Vertraute Sprache
Eine Popmusikzeitschrift, die sich an Oberschüler und (Ex-)Studenten richtet und nicht auf kurze Starporträts, Kaufhinweise sowie viele bunte Bilder beschränkt, sondern ausführliche Interviews, Artikel und Rezensionen mit kulturhistorischen und politischen Einordnungen sowie eigenwillige Autor-Betrachtungen bietet, ist seit den späten 1960er Jahren glücklicherweise nichts Besonderes mehr.
Verwunderlich wäre es im Gegenteil, wenn es nicht in jedem Land mindestens ein oder zwei solcher Zeitschriften gäbe. Das liegt einfach an der enormen Popularität der Rock- und Popmusik auch in diesen Kreisen. Selbst viele Gruppen und Musiker aus dem Bereich des sog. Independent-, Underground-, Trash-, Art-Rock/Techno etc. verfügen über Verkaufs- oder zumindest Rezipientenzahlen, die fast jeden vergleichbaren Schriftsteller, Jazzer, Dramatiker erblassen lassen.
Da nicht wenige der Popmusikhörer, die sich von einem gegebenen oder unterstellten Mainstreamgeschmack absetzen (wollen), sich auch – wenn auch meist in geringerem Maße – für Bücher, Theorien, politische Ansichten interessieren, liegt es nahe, die Musikberichterstattung damit zu verknüpfen. Die Marktnische (heute mehr denn je ist der Zeitschriftensektor ungemein diversifiziert) trifft sich aufs Glücklichste mit dem Äußerungsdrang der (oftmals jungen) Schreiber, die ihre Gedanken zu ihren Lieblingsbands und Gott/Welt nur zu gerne gedruckt sehen.
Die Zeitschrift »Spex«, mit ihrer für Popmusikmagazine beachtlich langen Geschichte, kann als guter Indikator herhalten, um den kommerziell einigermaßen akzeptablen Grad dieser Mischung (Berichte über relativ beliebte Gruppen/neue Trends – Gedanken über Gott/Welt) zu bestimmen. Der Unterschied von 13.000 zu 16.000 bis 18.000 Käufern ist wohl, wenn ich die Auflagenzahlen und Verlagsentscheidungen richtig deute, die passende Gradbestimmung. Blinkt erstere Zahl auf, wird die Chefredaktion ausgetauscht oder stehen andere tiefergehende Wechsel an, um die zweite Zahl, die soeben zur profitablen Weiterführung des Blattes (vielleicht auch nur zur schwarzen Null oder zum verschmerzbaren Verlust) beiträgt, zu erreichen.
Bislang hat das, sogar in Zeiten massiver, kostenloser Netzberichterstattung, immer geklappt, sicher auch, weil viele Leser mit dem Erreichen bestimmter Altersmarken (trau keinem über 30) sich keineswegs mehr an die Maxime halten, dass Popmusik ein Jugendphänomen darstellt und man sich mit dem Berufseintritt nicht länger für Neuerscheinungen interessiert, sondern bei den Heroen der späten Teenager- und frühen Twen-Jahre verweilt.
Gibt es über die Langlebigkeit hinaus einen weiteren Grund, weshalb »Spex« einen klangvollen Namen im Kulturbereich besitzt? Ich bin sicher, dass es nicht (nur) an der Güte vieler Autoren liegt. »Metal Hammer« oder »Jazz Podium« verfügen wahrscheinlich auch über eine Reihe vernünftiger Mitarbeiter. Der Grund ist woanders zu suchen. »Spex« steht für den Übergang von New Wave zu New Pop, steht für die neue Auffassung, dass nicht nur über progressive Rockmusik und alternative Lebensweisen, sondern auch über Disco und Pop, über Lifestyle und Mode in einer Art und Weise geschrieben und geurteilt werden kann, die politisch und/oder künstlerisch respektabel ist – eine Auffassung, die in beachtlichen Teilen der Bohemeszene, in der Kunstwelt, an der Universität jetzt verbreitet ist. Unter dem Label ›Avant-Pop‹ (mehr dazu hier), meine ich, kann man das gut fassen.
»Spex« hat diese Klassifikations- und Darstellungsweise natürlich nicht erfunden, aber lange genug ausgeprägt und durchgehalten, um mit ihr bekannt zu werden. Hätte in der BRD die Zeitschrift »Sounds«, der vom Verlag Ende 1982 größere Leserzahlen abverlangt wurden, den Wechsel von Alternativbewegung und ehrlicher oder ›unkommerzieller‹ Rockmusik zu New-Pop-Boheme und Avant-Pop-Feuilleton kommerziell überlebt, würden die (eher mit kulturellem als ökonomischem Kapital entrichteten) Ehren heute fraglos auf sie übergehen.
