Erster Teil einer dreiteiligen Abhandlung zur Programmatik der Pop-Literatur
„Der von Ed Sanders geforderte ,totale Angriff auf die Kultur‘ kann nicht durch systemimmanente Kritik erfolgen, sondern durch Kritik von außen, d. h. von Kriminellen, Süchtigen und Farbigen. […] Das totale Negieren aller Werte der Gesellschaft ergibt einen Lebenswandel, für den Begriffe wie Ordnung, sozialer Aufstieg, Sauberkeit, Bildung überhaupt nicht existieren. […] Die massive Vergesellschaftung und das daraus resultierende Konformitätsverhalten wird mit einer extrem individualistischen Haltung beantwortet, die anti-Konsum und antizivilisatorisch ist.“
Mit diesen Worten beschreibt Ralf-Rainer Rygulla 1967 in dem Bändchen „Underground Poems“ den kultur- und gesellschaftskritischen Ausgangspunkt der US-amerikanischen Underground-/Beat-Literatur seit den 1950er Jahren, die für ihn eine „,in-offiziell[e] Literatur‘“ darstellt. Sie befindet sich auch im Gegensatz zur offiziellen deutschen Literatur der Zeit, die zwischen traditionellem Kunst- und Avantgardeanspruch changiert, ohne konkreten Bezug zur kulturellen und gesellschaftlichen Wirklichkeit. Der Hauptgrund hierfür ist das Festhalten am Kunstanspruch von Literatur. Für die Haltung der US-amerikanischen Underground-Szene, ebenso für Rygullas Blick auf die deutschen Zustände, steht das symbolische „Fuck you!“. (Der Titel der Anthologie „Fuck you! Underground Gedichte“ aus dem Jahr 1968 (Rygullas Erweiterung des 1967er-Bändchens) verweist auf das von Ed Sanders, Beat-Autor und Musiker (The Fugs), zwischen 1962-1965 editierte und 13 Ausgaben umfassende „FUCK YOU/A Magazine of the Arts“.[1])
Vergleichbar ist dieses „Fuck you!“ der Haltung der einleitenden Worte des Ich-Erzählers im 1934 erschienenen Roman „Wendekreis des Krebses“ von Henry Miller: „Dies ist kein Buch. Dies ist eine Schmähung, Verleumdung, Diffamierung eines Charakters. Dies ist kein Buch im gewöhnlichen Sinn des Wortes. Nein, dies ist eine fortwährende Beleidigung, ein Maulvoll Spucke ins Gesicht der Kunst, ein Fußtritt für Gott, Menschheit, Schicksal, Liebe, Schönheit . . . was man will. Ich werde für euch singen, vielleicht ein bisschen falsch, aber ich will singen. Ich will singen, während ihr verröchelt, will über eurem schmutzigen Leichnam tanzen . . . [Hervorhebung im Original – MSK].“
Die in Millers autobiographischem Tagebuchroman in Form und Inhalt radikale Kultur- und Gesellschaftskritik wird – u.a. durch eine nicht artifizielle, das unmittelbare Empfinden und Wahrnehmen zum Ausdruck bringende Sprache; die tabulose sowie exzessive Schilderung von Sexualität und Gewalt; die leidenschaftliche Darstellung des Lebens als Underdog; das Beschwören des Ideals von größtmöglicher individueller Freiheit; das Plädoyer für ein radikales Ausbrechen aus gesellschaftlichen und künstlerischen Zwängen bzw. Traditionen; oder das Hervorheben der Bedeutung fernöstlicher Philosophien – als Bezugspunkt für ein antibürgerliches Leben performativ in Szene gesetzt. Hiermit wird Miller zu einem der wichtigsten Vorbilder der von Rygulla dokumentierten US-amerikanischen Underground-Szene der 1950er und 1960er Jahre, zu einem, in der Inhalts- und Ausdrucksform, Underground-/Beat-Literaten avant la lettre.
Das gegen die herrschende Kultur gerichtete Schreiben von Henry Miller und der US-amerikanischen Underground-/Beat-Szene, liefert ein Beispiel für eine kleine, deterritorialisierte[2] Literatur, wie sie Deleuze/Guattari (1976) am Beispiel von Franz Kafka rekonstruiert haben. Ausgangspunkt sind Überlegungen von Kafka (1973: 129-134) zu einer kleinen Literatur, die er in seinen Tagebüchern notiert.
