Postmodern
1.
Selten hat ein Buch über Pop für derart hohe Aufmerksamkeitsgewinne gesorgt wie Retromania von Simon Reynolds, das nun auch in der deutschen Übersetzung vorliegt.[1] Die darin formulierte These lautet kurz gefasst: Die Popmusik der Gegenwart ist von einem Vergangenheitsfuror infiziert, der jede Weiterentwicklung blockiert und sie letztlich in ihrer Existenz bedroht.
Wir können offenlassen, ob der Befund Realität greift, ob Pop zurzeit tatsächlich von einem krankhaft heraufgestimmten, sinn- und planlosen, immer schneller werdenden Zitieren und Referieren durchdrungen ist und auf eine „kulturell-ökologische Katastrophe“ zusteuert.[2] Die Frage nach der Realität retromanischer Formen ist die Frage danach, ob sie beobachtet werden, und genau das ist der Fall. Doch was steckt dahinter? An die Stelle eines fragwürdigen Auswertungsverfahrens setzen wir im Folgenden die Suche nach den Prämissen dieser Verallgemeinerung.[3] Welche Annahmen laufen unhinterfragt mit? Welche Mechanismen liegen ihr zugrunde?
2.
Die von mir unter der Bezeichnung Retrologie zusammengefassten Reflexionsformen konstatieren eine Zäsur, die man mit dem Begriff der Postmoderne zu bezeichnen pflegt.[4] Nach Kunst und Architektur ist damit auch Pop offiziell in der Nachgeschichte angekommen, sprich: was einst durch Tradition gebunden war, kann nun frei verwendet werden. Womit sich die Frage stellt, ob es frei verwendet werden darf, ob Pop-Formen für beliebige, kontextfreie Kombinationen zur Verfügung stehen dürfen.
Die Antwort lautet: Nein, dürfen sie nicht. Retrologie will die Mehrheit der unterschiedlichen Zugriffsmöglichkeiten auf Pop-Vergangenheit unterbinden. Zu diesem Zweck unterscheidet sie den guten – kritischen, reflexiven, in älterer Terminologie: ‚sentimentalischen‘ – Wiederaufgriff vom schlechten: unkritischen, naiven oder restaurativen. Jedes Zurück hat zu reflektieren, dass es aus einer anderen Zeitlage heraus beobachtet, und es muss diese Reflexion wiederum beobachtbar machen, sie also nicht nur vollziehen, sondern in neue Altformen übersetzen. Etwa indem man mit Burial die „verlorene Zukunft“ betrauert – jene Zukunft, die einem in den 90er Jahren vor allem die Dance Music verheißen hatte: Jungle, Garage, 2-Step – und eine alternative Geschichte der Verlierer schreibt.[5] Denn nur wenn man die Gegenwart mit Hilfe der Vergangenheit in Frage stellt, kann man die erhofften antimanischen Effekte erzielen, kann man die Wirkung der verschiedenen, die Retromanie fördernden Sozialtransmitter vermindern und dem Patienten „Wege aus dem Retro-Dilemma“ (Sawatzki) weisen.
Man könnte wiederum von den Retrologen fordern, dass ihre Forderung nach einer Geschichte der Verlierer reflexiv wird und das Infragestellen in Frage stellen: Warum soll Pop überhaupt etwas? Warum überlässt man ihn nicht einfach sich selbst?[6] Warum erinnern „an vergangene Möglichkeitsräume“, an das, „was beim Siegeszug der Popkultur am Pop selbst verloren gegangen ist“?[7] Das setzt nicht zuletzt voraus, dass man zwischen ‚Pop selbst‘ und ‚Popkultur‘ zu unterscheiden weiß. Um auch das Unpassende, den nostalgisch motivierten Wiederaufgriff diskriminieren zu können, postuliert man eine zeitlose, identitäre Kohärenz, ein Pop-Ideal, das die Konstanz der Wesensformen und Elemente garantiert. Alle Korrumpierungen lassen sich so auf einen nicht popnotwendig feststehenden Variationsspielraum beziehen.[8] Pop als feste Seinsfigur, die unveränderlich allem Wechsel zugrunde liegt, die selbst nicht verunreinigt, verschmutzt werden kann. Es geht ja lediglich um Kontaminationen bzw. Variationen auf Ereignisebene! Man kann sich auf Zukunftskonzepte, Verlierkonzepte zurückziehen, die Unerschütterlichkeit, das Festhalten am richtigen Pop empfehlen und aus der Geschichte lernen, denn an ‚Pop selbst‘ muss niemand zweifeln. Wahrer oder guter Retro-Pop wäre dann jener, der Pop zu seiner idealen Form, seiner Bestform verhilft.[9]
Problematisch ist die Gegenwartskultur als Vergangenheitskultur, wenn sie formal bestimmte Stilmittel der Vergangenheit nachvollzieht, ohne der Gegenwart gerecht zu werden – als ein Schwelgen im Damals, das vom Heute nichts wissen will. Retrologie ist bemüht, das zukunftsvolle, ‚positive‘ Element vom rückständigen, ‚negativen‘ zu sondern – die guten von den schlechten Zeiten. Allerdings ohne wiederum wie von Walter Benjamin gefordert dem „vorab ausgeschiedenen Teile von neuem eine Teilung zu applizieren, derart, daß, mit einer Verschiebung des Gesichtswinkels … auch in ihm von neuem ein Positives und ein anderes zu Tage tritt als das vorher bezeichnete“.[10] Der von Benjamin als unendlich gedachte Prozess wird nach dem ersten Schritt gestoppt, denn gerade die Unendlichkeit der Bezugnahmen ist es ja, die den Retrologen Sorgen bereitet. Ein Wechsel der Blickrichtung ist nicht vorgesehen.
3.
Die Diagnose vom manisch gewordenen Pop wird mit einer Kausalerklärung gekoppelt, die – aus einer Vielzahl möglicher Ursachen – das Internet bzw. die digitale Technologie als dominanten Faktor auswählt. Die enorm erweiterte Speicherfähigkeit des Popgedächtnisses sorge für ein archivarisches Delirium.[11] Das „endless digital now“ (Gibson), die durch das Netz gegebene gleichzeitige Verfügbarkeit zeitverschiedener Formen, der dadurch ermöglichte wahlfreie Zugriff auf den historischen Vorrat sei verantwortlich für die Loslösung von der Sequentialität und Periodizität der Geschichte.
Damit steht für die Historiker nicht weniger als die Existenz der eigenen Disziplin auf dem Spiel, was die Dramatik der Wortwahl – Retromanie als death knell usw. – erklärt. Denn wenn sich keine Reihenfolgen mehr herstellen lassen, fällt damit auch das Er-Zählen, die Engführung auf ein Nacheinander voneinander unterscheidbarer und aufeinander bezogener Momente aus.[12]
Nur hieß erzählen immer schon: dieses Nacheinander erzeugen. Wer erzählen will, muss einen Anfang bezeichnen, der ein bestimmtes Ende in Aussicht stellt.[13] Das geschieht, indem man Ursachen und Wirkungen identifiziert, wobei als Ursachen in der Regel einzelne Mitteilungshandlungen bzw. Mitteilungshandelnde dienen. Sie ermöglichen Sequenzialisierung und machen so das eigentlich Nicht-Erzählbare erzählbar: Erst Elvis, dann die Beatles. Erst die Beatles, dann die Stones.
