Grenzverschiebung vollzieht sich aber auch hier nicht.
Öffnet man den hier gebotenen Konnex dann noch einmal, gerät schnell der Begriff der Kultur ins Spiel. Mit ihm setzt sich in disziplinärer Meta-Hinsicht Niels Weidtmann auseinander, indem er einen weiteren gern gesehenen Begriff befragt: Den der Interkulturalität. Weidtmann unterstreicht, dass dessen Konzeption deshalb diskutabel sei, weil unklar ist, inwiefern sich Kulturen als Entitäten begreifen lassen. Was konstituiert also eine Kultur? Im Gegensatz zu Religionen hätten, so Weidtmann, Kulturen keine Grundlagen (einen Punkt, an dem es angesichts von Werten und Normen, oder auch so mancher Sprachtheorie hinreichend viele Anknüpfungspunkte gäbe). Für ihn verbindet Kultur allerdings »kulturelles Verhalten« (188). Kultur steht hier zwischen den sozialen Ordnungen. In der Abwägung zwischen Konzeptionen von Inter- vs. Transkulturalität kommt Weidtmann zu dem Schluss, ersterer gehe es, im Gegensatz zur Transdisziplinarität, nicht nur um die Durchmischung, sondern um die Möglichkeit zu kritisieren und zu lernen. Bezogen auf die Gesamtkonzeption des Bandes, gelingt es ihm allerdings vortrefflich, den Blick auf die Schwierigkeiten des aufgebotenen Arrangements selbst zu lenken.
Die theoretisierenden Überlegungen konfrontiert schließlich Klaus Antoni mit einer plastischen und sehr gelungenen Geschichte der Gegenwart, indem er vor dem Hintergrund des historischen Erziehungserlasses die nach »Fukushima« öffentlich werdende Beziehung zwischen »allgemeine Moral« und »Kaiserhaus« als Rekurs auf die Funktion des Kaisers als Quelle der Nationalmoral liest. Dabei gelangt er zu dem Schluss, der Mensch als Träger von Grenzzeichen könne selbst zu einem limitischen Symbol werden, das als Kristallisationspunkt einer Gruppenidentität fungiert (225).
All das Reden über Grenzziehungen mündet in Jürgen Wertheimer Überlegungen, wie mit diesen akademisch umzugehen sei. Er bilanziert, »Wahrnehmungsgeschichte im Zeitalter der Globalisierung« sei »angewandte Philosophie der Grenze, Grenzziehung und der Grenzüberschreitung.« (231). Damit fokussiert er also auf einer Metaebene den Umgang mit Grenzen. Wertheimer wünscht sich die Universität als einen Ort, an der die inter- oder transdisziplinäre Perspektive nicht als Feigenblattpolitik betrieben, sondern durch sie ein Freiraum geschaffen werde, Erkenntnismöglichkeiten zu gewinnen.
Das ist ein allzu berechtigtes Anliegen. Schließlich existieren diese Projekte zwar zu Hauf. Allein, schwierig wird es, wenn diese Zusammenführung zu einem Treffpunkt auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner wird. Dass unterschiedliche Disziplinen einen Beitrag zu gesellschaftlich drängenden Fragen – wie durch die Lebenswissenschaften aufgeworfen – zu leisten haben, scheint unbestreitbar. Hier allerdings gälte es, die Disziplinen ernst zu nehmen. Und im Sinne Wertheimers Forderung kann dies nur geschehen, wenn wir uns über Begriffe und ihre Bedeutungen für die jeweilige Disziplin verständigen. Wenn wir also Begriffsklärung betreiben. Dabei mit dem Begriff der Grenze zu beginnen, wäre auch für den Sammelband ein lohnendes Projekt gewesen.
Bibliografischer Nachweis:
Alfred Nordheim/Klaus Antoni (Hg.)
Grenzüberschreitungen. Der Mensch im Spannungsfeld von Biologie, Kultur und Technik
Bielefeld 2013
transcript Verlag
ISBN 978-3-8376-2260-7
248 Seiten
Julia Diekämper (Dr.phil.) ist Kulturwissenschaftlerin. Sie arbeitet als Lehrbeauftragte und Autorin.