Bei allen Unterschieden im Detail sind es die im Folgenden herausgestellten Aspekte, die die anglo-amerikanische und deutsche Beat-/Underground-/Pop-Literatur[3] der 1950er und 1960er Jahre mit dem Konzept der kleinen Literatur verknüpft bzw. diese zu einer kleinen Literatur macht. Für die Neue Deutsche Popliteratur gilt das nicht mehr, bedingt aber für die popliterarischen Stilformen des Social Beat, der Trash Literatur, dem Slam Poetry und der Kanak Sprak.
Mit dem Dominantwerden der Gegenkultur als „Mainstream der Minderheiten“ (Holert/Terkessidis 1996) seit Mitte/Ende der 1960er Jahre einerseits und dem zunehmenden Minoritärwerden des Subversionsmythos Pop, seit den 1980er Jahren, verringern sich die Möglichkeiten von Pop-Literatur als einer kleinen Literatur signifikant.[4]
Beispiele in der Underground-/Beat-Literatur wären etwa die Umcodierung der offiziellen (gesellschaftlichen und literarischen) Arten, über Sexualität, Kultur oder Kunst legitim zu sprechen. Dieser alternative Gebrauch „bewirkt, dass sich jede individuelle Angelegenheit mit der Politik verknüpft“ (Deleuze/Guattari 1976: 25). In der gesellschafts- und kulturkritischen Haltung der Underground-/Beat-Literatur kommt diese Verknüpfung unmittelbar zum Ausdruck.
Kafka sucht, in der Rekonstruktion von Deleuze/Guattari, wie die Underground-/Beat-Autoren den nicht repräsentativen Sprachgebrauch einer Minderheit auf, um die Machtzentren zu entdecken, etwa das offizielle Literatursystem einer Zeit und dessen Kanon, die entscheiden, was sagbar ist und was nicht. Somit wird „das Unterdrückte in der Sprache dem Unterdrückenden in der Sprache entgegengestell[t]“ (ebd.: 38f.).[5]
Im Fall der Underground-/Beat-Literaten wäre dies das gesamte Arsenal gegenkultureller Lebens- und Ausdruckswelten. Dadurch wird den Minoritäten in der Gesellschaft und Kultur, die sie nicht repräsentiert und anerkennt, (temporäre und partielle) Sichtbarkeit verliehen – die sie ohne umfassende Medialisierung ihrer Lebenswelt nicht erlangen könnten.[6] Popkulturen, Populäre Kulturen und Populäre Medienkulturen zeichnen sich seit den 1950er Jahren – Medien übergreifend – immer durch diese Politik der (medialen) Sichtbarkeit bzw. des (medialen) Sichtbarmachens aus.[7]
Die US-amerikanische Underground-Literatur wird hierbei zur Gegenwartsdiagnose: „Die Voraussetzung […] für das ungebrochene Hereinnehmen von Material ist eine subtile Reflexion über die gesellschaftlichen Zustände“ (Rygulla 1980: 119).[8] Die literarische Gegenwartsdiagnose zielt zugleich auf Transformation und Transgression der (gesellschaftlichen, kulturellen, künstlerischen und individuellen) Gegenwart.