Wie stark durchgesetzt dieser neue, erweiterte Kanon mittlerweile ist, der in seinen höheren Rängen nicht nur Zappa, sondern auch Abba, nicht nur Marvin Gaye, sondern auch die Supremes, nicht nur Grateful Dead, sondern auch Madonna, nicht nur Animal Collective, sondern auch Justin Timberlake führt – auch und gerade dadurch manifestiert, dass solche Künstler lange, theoretisch oder literarisch ausgerichtete Artikel zugedacht bekommen –, sieht man unschwer an der Laufbahn und den Veröffentlichungsorten vieler maßgeblicher, langjähriger »Spex«-Mitarbeiter:
z.B. Lothar Gorris (»Spiegel«), Olaf Karnik (»NZZ«), Diedrich Diederichsen (Akademie der bildenden Künste Wien, freier Autor u.a. für »SZ«), Sebastian Zabel (»Rolling Stone«), Christoph Gurk (Theater Hebbel am Ufer), Detlef Diederichsen (Haus der Kulturen der Welt), Ralf Niemzcyk (»Musikexpress«), Kerstin und Sandra Grether (Suhrkamp), Dietmar Dath (»FAZ«), Dirk Scheuring (zwischenzeitlich Condé Nast), Tom Holert (Akademie der Künste der Welt), Anne Waak (»Welt«), Max Dax (Telekom), Jan Kedves (»Merkur«). Bei den gelegentlichen Schreibern ließen sich noch viele weitere Karrieren im Kunst-, Medien- und Akademiebereich nennen, von Christoph Biermann (»11 Freunde«) bis zu mir selbst (Professor auf Zeit für Neuere deutsche Literatur).
Im vorliegenden Sammelband kann man sich darüber teilweise informieren, wie die heute feuilletonistisch und staatlich-öffentlich-rechtlich taugliche Einordnungsweise des Avant-Pop ging und geht. Da das Buch nicht (wie lange Jahre »Spex«) im Eigenverlag und auch nicht subventioniert erscheint, misstraut es allerdings dem kulturpolitischen Erfolg von »Spex« und hält sich sehr weitgehend an die Berichte über/Interviews mit bekannten Musikern. Leute, die sich sowohl für die »Spex«- als auch für Kulturgeschichte interessieren, sind darum noch besser bedient, wenn sie sich über Ebay ältere Hefte kaufen (über das Internet sind einige alte Ausgaben bei Tape Attack einzusehen). Ob die Entscheidung der Herausgeber ökonomisch geboten war, weiß ich nicht, vielleicht interessieren sich Leser, die heutzutage dicke Bücher kaufen, nicht nur für »Spex«-Texte, über denen »Madonna«, »Beastie Boys« oder »New Order« steht.
Wie um den recht konventionellen Zuschnitt der Kompilation wieder wettzumachen, gibt das von Max Dax verfasste Vorwort zum Buch – auf einführende Hinweise zu den einzelnen Texten verzichten die Herausgeber – eine ganz andere Begründung der Auswahl: Die versammelten Autoren hätten »eine neue Sprache erfunden, […] die erste deutsche Sprache, in der über Musik zur Zeit geschrieben werden konnte.«
Bei allem Verständnis für die Begeisterung des Herausgebers über seine diskutable Auswahl, dies kann man nun wirklich nicht so stehen lassen. Abgesehen davon, dass die »Spex«-Autoren Englisch konnten und deshalb ihre Artikel zumeist nur ›Übersetzungen‹ von Nik Cohn bis Nick Kent, von Paul Morley bis Julie Burchill waren, unterschätzt die Rede von der neuen deutschen Pop-Sprache erheblich den Standard einiger Autoren deutschsprachiger Stadtzeitschriften, Filmzeitschriften, Musikmagazine, Feuilletonspalten der Jahre vor 1980. Der deutliche Geschmacksunterschied, die deutliche Differenz bei der Bewertung der politischen Bedeutung kommerzieller Popmusik und -mode ging beileibe nicht mit einem großen Abstand zwischen den Schreibweisen einher.
[Falls mich die Nostalgie überkommt – also wahrscheinlich in den Sommerferien –, werde ich mir hier einmal, unabhängig von einer vermutlichen Deutschliteraturinnovation, ältere »Spex«-Texte auf ihre (kultur-)politischen und ästhetischen (Kurz-)Schlüsse anschauen.]
Bibliografischer Nachweis:
Max Dax/Anne Waak (Hg.)
Spex. Das Buch. 33 1/3 Jahre Pop
o.O. 2013
Verlag Metrolit
ISBN-13: 978-3-8493-0033-3
480 Seiten