Genau diese Erzählung sei heute nicht mehr möglich, so Reynolds, da Pop keine „immanente Entwicklungslogik“ mehr aufweise. Im atemlosen, blinden Spiel des 21st Century Pop lassen sich Ursachen zuletzt nicht mehr von Wirkungen unterscheiden, die Einzelmomente nicht mehr aufeinander beziehen. Kaum beginnt ein Profil, wird es schon wieder in der Kreisbewegung verwirbelt, deren Tempo stetig zuzunehmen scheint: ein Sound, ein Stil, ein Star vorbeigesendet … Die Räder der Maschine stehen also keineswegs still, Pop geht hin und eilt sich, aber er kreist und dreht sich nur noch. Die Buntheit, die Rasanz und die Fülle der Phänomene verhüllen nur eine grundsätzliche Starrheit: dass die Bewegung nicht nach vorwärts geht.[14]
Aber warum geht es nicht nach vorwärts – weil die Musiker, die auf die alten Schätze zugreifen, nicht am Wogegen einstiger Innovationen, an Entstehungskontexten, historischen Motiven usw. interessiert sind? Weil die Vielfalt dessen, was Popmusik hervorgebracht hat, von den meisten Produzenten wie Hörern nur noch als Verschiedenheit betrachtet und dadurch nivelliert wird?[15] Genau das ist ja im genauen Sinne postmodern: das sinnlos gewordene Insistieren auf Neuheit des Einzelwerks weicht der Freiheit im Kombinieren alter Formen, die durch Identifikation aus ihren Kontexten herausgezogen, für sich als wiederholenswert konfirmiert werden – und in welcher Form das geschieht, ist beliebig.[16] Von daher ist die Frage, inwiefern von hier aus historisch der nächste Schritt möglich ist, mehr als legitim. Doch das Postulat einer ‚immanenten Entwicklungstendenz‘ arbeitet mit Kausalitätsunterstellungen, die der Komplexität der popinternen Prozesse kaum gerecht werden.[17]
4.
Offenbar hat man Pop lange Zeit gleichzeitig über- und unterschätzt.[18] Überschätzt hat man sein politisches Potential und seine innovativen Fähigkeiten; unterschätzt hat man die evolutionäre Dynamik, das Tempo, in dem sich die Veränderungen als eigengesetzliches, autonomes Geschehen vollziehen.
Denn Pop ist nicht „immer auch mal“ (Müller) zirkulär. Er weist grundsätzlich eine zirkuläre – rekursive – Struktur auf. Die Geschichte der Popmusik kann deshalb nicht als bloße Kausalkette gedacht werden. Auch das Internet ist lediglich ein Moment, das von Pop aufgegriffen und benutzt wird. Seine Eigendynamik folgt nur einer Logik, jener der Evolution – und die ist nicht zielgerichtet.
Dass das Tempo, in dem Pop auf sich selbst reagiert, zugenommen hat, ist offensichtlich – ein Phänomen, das auf rudimentäre Weise auch in den Songs selbst reflektiert wird und das sich direkt auf die Ausdifferenzierung des Systems Mitte der 50er Jahre zurückführen lässt. Dabei legen die als Retro beobachteten Formen den Akzent zwar auf die Wiederholung alter Formbestände. Aber selbst die bloße Wiedervorlage – wozu im strengen Sinne nur Re-issues zählen – legt ja nicht dasselbe vor, weil das Wiedervorlegen an einer anderen Zeitstelle geschieht und die Neu-Auflage derart notwendig und automatisch mit Sinn anreichert. Selbst in den „zitatseligsten Auswüchsen von Retrobewegungen“ (Dath) wird deshalb Gegenwart kommuniziert.[19] Auch der vermeintliche Stillstand muss ja in der Zeit stabilisiert werden, auch Stagnation ist Reproduktion, auch sie vollzieht sich als abweichende. Reproduktion kann nicht als bloße Replikation gedacht werden, als Kreisbewegung, Endlosschleife. Es reicht nicht, dass ein Song immer weiter wiederholt wird.[20] Auch wenn nicht die Informationskomponente der ausschlaggebende Faktor ist, Popmusik setzt nicht zwingend Überraschung voraus. Doch irgendwann ist auch mit der heavy rotation des erfolgreichsten Titels oder Programms aller Zeiten Schluss. Dann muss etwas anderes, Neues angeschlossen werden.
Dabei läuft alle Reproduktion im Pop zunächst auf die Reproduktion einer – und nur einer – Differenz hinaus, der Differenz von Wirklichkeit und Möglichkeit, Aktualität und Possibilität. Hier das aktual Gegebene, dort der Horizont weiterer Möglichkeiten, das, was man auch noch aktualisieren könnte. Die Einheit dieser Differenz nennen wir: Sinn.[21] Der Sinn des Sinns ist es, alles, was im Pop geschieht, vor einem Horizont anderer Möglichkeiten erscheinen zu lassen. Diese Differenz von jeweils aktualisiertem Sinn und Möglichkeitshorizont wirkt wie ein Katalysator, der immer neue Differenzen anregt, und sei es Fragen wie: Warum hat die Dance Music ihre großspurigen Versprechen nicht eingelöst? Warum haben sich die Hoffnungen in die Pop-Zukunft nicht erfüllt? Doch alles erfolgt selektiv, auch das Nichtberücksichtigte, Nichtrealisierte wird ständig mitreproduziert. Weshalb wir mit Reynolds sagen können: The future is still out there.[22] Nur dass es sich um keine Glaubensfrage handelt. Natürlich hat sich die Zukunft nicht erledigt, nur weil es anders gekommen ist, als Reynolds et al. gehofft hatten. Auch zukunftsbegeisterter Pop ist als potenzialisierte Möglichkeit nach wie vor vorhanden. Evolution bedeutet, dass aus einem permanent produzierten Überschuss an Möglichkeiten das ausgewählt wird, was sich eignet. Und was eignet sich? Das, was zur Reproduktion beiträgt, im Falle von Pop: das, was die Funktion der Reflexionsblockade bedient.[23] Retroreflexive Formen sind dazu per definitionem nur bedingt in der Lage.
Überschussproduktion und Repression gehen also Hand in Hand. Ein Beobachter wie Reynolds kann dann zwar darauf verweisen, dass etwas nicht hätte geschehen müssen. Doch ganz gleich, was im Pop geschieht, es weist stets über das gerade Aktualisierte hinaus. Durch eine Band wie Kitty, Daisy & Lewis werden automatisch andere Bandmöglichkeiten mitreproduziert, andere Möglichkeiten der Interpretation, des Looks usw. Man kann einen bestimmten Song bejahen oder verneinen, kann an einen Sound anschließen oder eben: genau nicht. Die Pop-Praxis hinterlässt Spuren (im buchstäblichen Sinne: tracks), reaktivierbare Möglichkeiten. Pop kann sich so verfeinern, diversifizieren – immer abhängig von dem, was vorher war, denn das Vorher ist es ja, das Differenzen etabliert, die dann als Fundament nachfolgender Differenzen dienen. Deshalb ist jeder Pop-Song immer beides: Wiederholung und Neuheit zugleich.
Intentionen spielen in diesem Prozess nur am Rande eine Rolle.[24] Das System reproduziert sich einfach so, zwangsläufig, gedankenlos, denn Pop ist nicht identisch mit den Pop-Akteuren, mit Kitty, Daisy & Lewis, den Cool Kids oder Simon Reynolds. Es geht nicht um die Absichten der Akteure („Ich wollte an vergangene Möglichkeitenräume erinnern!“), sondern um den Erhalt einer Grenze. Trotz laufender Selektion bleibt diese Grenze, bleibt die sinnkonstituierende Differenz von Aktualität und Possibilität bestehen.
5.