Zentral für Deleuze/Guattari (ebd.: 12) ist es darüber hinaus, dass kleine Literaturen eher protokollieren und berichten als interpretieren und einen bestimmten Sinn definieren: „Wir glauben […], dass Kafka Experimente protokolliert, dass er nur Erfahrungen berichtet, ohne sie zu deuten, ohne ihrer Bedeutung nachzugehen […] [Hervorhebungen im Original – MSK].“ In der Underground-/Beat-/Pop-Literatur wird bis zur Gegenwart demonstrativ und weniger diskursiv geschrieben.[9] Die literarische Arbeit an der Sprache zielt hierbei, wie Deleuze (2000: 9) verdeutlicht, prinzipiell auf ein Anders- bzw. Minoritär–werden der (großen) Sprache und damit der medialen Erschließungs-, Darstellungs- sowie Kommunikationsmöglichkeiten von Wirklichkeit:
„Der Schriftsteller erfindet […] innerhalb der Sprache eine neue Sprache, eine Fremdsprache gewissermaßen. Er fördert neue grammatikalische oder syntaktische Mächte zutage. Er reißt die Sprache aus ihren gewohnten Bahnen heraus und lässt sie delirieren. [Hervorhebungen im Original – MSK].“ Schreiben bedeutet somit konstitutiv Werden, ist prozessual, unfertig, immer im Entstehen begriffen und zum Leben hin geöffnet.[10]
Das Verständnis von Underground-Literatur als kleiner Literatur bringt auch Rygulla (1980: 118f.) deutlich zum Ausdruck: „Mit den überkommenen abstrakten, nur qualitätsbezogenen Kriterien kann man diese Arbeiten nicht gerecht werden. Der Abscheu vor dem intellektuell abgewichsten Akademismus der Literatur der ,Anderen‘, […] manifestiert sich in der groben Simplifikation seiner Bilder und in der bewussten Jugendlichkeit seiner Sprache.“
Um eine kleine Literatur auszubilden, muss die offizielle große Sprache dekontextualisiert und transformiert werden: „Die in den Texten verwendete Sprache ist immer die ihre.[11] Dadurch entsteht nicht die Alternative: einmal Sprache als Sprache und zum anderen Sprache als Kunstform. Dort, wo zuerst & zuletzt der Anspruch erhoben wird, Kunst zu machen, ist Literatur zum Vehikel der Anpassung geworden“ (ebd.: 119). Die unmittelbare, individuelle Sprache, die sich das Sprechen nicht vorgeben lässt und sich nicht um Literarizität als Maßstab für literarisches Schaffen diesseits des hochkulturellen Kanons bemüht, ist das Leitbild der Underground-/Beat-Literatur.[12]
Diese entgrenzte und eigensinnige Sprache, verbunden mit der Relativierung der Konzepte Autor bzw. Schriftsteller, korrespondiert mit der Intertextualität sowie Inter- und Transmedialität der Texte der Underground-/Beat-Literatur, die als Überschreiten von Gattungs- und Mediengrenzen sowie als eine daraus resultierende Subversion von festen gesellschaftlichen Ordnungen und Rollenmodellen beschrieben werden kann: „Ein bedeutendes Ausdrucksmittel hat sich die Underground-Bewegung mit dem Medium des Films geschaffen. […] Die berühmt gewordenen Streifen, wie Kenneth Angers Scorpio Rising, Jack Smiths Flaming Creatures und Andy Warhols The Chelsea Girls, haben vom Thema her eines gemeinsam: SEX, RAUSCHGIFTSUCHT & BRUTALITÄT. Die bestgehütesten Tabus der Gesellschaft werden hier zur natürlichen Lebensgewohnheit [Hervorhebungen im Original – MSK]“ (ebd.: 117).[13]
Intertextualität sowie Inter- und Transmedialität verbinden die Underground-/Beat-Literatur mit der Betonung der Kollektivität einer kleinen Literatur, die, gegenkulturell motiviert, zur populären Literatur wird: „Schließlich gewinnt in kleinen Literaturen […] alles kollektiven Wert. Gerade wegen ihres Mangels an großen Talenten fehlen ihr die Bedingungen für individuelle Aussagen, die ja stets Aussagen des einen oder anderen ,Meisters‘ wären und sich von der kollektiven Aussage trennen ließen. Somit erweist sich der relative Talentmangel durchaus als günstiger Umstand: Er gestattet, etwas anderes als eine Literatur der großen Meister zu konzipieren. […] [D]er Schreibende [besitzt] die Mittel[,] […] ein anderes Bewusstsein und eine andere Sensibilität zu schaffen […]. […] Die Literatur ist eine Angelegenheit des Volkes. […] Es gibt kein Subjekt, es gibt nur kollektive Aussageverkettungen – und die Literatur bringt diese Verkettungen zum Ausdruck, sofern sie sich nicht selbst veräußerlicht haben […]. […] Allein die Möglichkeit einer kleinen (nicht etablierten) Schreibweise auch innerhalb großer Sprachen, erlaubt eine Definition von populärer, marginaler usw. Literatur [Hervorhebungen im Original – MSK]“ (Deleuze/Guattari 1976: 25ff.).
Das Kollektive in der Underground-/Beat-/Pop-Literatur stellt das Arbeiten mit Verweisen und Zitaten dar. Diese werden nicht zu autoritären Diskurs-Aussagen geformt, sondern in immer wieder neuen Mixen und Samplen entindividualisiert sowie in jeder neuen Verwendung von der ursprünglichen Quelle deterritorialisiert. Dies stellt eine kollektive Handlungs-, Produktions- und Rezeptionsform dar, die keine definitiven Formen annimmt, konstitutiv offen ist. Vielmehr werden Intensitäten in Form von Wahrnehmungen und Sensibilitäten herausgebildet, wodurch eine kontinuierliche Sinnesschulung entsteht, keinesfalls aber eine souveräne Subjektivität, Werke großer Meister, Klassiker usw.
