Thema unserer monatlichen Hinweise zu Artikeln, die im Netz frei verfügbar sind, dieses Mal: technischer Fortschritt und Arbeitszeitverkürzung.
Nach dem Fiasko der deregulierten Finanzökonomie und freien Marktordnung hat John Maynard Keynes als Verfechter staatlicher, makroökonomischer Steuerung und expansiver Ausgabenpolitik in Krisenzeiten wieder an Bedeutung gewonnen. Wenig bekannt ist hingegen sein Credo, dass technologischer Fortschritt im Verbund mit wirtschaftlichem Wachstum zuverlässig zu einer beträchtlichen Reduzierung der Arbeitszeit und des Wohlergehens aller führe. John Quiggin erinnert daran in einem Artikel in der Zeitschrift »Aeon«:
Keynes »argued that technological progress at a rate of two per cent per year would be sufficient to multiply our productive capacity nearly eightfold in the space of a century. Allowing for a doubling of output per person, that would be consistent with a reduction of working hours to 15 hours a week or even less.«
Quiggin weist darauf hin, dass solch eine Folge nur gegeben sei, wenn die Produktivitätssteigerungen sich nicht bloß in einer Erhöhung des Güterausstoßes und der Vermögenswerte in den westlichen Staaten manifestierten:
»Key elements of the social democratic agenda include a guaranteed minimum income, more generous parental leave, and expanded provision of health, education and other social services. The gradual implementation of this agenda would not bring us to the utopia envisaged by Keynes — among other things, those services would require the labour of teachers, doctors, nurses, and other workers. But it would produce a society in which even those who did not work, whether by choice or incapacity, could enjoy a decent, if modest, lifestyle, and where the benefits of technological progress were devoted to improving the quality of life rather than providing more material goods and services.« (»The Golden Age« [Link mittlerweile erloschen])
Im zweiten Teil seines Artikels (wiederum in »Aeon«) plädiert Quiggin im Rahmen seines sozialdemokratischen Fortschrittsprogramms deshalb u.a. für eine konsequente ökologische Umsteuerung. Interessant an seinen Berechnungen und Thesen ist nicht zuletzt, dass er auf eine kulturkritische Unterfütterung seiner Aussagen verzichtet. Das Internet-Shopping sieht er z.B. nicht nur als konsumistische Gefahr an, sondern als einen Beitrag, den individuellen Autoverkehr (hin zu den Einkaufszentren) beträchtlich zu verringern:
»With Internet shopping, a large number of individual shopping trips can be replaced by a single delivery run. Up to now, this has had only a limited impact on the way we organise life and work, but that ought to change over time. There’s every reason to think that we could reduce our mileage by half without any reduction in living standards. Indeed, avoiding such travel would constitute an additional benefit of a more leisurely society.« (»This World Is Enough« [Link mittlerweile erloschen])
Dass eine technologisch mögliche Reduzierung der Arbeitszeit bei gleichzeitiger Verbesserung des Lebensstandards im weltweiten Maßstab eine hochgradig politische Frage ist (und keinerlei technischem Determinismus unterliegt), kann man leicht ermessen, wenn man sich die Funktion der sogenannten Teilzeitarbeit in den gegenwärtigen westlichen Wirtschaftsordnungen anschaut. Hier ist die reduzierte Wochenarbeitszeit in vielen Fällen zuverlässiger Indikator für verschärfte Ausbeutung und ein Leben in Unsicherheit.
Erin Hatton beschreibt in der »New York Times« die US-amerikanischen Ursprünge der Teilzeitarbeit, die in der Gender-Ordnung der 1950er Jahre liegen. Um sich erfolgreich gewerkschaftlichen (männlichen) Widerständen zu entziehen, wird die Teilzeitarbeit als Hausfrauen-Nebenbeschäftigung deklariert und eingeführt, mit den »Kelly-Girls« als populärkulturell durchgesetzten Werbeikonen:
»The temp agencies’ Kelly Girl strategy was clever (and successful) because it exploited the era’s cultural ambivalence about white, middle-class women working outside the home. Instead of seeking to replace ›breadwinning‹ union jobs with low-wage temp work, temp agencies went the culturally safer route: selling temp work for housewives who were (allegedly) only working for pin money.«
Ende der 1960er Jahre wird das Kelly-Girl nach Auskunft Erins unverhohlen als »Never-Never Girl« angepriesen, »who, the company claimed: ›Never takes a vacation or holiday. Never asks for a raise. Never costs you a dime for slack time. (When the workload drops, you drop her.) Never has a cold, slipped disc or loose tooth. (Not on your time anyway!) Never costs you for unemployment taxes and Social Security payments.‹« (»The Rise of the Permanent Temp-Economy«) Eine triste Avantgarde…