Die Konsumkritik besitzt offenkundig weder Einfluss auf die Häufigkeit des Warenkonsums noch auf das Tempo des Verbrauchs. Die Wachstumsraten sprechen eine eindeutige Sprache. Nicht abwegig ist deshalb die Vermutung, dass es – abseits gestriger, wenn auch mächtiger Institutionen wie der christlichen Kirche – eine enorm wirkungsvolle, offensive Propaganda für den Konsumismus geben muss (gegen die sich dann kleine, machtlose Umweltschutzgruppierungen und andere versprengte Kräfte vergeblich zur Wehr setzen). Staat und Unternehmer sollten hier Hand in Hand arbeiten, um für die gemeinsame kapitalistische Sache einzutreten.
Dies ist aber auf der manifesten Ebene überhaupt nicht der Fall. Als Beispiel dafür soll das Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« dienen. Mit beinahe einer Million Käufern und ca. fünf Millionen Lesern gehört es zu den auflagen- und weitreichenstärksten Blättern Deutschlands. Seine Leserschaft rekrutiert sich aus den Mittel- und Oberschichten, zählt demnach zu den kaufkräftigsten Konsumentenkreisen. Für die Rendite des »Spiegel« selbst ist es wichtig, dass viele Anzeigen zu Produkten im Heft platziert werden; weil der »Der Spiegel« diese große, konsumfreudige Leserschaft versammelt, hat er beste Voraussetzungen für seine Werbekunden, große deutsche und internationale Firmen, geschaffen.
Dies sind beste Gründe dafür, dass der »Der Spiegel« dem Konsum auch in seinen Artikeln huldigt, schließlich hängt seine Existenz unmittelbar von ihm ab. Ein Blick ins Heft belehrt einen aber eines Besseren bzw. Kritischeren. Selbst in der Vorweihnachtszeit, dem Höhepunkt der Ausgaben privater Haushalte, nimmt die Redaktion keine Auszeit von der Konsumkritik. Nicht nur, dass keineswegs zum Konsum aufgerufen wird – im November und Dezember 2010 z.B. veröffentlichte man sogar eine ganze Reihe langer, wohlkomponierter Artikel wider den Konsum:
Am 8. November diagnostizierte und beklagte Peter Sloterdijk in guter konservativer, ordoliberaler Tradition die »Synergie von Sozialstaat und Sensationsindustrie«, bei ihm noch mit dem liberalen und republikanischen Zusatz versehen, dass solche Synergie nicht nur den Bürgerstolz, sondern auch die demokratische Öffentlichkeit gefährde (»Der verletzte Stolz. Über die Abschaffung der Bürger in Demokratien«, in: »Der Spiegel«, Nr. 45, 8.11.2010, S. 136-142, hier S. 138).
Zwei Wochen später druckte der »Spiegel« einen sehr langen Auszug aus der deutschen Übersetzung des französischen Traktats »Der kommende Aufstand« nach. Der Befund ist derselbe wie beim (ordo-)liberalen Sloterdijk: Angeklagt wird zugleich die »Lustgier der Rentnerhorden« und die Enteignung »unserer« Eigenheiten durch die Kultur- und Konsumgüterindustrie (Anonymus, »Der kommende Aufstand«, in: »Der Spiegel«, Nr. 47, 22.11.2010, S. 166-170, hier S. 168). Im Unterschied zu Sloterdijk ergeht die Anklage aus einer mittlerweile auch schon wieder gut vertrauten anarchistisch-situationistischen Perspektive; wie so oft bei Philosophen und Künstlern aus Bohemia kann man die linksradikalen Aufschwünge nicht immer von reaktionären oder gar faschistischen Standpunkten trennen.
Für die bildungsbeflisseneren unter seinen Lesern hatte der »Spiegel« somit innerhalb von 14 Tagen ein ausgewogenes Angebot konsumkritischer Einschätzungen bereitgestellt. Beide Artikel bedienen sich älterer kulturkritischer Gehalte und Formen, sie kontrastieren eine Gegenwart, die unter großer Betroffenheit in den düstersten Farben gemalt wird, mit historisch entlegenen Zuständen; beide Artikel präsentieren mit großem Pathos zugleich mögliche Agenten des Widerstands: die anarchistischen Situationisten wie üblich eine unorganisierte, plötzlich aufbegehrende, jugendliche Menge, der deutsche Ordoliberale setzt allen Ernstes auf ein Medienereignis des Jahres 2010, die sog. »Wutbürger« (inzwischen schon wieder längst vergessen).