Das Subjekt des Schreibens ist ein DJ, der selbst durchdrungen ist von soziokultureller Kollektivität und somit keine exklusive Subjektposition für sich beanspruchen kann. Nicht „God is a DJ“, wie es im Songtitel von Faithless aus dem Jahr 1998 heißt, denn Gott wäre eine exklusive Subjektposition, sondern der Schreiber ist ein DJ und damit Teil eines offenen und sich kontinuierlich ausdifferenzierenden Kollektivs.
Das schafft kreativen Freiraum für das Ereignen von etwas sich im Werden Befindlichen, ohne dass es bereits eine spezifische Form, einen eigensinnigen Raum vorzeichnet. Insofern ist eine kleine Literatur, ebenso wie die Underground-/Beat-/Pop-Literatur, durch und durch heterotrop. Underground-/Beat-/Pop-Literatur als ein Massenphänomen, als literarischer Mainstream, schließt sich so per definitionem aus.
Diese kollektive Veräußerlichung stellt im Kontext der Underground-/Beat-/Pop-Literatur zudem die Bedeutung der Oberflächenästhetik für Popkulturen und Populäre Medienkulturen heraus. Tiefenhermeneutische Ansätze laufen dabei, genauso wie bei der Popkultur und Populären Medienkultur im Allgemeinen, ins Leere, weil ihnen hierfür die Referenzebene im Material fehlt.
Diese kurze Skizze von Underground-/Beat-/Pop-Literatur als kleiner Literatur stellt den Rahmen für die anschließende Darstellung einer Poetik der Pop-Literatur dar, die anhand poetischer Texte bzw. Äußerungen von William S. Burroughs, Leslie A. Fiedler und Rolf Dieter Brinkmann idealtypisch rekonstruiert wird.
Poetik
„[D]as Kunstwerk ist Produkt eines Geschäfts zwischen einem Schöpfer oder einer Klasse von Schöpfern – ausgestattet mit einem komplexen, gemeinschaftlichen Repertoire an Konventionen – und Institutionen und Praktiken der Gesellschaft.“ |Greenblatt 1991: 120|
Die poetischen Aussagen von Burroughs, Fiedler und Brinkmann sind zugleich explizit und implizit, beschreibend und vorschreibend, behauptend-deskriptiv und poetisch. Ihre Texte weisen eher den Charakter einer poetischen Programmatik bzw. von poetischen Manifesten auf, die sich in Richtung einer inter- und transmedialen Ästhetik der Pop-Literatur überschreiten, als dass durch sie eine eigensinnige Poetik der Pop-Literatur entworfen wird.
Das Verständnis von Poetik ist hierbei nicht mehr allein auf gedruckte Texte bezogen, sondern transformiert sich zu einer Poetik der Populären Medienkulturen. Allerdings löst sich die Spannung zwischen Text als Leitmedium und inter-/transmedialen Ausdrucksformen nicht auf, denn letztlich ist, entgegen aller poetischen Äußerungen, der Text das wesentliche Ausdrucksmedium von Burroughs, Fiedler und Brinkmann. Ihre Positionen stellen darüber hinaus auch keine Poetologie(n) der Pop-Literatur dar, also eine Erforschung von spezifischen Pop-Poetiken, und ebenso wenig eigensinnige Literaturtheorien.[14]
Bei den poetischen Programmatiken bzw. Manifesten von Burroughs, Fiedler und Brinkmann handelt es sich auch nicht um Beiträge zu einer Poetizität. Darunter versteht Jakobson das Eigensinnige der künstlerischen Sprache in Opposition zur Alltagssprache. Durch diese Differenz wird für Jakobson das literarische Kunstwerk zu einem autonomen sprachlichen (Zeichen-)Gebilde, das sich weder auf die Persönlichkeit des Autors reduzieren noch als Abbild der außersprachlichen Wirklichkeit missverstehen lässt.