Zur Mitproduktion abweichender Möglichkeiten kommt es dann, wenn der Unterschied von aktuell/potenziell in unterschiedliche Sinndimensionen eingebaut, die Differenz von aktualem Sinn und Sinnhorizont unterschiedlich bearbeitet werden kann. Innerhalb der Sinndimension geht es um die Differenzierung von Innen- und Außenhorizont, innerhalb der Sozialdimension um die Differenz von Ego/Alter, innerhalb der Zeitdimension um die Trennung von früher und heute. Diese Gegenwart verfügt wiederum über eigene Zukunfts- und Vergangenheitshorizonte, in denen sich wiederum zukünftige oder vergangene Gegenwarten mit entsprechenden Zukunfts- und Vergangenheitshorizonten zeigen.[25] Sprich: Zukunft gibt es immer nur in der Gegenwart, genau wie die Vergangenheit, weshalb sich beide ständig ändern.[26] Die als Überforderung erfahrene Komplexität dieser Temporalitäten verführt dann dazu, sie allzu simplistisch zu reduzieren, etwa durch den Rückgriff auf Werte: hier gute Popmusik, die die Gegenwart in Frage stellt, dort schlechte, die sie bejaht.[27] Vor allem aber macht diese durch ‚3-D‘ mögliche Strukturbildung Enttäuschungen wahrscheinlich, weil sie Erwartungen erzeugt. Man lässt sich von Pop nicht mehr einfach überraschen. Man unterstellt der Vergangenheit eine ganz bestimmte Zukunft – um enttäuscht zu sein, wenn sich diese Zukunft, die einem in den 90er Jahren Drum & Bass versprochen hatte, nicht einstellt. Erwartungen fungieren wie Testinstrumente, mit McLuhan: wie Sonden. Niemand weiß, was passieren wird, aber nur wer utopischen Pop erwartet, kann am Ende enttäuscht sein, wenn er sich als nostalgisch erweist. Dabei gibt es genau zwei Möglichkeiten, mit Erwartungen umzugehen, wenn sie enttäuscht werden. Entweder man erkennt die Erwartungsenttäuschung an und korrigiert sich: „Sollte zwar sein, aber hat nicht sollen sein. Pop ist kein Ponyhof und kein Wunschkonzert.“ Oder aber man hält kontrafaktisch, normativ an seinen Erwartungen fest: „Pop hat uns zwar schon wieder enttäuscht, aber davon lassen wir uns nicht beeindrucken. Wir halten fest am Glauben an die angemessene Vergegenwärtigung von Vergangenheit.“
Retrologie reagiert normativ. Sie setzt Bedingungen für eine unbekannte Richtung der Evolution, die ja gerade wahrnehmbar wird in Differenz zu dem, was „progressive Projektionen“ (Luhmann) verheißen hatten. Der massiv erweiterte Raum kombinatorischer Möglichkeiten wird mit einem Mal bestimmbar. Anything goes? Eben nicht: Pop darf nicht alles, was er kann. Was er selbst längst realisiert hat, das – in den Augen der Retrologen: verantwortungslose, manische – Experimentieren mit Polykontexturalität und Multistilistik, wird auf der Ebene der Selbstbeschreibung zurückgewiesen. Das Resultat ist eine Kluft zwischen Anpruchsniveau und Realität.[28]
Doch in dieser Realität ist alles in jedem Moment mitgegeben, auch wenn gerade etwas anderes gegeben ist. Pop ist immer mehr, als er gerade ist. Das Nichtreproduzierte reproduziert ihn mit, das Nichtverwirklichte ist Teil seiner Wirklichkeit. Es ist dieser Überschuss des Nichtverwirklichten, der als Bedingung der Möglichkeit evolutionärer Komplexität fungiert. Das, was als Wirklichkeit gesetzt ist, schränkt diese Möglichkeiten schon auf der operativen Ebene ein. Pop kann gar nicht alle Möglichkeiten realisieren, zumindest nicht gleichzeitig.[29] Auch wenn alles im endlosen digitalen Jetzt jederzeit verfügbar ist, so kann in diesem Jetzt doch nicht alles gleichzeitig aktualisiert werden. Der Zugriff ist notwendig ein selektiver. Es gäbe weder Pop noch ein Retro-Phänomen, verhielte es sich anders. Wobei die Bedingungen für Mögliches und Unmögliches von ‚Pop selbst’ festgelegt werden, keinem sonst. Und da er zuletzt nichts anderes ist als ein System anschlussfähiger Kommunikationen, muss sich die mit dem Computer und dem Internet verbundene Änderung in den Kommunikationsmitteln notwendig auf die eigenen Strukturen auswirken.[30]
In diesem Sinne ließe sich Retro als Versuch begreifen, im Pop neue Formen des Umgangs mit den durch Computer bzw. Internet bewirkten Irritationen zu entwickeln.[31] Denn wie kommt man in einer solchen Situation zu neuen, dem Medium angemessenen Formen? Indem man auf die Nichtverwirklichungen, auf das durch Nichtverwirklichung Potenzialisierte zurückgreift. Das gilt natürlich auch für bereits verwirklichte und mittlerweile verabschiedete Programme.[32] Wobei längst nicht alles, was re-aktualisiert wird, sich auch bewährt. Der Sixties-Soul einer Amy Winehouse oder der Pop-Swing eines Robbie Williams haben sich als überaus anschlussfähig erwiesen.[33] Offenbar lässt sich mit vielen alten Formen etwas anfangen. Und weil es sie schon gibt, muss man sie nur erneut zum Leben erwecken (‚Manier‘). Nicht nur im Hinblick auf den Wiedergewinn alten Könnens an Hand bestimmter Formatvorlagen, sondern auch im Hinblick auf andere Möglichkeiten, denn die durch diese Re-Aktualisierungen mitreproduzierten Sinnüberschüsse können anschließend für die Einfügung neuer Formen genutzt werden: für weniger perfekten, zukünftigen, retroreflexiven oder feministischen Pop. Das Nachahmen selbst sorgt somit dafür, dass es weitergeht.
Popmusik kann im Nostalgie-Modus oder im Utopie-Modus operieren, sie kann reflexiv oder gedankenlos operieren, kann die Gegenwart in Frage stellen oder als Antwort begreifen. Sie kann sich also dank des Verweisungsüberschusses so oder anders konditionieren lassen. Zuletzt muss sie nur eines tun: selektiv verfahren.[34]
6.