Es ist deshalb kein Zufall, dass beide Artikel von externen Autoren stammen. Der Redaktion des »Spiegel« sind solche entschieden kulturkritischen, traditionellen Töne nur Beiwerk, interessantes Zitat. Das kann sogar so weit gehen, dass ein Feuilletonredakteur im »Spiegel« Ende November, kurz nach Abdruck der beiden langen Gesinnungsaufsätze, deren Thesen dem Spott preisgibt: »Aber ist die Moderne wirklich schuld, wenn der Rotwein korkt?«, lautet die abschließende rhetorische Frage (Georg Diez, »Traktate der schlechten Laune«, in: »Der Spiegel«, Nr. 48, 29.11.2010, S. 166-170, hier S. 160-163, hier S. 163). Zuvor sind die Schuld-Thesen allerdings wieder breit referiert worden, erwähnenswert sind sie also allemal.
Wie eine moderne Konsumkritik aussieht, bleibt aber noch offen, das muss die Redaktion des »Spiegel« folglich selbst leisten. Der Großversuch dazu wird weitere zwei Wochen später, am 13. Dezember, vorgelegt. Der Rahmen ist freilich traditionell, unter dem Titel »Weltreligion Shoppen« wird einmal mehr die These aufgestellt, an die Stelle des Glaubens sei der Materialismus getreten. Neuen Pepp soll das bekommen, indem Ergebnisse der neurologischen Forschung präsentiert werden, die bekanntlich mit allermodernsten Maschinen arbeitet. Der Umstand, dass in bestimmten Ländern mehr eingekauft und Werbung gesehen wird als vor einigen Jahrzehnten, soll durch den Hinweis, dass sich währenddessen im Hirn etwas abspielt, über den Status einer banalen Tatsache hinaus gelangen: »Immer tiefer dringt die Forschung zurzeit in die Konsumentenköpfe ein – und stellt dabei fest: Erfolgreiche Produkte befeuern die gleichen Hirnregionen, in denen auch die religiösen Gefühle zu Hause sind.« Mit der Hirnforschung soll natürlich ebenfalls belegt werden, dass die Konsumenten manipuliert würden, auch dies ein altbekannter Topos der Konsumkritik (Martin U. Müller/Thomas Tuma, »Weltreligion Shoppen«, in: »Der Spiegel«, Nr. 50, 13.12.2010, S. 56-65, hier S. 58).
Wieso das schlecht ist, weiß das Magazin aber überhaupt nicht mehr anzugeben. Darin liegt der Hauptunterschied zur älteren Konsumkritik, darin liegt ihre Aktualität. Gepflegt wird nur noch der Gestus des abgeklärten Durchblickens. Dies geht sogar so weit, dass auch im Konsumkritiker der Konsument entdeckt wird:
»Und wen angesichts all der Überfülle des Angebots flimmernde Leere überkommt, der konsumiert eben ein bisschen Konsumkritik, bestellt einen Hybrid-Toyota und beschenkt sich mit dem ›Solarmilchschäumer‹ für 29,90 Euro aus dem ›tazshop‹ oder im Manufactum-Laden mit etwas Beständigem. Einem Paar Dinkelacker Schnürschuhen aus Pferdeleder für 849 Euro zum Beispiel.« (Ebd., S. 56)
Es gibt nur eine Schranke des ›Durchblickens‹: Sie betrifft das eigene Produkt, hier also den »Spiegel«, er bleibt von der Diagnose ausgenommen, obwohl der konsumkritische Artikel selbst zum vergnüglichen, raschen Konsum angerichtet ist. Auch von der Betrachtung ausgenommen bleibt, dass der »Spiegel« mit seinen Werbeseiten und der Ausrichtung seines Kulturteils auf Besprechungen aktueller Kaufprodukte dem Konsumismus zuarbeitet und von ihm abhängig ist. Darum kann man wie vor zwei Wochen (Heft 49, 2012, S. 143) – dieses Jahr fällt die vorweihnachtliche Konsumkritik exklusiver aus – den »Kaufrausch« auf dem Markt moderner Kunst kritisch betrachten, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, die eigene penetrante Berichterstattung über die ›Stars‹ des Kunstmarkts zu reduzieren.
Diese Ignoranz und Heuchelei ist allerdings nicht die Regel unter den Konsumkritikern. Ihr Anliegen ist es vielmehr, mit der Konsumkritik die Kritik bestimmter Produkte voranzutreiben. Daraus erklärt sich auch die Wirkungslosigkeit der Konsumkritik sehr leicht (wie der »Spiegel« ja selbst am Beispiel der Pferdelederschuhe anklingen ließ). Verringert wird nicht der Konsum, verändert werden oftmals nicht einmal die Konsumweisen, konsumiert werden lediglich andere Dinge.