Die pop-poetischen Äußerungen von Burroughs, Fiedler und Brinkmann stehen hingegen im engen Zusammenhang mit der durch den New Historicism entworfenen Kulturpoetik, die auf einer Analogie von Text und Kultur beruht – sich dabei aber nicht auf Underground-/Beat-/Pop-Literatur bezieht. Für den New Historicism stellt jeder Text ein dynamisches soziokulturelles und ästhetisches, synchron und diachron verlaufendes Interdependenzgeflecht dar.[15] Literatur wird als soziale Praxis verstanden, die sich in ihrer Kulturproduktion immer wieder von neuem herstellt, weil der New Historicism einen textualisierten Wirklichkeitsbegriff verwendet.[16]
Dieser Wirklichkeitsbezug verknüpft die Literatur mit dem materiellen Gesamtzusammenhang kultureller Selbstartikulation, in dem stets konkrete Machtinteressen wirksam sind, und löst den Literaturbegriff aus seiner ästhetischen Isolation. Die soziokulturelle Dimension von Texten wird im New Historicism durch den Fokus auf die Interaktionen von literarischen Texten mit anderen, auch nicht-literarischen Texten und kulturellen Praktiken demonstriert. Kanonisierte, hohe Literatur stellt somit nur einen Text neben anderen dar. Literatur repräsentiert aus der Perspektive des New Historicism nicht Wirklichkeit, sondern trägt vielmehr zur inter-/transmedialen Bestimmung, Transformation und Beeinflussung von Wirklichkeit bei.
Mit Blick auf den Zusammenhang von Text und Subjektivität (des Autors und Lesers) geht der New Historicism von einem dezentrierten, intertextuell vernetzten Individuum bzw. Einzeltext aus (Intertextualität) und von der Interdependenz aller sozialen und kulturellen Praktiken. Literarische Texte sollen aus der Perspektive des New Historicism, wie Kimmich (1996: 230) betont, den „Austausch zwischen Geschichte und ,Geschichten‘ […] deutlich“ machen.
Konstitutiv für den Bezug zwischen dem New Historicism und einer Poetik der Pop-Literatur, die Pop-Literatur als kleine Literatur auffasst, ist die Distanznahme zu abstrakten Theoriekonzepten bzw. aufwendigen Begriffsapparaten. Hingegen dominiert der Versuch, gerade die Vielfältigkeit bzw. Vielstimmigkeit von Texten zu betonen und zu beschreiben.[17] William S. Burroughs, Leslie Fiedler und Rolf Dieter Brinkmann stehen dafür ein.
[Diesen drei Autoren widmet sich der zweite Teil von „Zur Poetik der Pop-Literatur“]
[1] Vgl. zum Zusammenhang des Begriffs „Fuck“, dem „Dirty Speech Movement“ und der Studentenbewegung in Amerika in den 1960er Jahren u.a. Fiedler (1983: 22f.). Vgl. auch die „Fuck Ode“ von Michael McClure (1979: 84-89.). Vgl. auch die Sex-Gedichte in Rolf Dieter Brinkmanns (1980: 212) Gedichtband „Die Piloten (1968)“, wie z.B. „Liedchen“: „O | fick mich | fick mich | schnell | und er | fickte sie | fickte sie | schnell | hinter | einem Busch? | Es gab keinen | Busch. Schien | der Mond? | Es gab kein | Licht. Die | Birne war | kaputt“ (ebd.: 212). Aber auch die Texte, die in der Anthologie „ACID. Neue amerikanische Szene“ (Brinkmann/Rygulla 1983) enthalten sind.
[2] Deterritorialisierung bedeutet für Deleuze/Guattari (1997) die Auflösung fester Strukturen und Organisationsformen, einen Zugewinn an Möglichkeiten, ein unbestimmtes Werden. „Werden heißt“ für Deleuze (2000: 11), „nicht eine Form erlangen (Identifikation, Nachahmung, Mimesis), sondern die Zone einer Nachbarschaft, Ununterscheidbarkeit oder Nicht-Differenzierung finden […]“.
[3] Ich spreche hier und im Folgenden von Beat-Underground-/Pop-Literatur, weil für mich die Beat- und Underground-Literatur das erste Schreibverfahren der Pop-Literatur ist, wie ich sie in diesem Aufsatz skizziere.
[4] Auf die Bedeutung des Konzeptes der kleinen Literatur für die Pop-Literatur ist bisher kaum eingegangen worden. Anders verhält es sich hinsichtlich des Hervorhebens der Bedeutung dieses Konzeptes für die Literaturgeschichte, vgl. hierzu u.a. Hesper (1994).