Mit dem Auftreten von Computer und Internet verändert sich auch die Rolle der Kritik. Das bisherige, zeitlich gestaffelte Auswahlverfahren der Popgeschichte profitierte nicht nur von der Strenge der Kriterien, sondern auch von deren Andersartigkeit. Gerade das, was die Mitwelt oft übersah, was es nicht zum Hit schaffte, sondern floppte, wurde dann der Nachwelt anempfohlen: Die Monks! Alex Chilton! Gang Gang Dance! Nun haben nicht mehr die Experten, sondern die Hörer selbst das (vorerst) letzte Wort. Ist Retrologie also zuletzt nicht mehr als die Abwehrhandlung einer Schicht von Pop-Historikern, die befürchten, sozial funktionslos zu werden?[35]
Auch für eine These stellt sich die Frage nach ihrem Erfolg. Die Selektion ‚Pop ist retromanisch‘ hat sich bewährt, nicht zuletzt dank der freundlichen Unterstützung durch die Massenmedien. Das könnte damit zu tun haben, dass uns Retrologie eine Beobachterposition zur Verfügung stellt, von der aus wir die zersplitterte Pop-Landschaft – ein allerletztes Mal? – auf einen Blick erfassen und bestimmen können. Pop wird mit einem Narrativ ausgestattet, das vorgibt, keines zu sein, und das es erlaubt, den nicht mehr erzählbaren Zusammenhang wieder erzählbar zu machen. Die Funktion dieser Erzählung ist die Integration. Die unübersichtliche Vielfalt des gegenwärtigen Pop-Geschehens lässt sich so erneut zur Einheit zusammenschließen – im Blick auf die Disparatheit dessen, womit Popstars, Fans und Experten heute konfrontiert werden.[36]
Damit erweist sich Retrologie selbst als Symptom. Mit ihrer Hilfe soll semantisch gerettet werden, was sozialstrukturell längst unmöglich geworden ist.[37] Das erklärt die trotzige Trauer, die über der Einsicht in den postmodernen Charakter der Popmusik liegt – eine Trauer, „die wenigstens stimmungsmäßig noch festhält, was man verloren weiß“[38] – und diese Trauer auch von der Musik selbst verlangt. Dieser Zukunftskonservativismus ist der blinde Fleck der Retrologie oder ihr Apriori.[39] Denn dass sie im Nostalgie-Modus operieren und sich am Vergangenen laben, wenn sie den Zukunftswillen von Jungle und 2-step verklären, ist den Retrologen offenbar nicht bewusst. Man insistiert auf Einlösung bestimmter Hoffnungen, als progressiv erscheint absurderweise nun das Konservieren einstiger Ansprüche. Die Retrorede muss diese Grundlagen latent halten, soll das Gerede fortgesetzt, der Zwiespalt zwischen Vergangenheit und Gegenwart weiterhin als Konflikt erfahren werden.
Wie aber ist die historische Neu-Periodisierung und Selbstcharakterisierung von Pop angesichts der Komplexität des Gegenstands möglich? Nur, indem man das Neue selbst zum Maßstab nimmt. Retrologie ist von Neuheitserwartungen geprägt, der Fortschrittsgedanke ist ihr Leitmotiv. Sie geht von der Prämisse aus, dass das Neue besser ist als das Alte.[40] Pop soll sich in Richtung auf bessere Zustände bewegen, er wäre perfektibel, verbesserbar. Jedes Zurück muss als ein Vorwärts begriffen werden können, indem die zeitliche Differenz zwischen Altem und Neuem explizit wird, wenn Geschichte und Zeitgenossenschaft zusammenfallen (‚Anverwandlung‘). Man nimmt das Programm einer Phuture Music für bare Münze, als sei es Jungle und 2-step tatsächlich um ein Morgen gegangen – und nicht darum, das einstige Heute mit adäquaten Klängen und Themen auszustatten.[41] Ohne es zu bemerken, desavouiert Retrologie damit die gesamte vorliegende Popmusik. Sie lässt sich nicht nach neu/alt codieren – und auch als Programmformel hilft Neuheit kaum weiter: Nicht alles, was neu ist, ist auch Pop.
Dabei ist die Forderung nach Neuheit alles andere als neu. Spätestens seit Mitte der 60er Jahre – nicht umsonst setzt Reynolds hier die ersten Retro-Phänomene an – muss auch Popmusik zeitorientiert hergestellt werden, als neue Popmusik. Seitdem ist auch hier die Forderung: Neu muss es sein. Anders![42] Selbst das Cover, also die Kopie eines Songs, muss sich nun deutlich unterscheiden und gegenüber dem Original durch Originalität auszeichnen.[43] Der dadurch eingetretene „Formverbrauchseffekt“ (Luhmann) macht sich mittlerweile bemerkbar. Man hatte sich strukturell auf Neuheit eingestellt – auf mehr Neuheiten, als realistisch gesehen vorkommen konnten. Heute muss auch Pop Grenzen des Wachstums in Rechnung stellen.[44] In diesem Sinne lässt sich die Zunahme der Retro-Phänomene durchaus als eine Art Sättigungseffekt begreifen. Aber nur für die Retrologen wird Zukunft deshalb zum Problem. Denn wenn nur Neues Geschichte machen kann, aber das Neue ausbleibt, dann bleibt folglich auch Geschichte aus. Aber kann wirklich nur Neues Geschichte machen? Wenn die Geschichte der Popmusik tatsächlich beendet ist, dann hat sie vermutlich gerade die ständige Forderung nach Neuheit beendet.[45]
7.
Systemtheorie kann und will keine Theorie sein, die eine bestimmte Entwicklung kausal erklärt. Aber sie kann den Historikern ein theoretisches Schema für ihre Untersuchungen zur Verfügung stellen, das dann möglicherweise zur Einschränkung bestimmter kausal relevanter Ursachen führt.[46] Die Analyse sollte dabei von spezifischen Situationen ausgehen, denn dieses Schema – Variation-Selektion-Restabilisierung – ist zirkulär gebaut. Wenn wir das Spätere durch das Frühere erklären wollen, müssen wir also anhand einer konkreten historischen Situation herausarbeiten, wie es verwendet wurde. Wo finden sich markante Diskontinuitäten? Gibt es ein Ereignis, das als Zäsur begriffen werden kann und das es möglich macht, die Ausbildung neuer Strukturen theoretisch zu spezifizieren?
Tatsächlich lässt sich zu Beginn der 70er Jahre eine solche einschneidende Zäsur im Sinne einer Vorher-Nachher-Differenz beobachten.[47] Es ist dieser Zeitpunkt, den Pop als Gelegenheit zur Strukturänderung nutzt – und zwar mit Hilfe jener als ‚Retro‘ markierten Rückwärtsbewegung.
Pop-Geschichte war lange Zeit eine Geschichte der Erwartungen, die weit über die neuer, aufregender musikalischer Formen hinausging. Darin gleicht sie erstaunlicherweise der Geschichte des Christentums, aber anders als die Christen rechneten die Pop-Jünger nicht mit dem Weltende, der Letztzeit, sondern mit dem Anbruch der Jetztzeit: „keinen Krieg mehr, und alle Menschen lieben sich“.[48] Bis man Anfang der 70er Jahre alle Hoffnung fahren ließ: „Zum Verzweifeln. Ultimative Permissivität. Willy Brandt, Lebensqualität bis an den Hals. Und trotzdem immer noch die ganze restriktive, kapitalistische Scheiße, der weniger denn je beizukommen war … “[49]
Popmusik hatte sich selbst überboten, hatte dieses Sich-Selbst-Überbieten wiederum reflektiert und in die Songs mit eingebaut. Mit all dem stiegen auch die Ansprüche an die Hörer, in der Pop-Produktion selbst begünstigte es die Entwicklung neuer Arten des Könnens (Polyrhythmik, Konzeptalben, Einbindung von Klassik und Jazz usw.). Doch zur klassenlosen Gesellschaft hatte er nicht geführt, nicht einmal die Rassismen und den Phallogozentrismus konnte er beenden. Seine politischen Potenzen hatten sich erschöpft bzw. wurden eingebunden oder neutralisiert, was man mit Marcuses Begriff der „repressiven Toleranz“ zu erklären versuchte.[50] Die Rolling Stones übersetzten die enttäuschten Erwartungen in einen Song: You Can’t Always Get What You Want.[51] Rock’n’Roll konnte man zwar immer noch bekommen, mehr denn je sogar. Die Erkenntnis, die so wehtat: es war nur Rock’n’Roll. Doch exakt dieser Rock’n’Roll – im Sinne eines spezifischen Programms und nicht als Synonym für Rockmusik schlechthin – war es, der Pop ein Weitermachen ermöglichen sollte. Dabei dürfte von entscheidender Bedeutung gewesen sein, dass er den take off allererst ermöglicht hatte.[52] Durch die Wiederauflage dieses Programms im Glam Rock konnte die Zukunft wieder ins System hineingeholt werden.[53] Das Ende der Revolutionshoffnung bedeutete nicht auch das Ende seiner Selbstreproduktion. Pop konnte erneut zu dem werden, der er ist: weil er es war. Er hatte versagt, dennoch konnte es weitergehen. Die dank der Aufzeichnungsmedien gegebene Wiederholbarkeit war in der Lage, diese Funktion abzusichern.