[5] Gegenwärtig ist hierfür weniger die Literatur verantwortlich als vielmehr bildbestimmte Medien – zu denen ich auch das Internet zähle. Daran ändern auch, mit Blick auf Deutschland, aktuelle popkulturelle Literaturhypes, wie die um die beiden Berlin-Romane „Strobo“ von Airen (2010), der im Berliner Independent-Verlag „SuKuLTuR“ (www. http://www.satt.org/sukultur/index.html) erschien, und „Axolotl Roadkill“ von Helene Hegemann (2010), der im „Ullstein-Verlag“ erschien, nichts. Die beiden Autoren sind zudem digital natives, deren Schreiben zunächst primär, nicht ausschließlich, im Netz stattfand (vgl. zu digital natives u.a. Palfrey/Gasser 2008; Hugger 2009; sowie die Webside des Wortschöpfers Marc Prensky: http://www.marcprensky.com). Airen betreibt z.B. seit 2007 den Blog „airen.wordpress.com“ und Helene Hegemann, die auch zunächst bloggte, präsentiert sich u.a. ausführlich auf ihrer Myspace-Seite: http://www.myspace.com/lovelyskizze. Thematisch und formal präsentieren beide Romane nichts Neues, Anderes, Unerwartetes, dennoch wurden sie von der Literaturkritik schnell zu den neuen Generationsportraits stilisiert – natürlich mit dem erfolgversprechenden Logo „Made in Berlin“. Die Motivkreise Drogen, Sex/Sexualität/sexuelle Identität, Selbstzerstörung, Generationskonflikte, Partys, Entfremdung, Indifferenz, Apathie usw., beschrieben in einer (mehr oder weniger) exzessiven Sprache, gehörten schon spätestens seit der Beat- und Underground-Literatur zum Standardarsenal der Popliteratur – das Gleiche gilt für Musik, Film, Kunst. Die Plagiatsvorwürfe gegen Hegemann kann man so letztlich auch als Endstation Zitation bzw. Zitatenklau beschreiben, als literarisches DJing, auf den Thomas Bernhard (1988: 365f.) in seinem Theaterstück „Am Ziel“ aus dem Jahr 1981 verweisen lässt – wenngleich sie diese Kulturtechnik in ihrem Roman eher als Ich-bezogene und Ich-süchtige Identitätsausstaffierung einsetzte: „[E]s ist schon alles geschrieben / es gibt schon alles / Wir wiederholen was es schon gibt / auf unsere Weise / wir ziehen den Tatsachen unsere Jacke an / und gehen damit auf die Straße / so führen wir etwas Neues vor / Da diese merkwürdige Jacke sagen sie / da diese ausgefallene Hose / dabei sind wir nicht anders als die anderen / als alle immer gewesen sind.“ An anderer Stelle fasst Bernhard (1971: 22) diese Haltung pointiert zusammen: „Im Grunde ist alles, was gesagt wird, zitiert […].“
[6] Dieses Anliegen ist seit vielen Jahren etwa in Deutschland zum etablierten Fernsehalltag geworden: Ein Eckpfeiler der Fernsehformate und der Berichterstattung besteht in der Dauerinszenierung der Marginalisierten der Gesellschaft, gesellschaftlicher Abgründe, gesellschaftlichen Elends, kurz: von Leiden. Entgegen der Forderung von Jean-Luc Godard aus seinem Film-Essay „Histoire(s) du cinéma“ (2009 – filmedition Suhrkamp), dass das „Leiden kein Star“ ist, wird diese Formel im deutschen Fernsehen der Gegenwart umgekehrt. Das Erleben eines „Schauder des Realen“ (Baudrillard 2003: 31) bleibt hierbei zumeist durch Gewöhnung an diese Bilder aus – Baudrillard bezieht sich in dieser Passage zwar auf den Terrorismus, seine Überlegung lässt sich aber strukturell auch auf den vorliegenden Kontext übertragen: „Nicht die Gewalt des Realen ist zuerst da […]. Zunächst ist das Bild da, dem das Schaudern des Realen folgt.“ Die deutsche Fernsehwirklichkeit präsentiert sich in dieser Hinsicht als „,ästhetisch[e]’ Halluzination der Realität“ (1994a: 159) oder, um eine andere Überlegung von Baudrillard (1994b: 107ff.) zu verwenden, als „Katastrophen Kannibalismus“.
[7] Es stellt sich die Frage, mit Blick auf die Überlegung der vorausgehenden Fußnote, ob es im Feld (pop)kultureller Produktionen überhaupt noch die Möglichkeit gegenkultureller Politiken der Sichtbarkeit gibt bzw. geben kann.
[8] Die Gegenwartsfixierung der Underground-/Beat-Literatur bestimmt auch die Texte der Anthologie „Super Garde“: „Dies heute. Von morgen wissen wir nichts. Morgen wird vielleicht alles wieder mal auf den Kopf gestellt. Morgen werden wir vielleicht Pop poP nennen“ (Tsakiridis 1969: 10).
[9] Das steht nicht im Widerspruch zur Rede von Diskurs-Pop, denn das Dokumentieren und Samplen von Diskursen, wie im Fall von Thomas Meinecke, führt selbst keinen rationalen Diskurs.
[10] Entsprechend betont Deleuze (2000: 17): „[D]as Ziel der Literatur: das Eindringen des Lebens in die Sprache ist es, das die Ideen erzeugt.“
[11] „Wie viele Menschen leben heutzutage in einer Sprache, die nicht ihre eigene ist? Wie viele kennen die eigene Sprache gar nicht oder noch nicht, während sie die große Sprache, die sie gebrauchen müssen, nur unzulänglich beherrschen. […] Das Problem einer kleinen Literatur […]: Wie kann man der eigenen Sprache eine Literatur abzwingen, die fähig ist, die Sprache auszugraben und sie freizusetzen […]?“ (Deleuze/Guattari 1976: 28). Genau dieser Problemstellung wenden sich die Underground-/Beat-/Pop-Literatur der 1950er und 1960er sowie verschiedene Stilarten der Pop-Literatur bis zur Gegenwart zu.
[12] Diese Haltung wird auch im Vorwort der ersten Anthologie genuin deutschsprachiger Beat- und Pop-Literatur, „Super Garde“ aus dem Jahr 1969, vertreten: „Hier gibt es keine ,großen Schriftsteller‘ oder ,zweitrangige Literaten‘, sondern schreibende Individuen, die die Maßstäbe in sich tragen, die den Kultur-Wahrsagern keine Chance geben, sich in Schubladen zu ordnen und je nach Profit einzustufen“ (Tsakiridis 1969: 9f.).
[13] Im Vorwort der zweiten Beat-/Pop-Anthologie deutschsprachiger Autoren aus dem Jahr 1970, „Trivialmythen“, hebt die Herausgeberin eine konkurrierende Intermedialität hervor, ohne die Perspektive einer Transmedialität zu eröffnen, weil sie letztlich an einem engen Literaturbegriff festhält, also die Eigensinnigkeit von Underground-/Beat-/Pop-Literatur übersieht: „Die ,Bilder‘ des Konsums, mit denen Fernsehen, Film, Illustrierte, Zeitung, Mode, Sport oder Beatshow unser Gehirn füttern, zapfen der Literatur ständig Energie ab. Aber sie führen ihr gleichzeitig auch ständig neues poetisches Material zu“ (Matthaei 2004: 327).
[14] Insofern ist z.B. die Rede von Brinkmanns „poetologischen Überlegungen“ irreführend (vgl. Schäfer 2003b).
[15] Vgl. zur Kulturpoetik v.a. Greenblatt (u.a. 1980; 1991); vgl. auch Veeser/Veeser (1994); Glauser/Heitmann (1999); Gallagher/Greenblatt (2001); Baßler (2001, 2005).
[16] In der Soziologie spricht etwa Brown (1987) vergleichbar von der Gesellschaft als Text bzw. Netzwerk narrativer Texte, die von menschlichen Akteuren geschrieben wurden und umgekehrt das menschliche Handeln bestimmen. Dementsprechend werden auch die individuellen Akteure zugleich als sprachkompetente Textautoren und als Produkt vorgegebener sprachlicher Strukturen gefasst. Gesellschaft als Netzwerk narrativer Texte kann nicht wie die nicht sprachliche Wirklichkeit beobachtet, sondern muss gelesen werden.