Mag Retrologie auch an der Originalität von Popmusik interessiert sein, so stellt sich doch die Frage: Woran ist Pop interessiert? In seiner Rezension (Wiederbegutachtung) von Retromania vermutet Sukhdev Sandhu: „Pops appeal doesn’t just lie in its ability to shock and surprise; it can also be a source of safety and succour, especially when life – life under capitalism – feels concussive, brutalising.“[54] Dabei lässt sich die Attraktivität des Alten auf psychischer Seite vor allem auf die Erfahrung der Erwartungsentlastung zurückführen. Wir haben zwar immer schon bestimmte Erwartungen an die neuen Songs von Coldplay oder Jack White, an das, was kommt, aber ob und in welcher Form sie erfüllt oder enttäuscht werden, ist offen. Je neuer das Neue, desto größer wird die zu bearbeitende Differenz von Erwartung und Erfüllung. Anders die Begegnung mit ihren alten, uns bereits bekannten Songs. Auch sie enthalten noch die an sie gerichteten leeren Erwartungen, die durch eine Wiederbegegnung erneuert werden – aber das erneute Hören von Yellow oder Seven Nation Army erneuert ja auch die Erwartungen, die sich – und sei es durch Enttäuschung – bereits erfüllt haben.[55] Die unbestimmte Wahrnehmung weicht einer bestimmten, einer, die weiß, ‚wo es langgeht‘, die unbestimmte Zukunft wird ein Stück weit bestimmbar. Diese Bestimmung kann wie bereits erwähnt immer nur von hier aus erfolgen, das Anderssein (mit Husserl: das Nichtsein) ist offen. Wir erfahren dasselbe notwendig und zwangsläufig anders, nämlich jetzt – und nicht damals. Mit Sido: Die Platte von gestern ist immer nur die Platte von gestern jetzt.[56] Das heißt nicht, dass wir an der Selbigkeit von Yellow Zweifel hätten, es heißt, dass wir den Song als wiedererkennbar erleben, als vertraut. Kraftwerk und Led Zeppelin, Jungle, Rock’n’Roll und Sixties Soul bestätigen, statt zu überraschen. Auf diese Weise können, mit Luhmann: die Beobachtungssequenzen „angenehme Redundanzen aufbauen“ und derart zur Stabilisierung der Reproduktion beitragen.[57]
Retro-Pop bestreitet die Alleinherrschaft des Gebots, neu sein zu müssen. Nebenbei macht er darauf aufmerksam, dass kein Pop-Song ganz und gar neu ist, dass er immer schon im gleichen Moment, wenn auch zu unterschiedlichen Anteilen, Varietät und Redundanz vermitteln muss, soll etwas überhaupt als neu (als Variation) erkannt werden.[58] Traditionen werden immer schon mitgeführt – im Sound, im Look, den Texten. Auch die dezidiert jetzige Musik einer Band wie der Kings of Leon transportiert Rückbezüge, Referenzen (CCR, The Grateful Dead), die aber nicht explizit werden. Nichts ist nur neu – man wäre gar nicht in der Lage, es als neu zu identifizieren.[59] Tatsächlich kann das, was als neu auftaucht, ja nur deshalb auftauchen, weil es – prinzipiell – schon vorher möglich war.
An die Stelle des Neuheitsgebots und der Überbietungsgesten tritt im ‚Post-Pop‘ das Kombinationsgebot, tritt die Freiheit der Kombination alter Formen, tritt entweder das Zitat bzw. die Kombination heterogener Stilmomente oder der Versuch, die an Pop gerichteten Erwartungen zu enttäuschen – früher überwiegend in Form von Avantgarde-Experimenten: new forms, heute zunehmend in Form von Rückwärtsgewandtheit: old forms. Oder wie in den Mashups als bemerkenswerte Kombination von hoher Redundanz und Varietät. Es ist der Versuch, eine requisite variety im Sinne Ashbys zu schaffen, die pluralistische Umwelt in das System hineinzukopieren, sich die Heterogenität der Geschmacksrichtungen und Stilerwartungen einzuverleiben – wobei man zwischen den Erwartungen der Pop-Elite (zu denen auch die Retrologen gehören) und denen der Pop-Masse unterscheiden sollte.[60] Das von der Retrologie befürchtete Ende der Popmusik muss also keineswegs Stillstand bedeuten. Auch wenn sie heute weniger einem linienhaft fließenden Gewässer gleicht, sondern eher Ähnlichkeiten mit einer kompakten, reich gegliederten Wassermasse namens Meer aufzuweisen scheint.[61]
Pop reproduziert sich von Moment zu Moment. Er benutzt dabei Strukturen oder benutzt sie nicht, ändert sie oder ändert sie nicht, bedarf also im Prinzip gar keiner Geschichte. Er benötigt nur den nächsten Song![62] Die Gefährdung von Pop durch Pop, von der die Retrologie ausgeht, liegt somit durchaus im Rahmen der evolutionären Möglichkeiten. Es ist denkbar, dass Pop so auf seine Umwelt einwirkt, dass er zuletzt die eigenen Lebensgrundlagen zerstört, denn die primäre Zielsetzung ist immer das Weiter-so, wenn auch nicht im Sinne eines „Advancement“ (Granovetter), ist die Fortsetzung der Selbstreproduktion, und zwar ohne Rücksicht auf Verluste.[63] Pop ist in all seinen Strukturen darauf eingestellt, den jeweils nächsten Schritt zu tun. Jeder neue Song kann als ein solcher Schritt in einem prinzipiell unsicheren Terrain begriffen werden, das durch das Internet kaum sicherer geworden ist.[64]
8.
Wer weiß, vielleicht ist Pop tatsächlich an Retromanie erkrankt. Dann hätten wir es mit einer Art psychosozialem Tatbestand zu tun: das System hat die gesamte Vergangenheit in einen Topf geworfen und auf große Flamme gesetzt – „und nun brodelt dieses unkalkulierbare Gebräu über den Rand hinaus.“[65] Nicht umsonst gehören gehobene Stimmung, Mitteilungsdrang und krankhaft gesteigerte Aktivität seit jeher zum Erscheinungsbild. Hier die mitreißende Heiterkeit, die Glückseligkeit, der unbegründete, aber strahlende Optimismus der Beatles, dort die gereizte Missstimmung und aggressiven Durchbrüche der Rolling Stones. Man denke an das überzogene Selbstwertgefühl vieler Stars, an die Texte: locker aneinandergereihte Einfälle, oder an die Songs selbst, das Unbeschwerte, Übermütige, Humorvolle, spritzig Schalkhafte, Ausgelassene vieler Titel. Oder daran, dass die moderne Psychotherapie Manie als ‚Jugendbewegung‘ beschreibt.[66] Aber worin liegt die differentia specifica, der besondere Unterschied, der Retromanie von Manie unterscheidet? Wie genau kommt der Vergangenheitsbezug zur Geltung?
Vielleicht als der Versuch, die harte Konsens-Wirklichkeit der an Fortschritt und Weiterentwicklung orientierten Pop-Beschreibungen für einen Moment außer Kraft zu setzen, um sich eine Aus-Zeit zu nehmen von den ständigen Innovationsforderungen.[67] Mit einem Mal gelten die be- und vorschreibenden Regeln nicht mehr: „Endlich ist Feiern keine Arbeit mehr und die ästhetisch Denkfaulen dürfen hip sein wie nie.“[68] Es wäre dann gerade die ständige Forderung nach fortschrittlichen Pop, die zum Gegenteil führt: zu rückschrittlicher, nostalgischer oder restaurativer (vorrevolutionärer) Musik. Retromanie sollte dann aber positiv gesehen werden, nicht als Zeichen einer Störung oder als ein Grund zur Beunruhigung.
Dr. Markus Heidingsfelder ist Professor für Medientheorie im Journalismus-Department der Xiamen Universität Malaysia.
[1] Simon Reynolds. Retromania. Warum Pop nicht von seiner Vergangenheit lassen kann. Mainz: Ventil Verlag 2012.
[2] Reynolds verwendet den Begriff nur als Metapher (wie in ‚Ägyptomanie‘). Nimmt man ihn wörtlich und lässt sich auf das Experiment ein, gesellschaftliche Verhältnisse mit dem Instrumentarium der Psychotherapie zu traktieren, ließe sich Retromanie als ‚soziale Explosion‘ begreifen. Im Schutze dieses Zustands kann Pop endlich samplen und zitieren, soviel er will. Und da er sich in Bezug auf das, was war, alles erlaubt, kommt er genau dadurch in den Zwang, auf alle Reize der Vergangenheit zu reagieren. Was ‚gerade-eben-jetzt‘ war, ist mit einem Mal: schon wieder. Das Resultat ist ein chaotischer Wirbel von Rückbezügen, Referenzen und Zitaten; enthemmt, unfähig zu Distanz oder Pause, verliert sich Pop in der Vergangenheit, ist ihr schutzlos ausgeliefert. Vgl. Klaus Dörner / Ursula Plog. Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie, Psychotherapie. Bonn: Psychiatrie-Verlag 1996, S. 177ff.
[3] „Und erscheint recht zu haben“, notiert etwa Die Zeit und zählt auf: Kitty, Daisy & Lewis, Adele, Hurts, The XX. http://www.zeit.de/kultur/musik/2011-10/retromania-simon-reynolds. Dabei scheitert die empirische Überprüfung schon an der Unschärfe des Begriffs. Reynolds selbst bemerkt das Problem, wenn er bei seiner Recherche bereits in den 60er Jahren auf Retro-Phänomene stößt. Darin liegt die große Chance für die Massenmedien, denn nun können überall Rückwärtsformen gesichtet werden, die dann als Einzelepisoden einer großen Fortsetzungsgeschichte erscheinen – von bärtigen Bands über den „Pop-Hype Lana del Rey“ bis hin zum Einzelhandel (das „Pixelparadies von Akihabara“). Vgl. http://www.spiegel.de/thema/retromanie/
[4] Vgl. Jean-Francois Lyotard. Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Hg. v. Peter Engelmann. Graz: Edition Passagen 1986, S. 13. Siehe auch Niklas Luhmann. Die Gesellschaft der Gesellschaft: Frankfurt am Main: Suhrkamp 1997, S. 114ff.
[5] Retro als Dekonstruktion, als Kritik an der Herrschaft der Hits. Vgl. Aram Lintzel. „Mit einer reflexiven Retrohaltung lässt sich die Gegenwart in Frage stellen.“ taz, 12.07.11. www.taz.de/1/archiv/digitaz/artikel/?ressort=ku&dig=2011%2F07%2F12%2Fa0106&cHash=a14ce18974 Siehe auch Olaf Karnik. „Geister der Vergangenheit. Das Konzept der ‚Hauntology‘ und die britische Elektro-Musik der Gegenwart.“ NZZ, 11.02.2011. http://www.nzz.ch/nachrichten/kultur/pop_und_jazz/geister_der_vergangenheit_1.9464827.html[Link mittlerweile erloschen]
[6] Mit Rameaus Neffen: Warum Pop nicht gehn lassen, wie er Lust hat? Er geht ja schon gut, die Menge ist damit zufrieden. Vgl. Denis Diderot. Rameaus Neffe. Frankfurt am Main: Insel 1996, S. 21.
[7] Vgl. Aram Lintzel. „Reflexive Retrohaltung“. Hervorhebung von mir, M.H.
[8] In der entsprechenden Terminologie: nicht auf Substanzen, sondern auf Akzidenzen. Soviel zur Aktualität von Wesensdefinitionen – oder handelt es sich vielleicht um reflexiv gefederte Nostalgie? Aus evolutionärer Sicht ergibt sich das genau umgekehrte Bild: Es sind die Akzidenzen, die zuletzt für die Ausbildung eines ‚Pop-Wesens‘ verantwortlich zeichnen. Am ehesten macht der Rekurs auf ein transzendentales Pop-Selbst aus unserer Sicht noch in Bezug auf das Medium Sinn, das – immateriell, invariant und unsichtbar – in allen Pop-Formen mitreproduziert wird, die es variieren und sichtbar machen. Vgl. Heidingsfelder, System Pop, S. 83ff.
[9] Wozu für Aram Lintzel nicht nur musikalische, sondern auch andere, ungerechterweise untergegangene und bisher nicht re-aktualisierte Formen wie der Feminismus gehören. Lintzel wirft Reynolds denn auch die Beschränkung seiner Überlegungen auf Popmusik vor: „Das Berliner Stadtschloss kommt nicht vor.“ Vgl. Aram Lintzel, „Reflexive Retrohaltung“. Aus unserer Sicht eine sinnvolle methodische Engführung, auch wenn das ‚Popkultur’ im Untertitel der englischen Fassung natürlich anderes verheißt. Vgl. http://de-bug.de/mag/8499.html [Link mittlerweile erloschen]. Die von Reynolds beschriebenen Retro-Phänomene können ganz grundsätzlich als Beleg für die Autonomie von Pop gedeutet werden, als Beweis für ein eigengesetzliches Geschehen, das sich gut gegenüber anderen ‚Re-Formen‘ – Berliner Schloss, Tea Party, Hipstamatic – abgrenzen lässt.
[10] Vgl. Walter Benjamin. Gesammelte Schriften. Bd. V-1. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982, S. 22f.
[11] Reynolds spricht denn auch vom ‘anarchive‘. Derrida bedient sich des gleichen Wortspiels, setzt aber an dieser Stelle den Todestrieb ein, da die Wiederholung bzw. der Wiederholungszwang sich laut Freud vom Todestrieb nicht trennen lasse. „Konsequenz: selbst in dem, was die Archivierung ermöglicht und bedingt, werden wir niemals etwas anderes finden als das, was der Destruktion aussetzt und wahrlich mit Destruktion bedroht … Das Archiv arbeitet allzeit und a priori gegen sich selbst.“ Vgl. Jacques Derrida. Dem Archiv verschrieben. Eine Freud’sche Impression. Berlin: Brinkmann und Bose 1997, S. 24 und 26. Bodo Mrozek vermutet, die Historiker selbst könnten am von ihnen konstatierten Niedergang ihren Anteil haben: indem sie den Musikern die Relativität des eigenen Tuns vor Augen halten, hemmen sie deren „schöpferische Impulse“. Eine Retro-These, die Nietzsche samplet. Vgl. Bodo Mrozek. „Verschwindet Pop in den Archiven?“ http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,783978,00.html.
[12] Vgl. Peter Fuchs. Das System Selbst. Eine Studie zu der Frage: Wer liebt wen, wenn jemand sagt: „Ich liebe Dich!“? Weilerswist: Velbrück 2011, S. 78.
[13] Vgl. Peter Fuchs, Das System Selbst, S. 78.