[17] Hiermit korrespondiert auch das Selbstverständnis des New Historicism als einer, aus der Perspektive von Greenblatt (1991: 107), sich vollziehenden Tätigkeit: „Meiner Arbeit bin ich immer nachgegangen mit dem Gedanken, einfach zu tun, was zu tun war, ohne zunächst zu klären, aus welcher theoretischen Position heraus ich schreibe. […] Ich werde deshalb versuchen, den Neuen Historismus, wenn nicht zu definieren, so wenigstens aus der praktischen Arbeit zu erläutern – denn, soweit ich feststellen kann, ist der Neue Historismus eher eine Arbeitsweise und keine Schule.“
Literatur
Airen (2010), Strobo, Berlin.
Baßler, Moritz (2001), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Tübingen.
Baßler, Moritz (2005), Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie, München.
Baudrillard, Jean (1994a), „Die Simulation“, in: Wolfgang Welsch (Hrsg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Berlin, S. 153-162.
Baudrillard, Jean (1994b), Die Illusion des Endes oder Der Streik der Ereignisse, Berlin.
Baudrillard, Jean (2003), Der Geist des Terrorismus, Wien.
Bernhard, Thomas (1971), Gehen, Frankufrt/M.
Bernhard, Thomas (1988), Stücke 3: Vor dem Ruhestand / Über allen Gipfeln ist Ruh / Der Weltverbesserer / Am Ziel / Der Schein trügt, Frankfurt/M.
Brinkmann, Rolf Dieter (1980), Standphotos. Gedichte 1962-1970, Reinbek.
Brinkmann, Rolf Dieter (1983), „Der Film in Worten“, in: Ders./Ralf-Rainer Rygulla (Hrsg.), ACID. Neue amerikanische Szene, Reinbek, S. 381-399.
Brown, Richard Harvey (1987), Society as Text: Essays on Rhetoric, Reason, and Reality, Chicago.
Deleuze, Gilles (2000), Kritik und Klinik, Frankfurt/M.
Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1976), Kafka. Für eine kleine Literatur, Frankfurt/M.
Deleuze, Gilles/Guattari, Félix (1997), Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin.
Fiedler, Leslie A. (1983), „Die neuen Mutanten“, in: Rolf-Dieter Brinkmann/Ralf-Rainer Rygulla (Hrsg.) (1983), Acid. Neue amerikanische Szene, Reinbek, S. 16-31.
Gallagher, Catherine/Greenblatt, Stephen J. (2001), Practicing New Historicism, Chicago.
Glauser, Jürg/Heitmann, Annegret (Hrsg.) (1999), Verhandlungen mit dem New Historicism. Das Text-Kontext-Problem in der Literaturwissenschaft, Würzburg.
Greenblatt, Stephen (1980), Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen Renaissance, Berlin.
Greenblatt, Stephen (1991), „Grundzüge einer Poetik der Kultur“, in: Ders., Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern, Berlin, S. 107-122.
Hegemann, Helene (2010), Axolotl Roadkill, Berlin.
Hesper, Stefan (1994), Schreiben ohne Text. Die prozessuale Ästhetik von Gilles Deleuze und Félix Guattari, Opladen.
Holert, Tom/Terkessidis, Mark (Hrsg.) (1996), Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft, Berlin/Amsterdam.
Hugger, Kai-Uwe (Hrsg.) (2009), Digitale Jugendkulturen, Wiesbaden.
Kafka, Franz (1973), Tagebücher 1910-1923, Frankfurt/M.
Kimmich, Dorothee (1996), „Diskursanalyse und New Historicism. Einleitung“, in: Dies./Rolf Günther Renner/Bernd Stiegler (Hrsg.), Texte zur Literaturtheorie der Gegenwart, Stuttgart, S. 225-232.
McClure, Michael (1979), „Fuck Ode“, in: Ders., Hymns to St Geryon and Dark Brown, San Francisco, S. 84-89.
Palfrey, John/Gasser, Urs (2008), Generation Internet. Die Digital Natives: Wie sie leben – Was sie denken – Was sie sind, München.
Rygulla, Ralf-R. (1980): „Nachwort“, in: Ders. (Hg.), Fuck You (!). Underground-Gedichte [1968], Frankfurt am Main, S. 115-120.
Schäfer, Frank (2003), „Bloß weg hier!“, in: Jungle World, 5 (22. Januar 2003). URL: www.jungle-world.com/seiten/2003/04/153php [Link mittlerweile erloschen] (abgerufen am 24.05.2012).
Tsakiridis, Vagelis (Hrsg.) (1969), Super Garde. Prosa der Beat- und Pop-Generation, Düsseldorf.
Veeser, Harold/Veeser H. Aram (Hrsg.) (1994), The New Historicism, New York.