[14] Ich beziehe mich auf Überlegungen Arnold Gehlens, der die ungeheure Beschleunigung der kulturellen Prozesse, die Buntheit, Fülle und Wandelbarkeit der kulturellen Formen als Stillstand gedeutet hatte. Vgl. Arnold Gehlen. „Über kulturelle Kristallisation“. Studien zur Anthropologie und Soziologie. Neuwied 1971, S. 293ff. Baudrillard wird diese Überlegungen auf die Spitze treiben: „Die Zukunft ist schon angekommen, alles ist schon angekommen, alles ist schon da. Es ist keine Übertreibung, wenn wir sagen, alles sei schon eingetreten.“ Und tatsächlich: auch diese These ist ja längst da. Baudrillard, z.n. Heidrun Hesse (Red.). Der Tod der Moderne. Eine Diskussion. Tübingen: Konkursbuchverlag Claudia Gehrke 1983, S 103.
[15] Vgl. Niklas Luhmann. Die Kunst der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 85.
[16] Vgl. Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 482.
[17] Zwar muss es auch für uns darum gehen, diese Komplexität zu bearbeiten – aber sicher nicht darum, sie aufzuheben. Vgl. Niklas Luhmann. Soziale Systeme, S. 10ff.
[18] Mit George W. Bush: Eine Kopplung von misunder- und misoverestimation.
[19] Vgl. Dietmar Dath. „Das Jahrhundert der Jugend als Echokammer. Zukunft in Popmusik und Science-fiction“. In: Tom Holert / Mark Terkessidis, Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft. Berlin: Edition ID-Archiv 1996, S. 149.
[20] Vgl Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, S. 85.
[21] Luhmanns Einschränkung lautet: Diese Bestimmung sei letztlich eine phänomenologische, und zwar die Lehre vom Erscheinen dieser Differenz. Vgl. Niklas Luhmann. Ideenevolution. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 15. Peter Fuchs hat auf die problematischen Implikationen dieser phänomenologisch inspirierten Rede hingewiesen: „In keiner Aktualität ist (gleichsam unsichtbar) eine Possibilität oder Virtualität neben das gestellt, was geschieht, weil nur geschieht, was geschieht, und nicht geschieht, was nicht geschieht.“ Peter Fuchs. Moderne Kommunikation. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1993, S. 66f. Sinn sei nicht punktuell gegeben, Wirklichkeit und Möglichkeit erschienen nicht gleichzeitig: als Selektion und Horizont. Fuchs schlägt deshalb vor, vom Differenzeffekt operativer Geschwindigkeiten zu sprechen. Der Umstand, dass das Bewusstsein schneller laufe als die gerade aktuelle Kommunikation, könne kommunikativ als ‚Virtualisierung‘ genutzt werden. Vgl. Fuchs. Moderne Kommunikation, S. 69.
[22] Retromania als Remake einer alten, dem Fortschrittgedanken verpflichteten Erzählung: „Doch die Erfahrung von viertausend Jahren sollte unsere Hoffnung stärken und unsere Sorgen vermindern.“ Vgl. Gibbon, Untergang, S. 328.
[23] Vgl. Heidingsfelder, System Pop, S. 63ff.
[24] Und das schon deshalb, „weil es keiner Intention, wie säuberlich sie auch herauspräpariert werde, verbürgt ist, daß das Gebilde sie verwirkliche“. Vgl. Theodor W. Adorno. Ästhetische Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970, S. 226.
[25] Vgl. Luhmann, Ideenevolution, S. 21.
[27] Kosellecks Begriff der „vergangenen Zukunft“ bringt diesen Umstand auf den Punkt. Vgl. Reinhart Koselleck. „Vergangene Zukunft der frühen Neuzeit“. Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 17-37.
[27] Mehr als nur ein Nebeneffekt, womöglich einer der wichtigsten Beweggründe für die Unterscheidung von retromanischen und retroreflexiven Formen, lässt sich dieser Rückgriff innerhalb des Sozialrahmens doch für Distinktionsgewinne im Sinne Pierre Bourdieus nutzen: Man kann sich nicht nur auf der moralisch richtigen, sondern auch auf der Kenner-Seite placieren. Reynolds kennt sich aus, und dieses Auskennen wiederum wird ihm innerhalb der Domäne hoch angerechnet. So lobt die Spex: Es handle sich bei ihm keineswegs um einen „alternden Platzverweiser“, sei er doch mit den aktuellen Strömungen bestens vertraut. Vgl. Tobias Müller. „Die Zukunft ist draußen. Retromania von Simon Reynolds“. Spex #334, S. 57. Ein ernstzunehmender Hinweis auf den Körperbezug des Systems: Alter gilt auch auf der Ebene der Reflexion als problematisch. Vgl. Heidingsfelder, System Pop, S. 393ff.
[28] Und die interne Anpassung an Erfüllung bzw. Enttäuschung nennen wir: Gefühl. Vgl. Niklas Luhmann. Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 364.
[29] „Nur sehr weniges kann jeweils aktuell im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen bzw. ein aktuell behandeltes Thema der Kommunikation sein; alles übrige und schließlich die Welt im ganzen wird durch Verweisungen heran assoziiert und ist dann nur sequentiell und nur selektiv möglich: Man kann nur der einen oder der anderen Möglichkeit nachgehen, und jeder Schritt schafft wiederum mehr weitere Möglichkeiten, als im Folgenden aufgegriffen werden können.“ Niklas Luhmann. Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 29.
[30] Das Ergebnis lässt sich mit Niklas Luhmann als eine neue Kulturform begreifen. Vgl. Niklas Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 405ff. Siehe auch den kurzen Hinweis in Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, S. 597ff. Dirk Baecker geht in seinen Studien zur nächsten Gesellschaft der Frage nach, um welche Form es sich im Falle des Computers handeln könnte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2007.
[31] Allerdings: Gab es Retro-Phänomene bereits vor dem Internet. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass es sich bei der von Reynolds vorgeschlagenen Neu-Periodisierung in erster Linie um eine Form der Selbstbeschreibung handelt.
[32] Und gerade Jungle bzw. „Drum & Base“ (Schwanitz) entwickelte sich in einem derart hohen Tempo, dass viele Möglichkeiten nur angedeutet werden konnten.
[33] Genau wie die These vom vergangenheitsbesessenen, todgeweihten Pop! Sie bewährt sich ja schon dadurch, dass Autoren für Zeitungsartikel bezahlt werden, in denen sie den „Endlosschleifenpop von heute“ (Thomas Groß) anprangern, dass sich Hefte bzw. Webseiten mit Retro-Specials füllen lassen, die ansonsten dem Gang der popüblichen Berichterstattung gefolgt wären.
[34] In den Worten Edward Gibbons: Die Qualität der Pop-Produkte mag mal steigen, mal sinken, aber diese begrenzten Ereignisse können „ … dem allgemeinen Zustand [des Systems] nicht wirklich schaden“.Vgl. Gibbon, Untergang, S. 323. Hinzufügung in Klammern von mir, M.H.
[35] Retrologie als eine Art sozialer Reflex. Durch die Notwendigkeit, zwischen progressiver und regressiver Nostalgie zu unterscheiden, ist man mit einem Mal wieder im Spiel. Vgl. Arnold Gehlens Überlegungen in „Das Ende der Persönlichkeit?“ Studien zur Anthropologie und Soziologie. Neuwied 1971, S. 302.
[36] In einer Formulierung von Arnold Gehlen: Es lassen sich nur mehr „Inseln von Zusammenhang“ herstellen. Und weiter: Es sei „kein Bewußtseinsort denkbar, von dem aus man alles in den Blick bekäme“. Vgl. Gehlen, „Kulturelle Kristallisation“, S. 295.
[37] Vgl. Armin Nassehi. Die Zeit der Gesellschaft. Auf dem Weg zu einer soziologischen Theorie der Zeit. Neuauflage mit einem Beitrag „Gegenwarten“. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2008, S. 335. Mit Arnold Gehlen könnte man Retrologie als späte Erscheinungsform der „großen Schlüsselattitüde“ begreifen. Vgl. Gehlen, „Kulturelle Kristallisation“, S. 286f.
[38] Vgl. Niklas Luhmann / Peter Fuchs. Reden und Schweigen. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1989, S. 10.
[39] Vgl. Luhmann / Fuchs. Reden und Schweigen, S. 10. Siehe auch Heinz von Foerster. Sicht und Einsicht: Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme-Verlag 2005.
[40] In der Kunst galten Abweichung und die damit verbundene Überraschung spätestens seit dem 17. Jahrhundert als Selbstwert, der keiner zusätzlichen Rechtfertigung mehr bedarf. Siehe Niklas Luhmann. Schriften zu Kunst und Literatur. Hrsg. v. Niels Werber. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008, S. 148. Im Pop gehört die radikale Abweichung von Anfang an dazu, spätestens seit dem Rock’n’Roll gilt Devianz hier als Qualitätsmerkmal. Dabei muss die Abweichung nicht notwendig in musikalischer Form geschehen, sie kann sich auch auf bestimmte Inhalte, Outfits etc. beziehen. Genau wie in der Kunst kommt es in der Folge auch im Pop zu einem „Neuheitsschwund“ (Luhmann), denn natürlich wird das Neue zwangsläufig alt und kann dann nur noch als altes Neues verehrt werden.
[41] Mit Dietmar Dath: Popmusik spricht zwar von der Zukunft, meint aber eigentlich die Gegenwart. Laut Dath neben Pop auch das Privileg von Science-fiction. Vgl. Dietmar Dath. „Echokammer“, S. 140.
[42] Vgl. Niklas Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 327.
[43] Dadurch wurde der Popmusiker von einem Handwerker, der nach Regeln verfuhr, zunehmend in die Rolle des an Originalität interessierten Künstlers gedrängt – und Popmusik zu einem Medium, in das sich fortan der Zeitgeist einschrieb. Siehe hierzu auch Stanley Crouchs Klage in „Man in the Mirror“. In: Yo! Hermeneutics. Hrsg. v. Diedrich Diederichsen. Berlin: Edition ID-Archiv, S. 154. Luhmann hat darauf aufmerksam gemacht, dass gerade die Form ‚Stil‘ es erlaubt, das Neue zu verarbeiten. Weshalb manche Musiker die Stilbezeichnung von vornherein mitliefern, um den Sinn- und Selektionsbedarf zu befriedigen, der mit jeder Neu-Erscheinung verbunden ist. Vgl. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 211. Beispiele aus dem Bereich des Jazz sind die Albentitel Cool Jazz von Miles Davis oder Free Jazz von Ornette Coleman. Man beachte auch die Texte auf Alben wie New Forms, die vor allem damit beschäftigt sind, den Hörer über den neuartigen Charakter der auf ihnen präsentierten Formen zu informieren: „New configuration, new riff and new structure/Built on the frame that’ll hold the room puncture … When we apply the breaks, there’ll be no skids/Just more elements to continue as we glide“ (Reprazent feat. Roni Size, Brown Paper Bag). Vgl. auch Rapper’s Delight: „Now what you hear is not a test …“ Sondern eine neue Form.
[44] Vgl. Mark Granovetter. „The Idea of ‚Advancement‘ in Theories of Social Evolution and Development“. In: American Journal of Sociology 85/1979, S. 489-515.
[45] Vgl. Luhmann, Schriften, S. 348.
[46] Vgl. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 570.
[47] Diedrich Diederichsen spricht in diesem Zusammenhang von „Second Order Hipness“ bzw. der „Einführung von Historizität als Waffe“. Vgl. Diedrich Diederichsen. Sexbeat. Köln: Kiepenheuer und Witsch 1985, S. 18. Aus unserer Sicht geht es eher darum, die eigene Gegenwart als Resultat einer unabänderlichen Geschichte zu begreifen, um den Zustand Anfang der 70er Jahre im Unterschied zu früheren Zuständen charakterisieren zu können. Entsprechen die laufenden Operationen dem, was Pop als seine Realität konstruiert? Dieser Re-entry dient keinem ‚Weiter‘ im Sinne eines Fortschritts oder theoretisch instruierter Kampfhandlungen, sondern schlicht dem Weiter-so der Selbstreproduktion.
[48] Brummbär, z.n. Ingeborg Schober. Amon Düül. Tanz der Lemminge. Augsburg: Sonnentanz Verlag 1994, S. 39. Siehe auch Gehlens Überlegungen zu einer Verweltlichung der ursprünglich christlichen Kombination von Weltentwurf und Handlungsanweisung, die den Marxismus – neben Evolutionstheorie und Psychoanalyse – als atheistische Ersatzreligion begreift. Vgl. Gehlen. „Kulturelle Kristallisation“, S. 285. Das Befreiungspotential, das Herbert Marcuse in Studenten, Hippies, Drop-outs schlummern sah – der künftigen „Neuen Arbeiterklasse“ – ließ die zuvor ermatteten Hoffnungen auf revolutionäre Veränderungen wieder erstarken, wirkte im Raum der neomarxistischen Theorieansätze also selbst potenzierend und wurde schließlich zu einem elementaren Bestandteil der sogenannten Kritischen Pop-Theorie. Vgl. Markus Heidingsfelder. „Sub-Pop – oder: Von unten herab.“ http://medienobservationen.lmu.de/artikel/kontrovers/heidingsfelder_pop.pdf [Link erloschen]. Siehe auch Jürgen Habermas et al. (Hrsg.). Gespräche mit Herbert Marcuse. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1987, insbesondere S. 121ff.
[49] Vgl. Diederichsen, Sexbeat, S. 18.
[50] Vgl. Marcuse, Herbert. „Repressive Toleranz.“ In: Ders. / Robert Paul Wolff / Barrington Moore. Kritik der reinen Toleranz. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1968, S. 93-128.
[51] Zumindest wurde es so beobachtet. Etwa von Greil Marcus: „Gimmie Shelter and You Can’t Always Get What You Want both reach for reality and end up confronting it, almost mastering what’s real, or what reality will feel like as the years fade in. It’s a long way from Get Off My Cloud to Gimmie Shelter, a long way from I Can’t Get No Satisfaction to You Can’t Always Get What You Want.“ Interessanterweise fallen ausgerechnet diese beiden Songs von Let It Bleed auf der musikalischen Ebene am überzeugendsten für ihn aus: „The music of these two songs is just that much stronger than anything else on the album …“ Vgl. http://www.rollingstone.com/music/albumreviews/let-it-bleed-19691227#ixzz2DJH9vp8R
[52] Siehe auch Moritz von Uslar: „Im Jahr 1956, in dem der Pop erfunden wurde … “ Z.n. Zeit-Magazin Nr. 11., 8.3.2012, S. 18. Auch die eingangs erwähnten historischen Fakten sind natürlich vor allem als Hinweis auf das Tun (facere) der Historiker zu lesen: als sich tatsächlich gebende Fiktionalität. Vgl. Fuchs, Moderne Kommunikation, S. 126.
[53] Der Glam Rock – für Reynolds der paradigmatische Fall einer retromanischen Form – kündigt sich bereits mit dem erstaunlichen, für merkwürdige Kontrasteffekte sorgenden Auftritt von “Sha Na fucking Na” (Jake Brown) in Woodstock an. Elizabeth E. Guffey hat die Rolle der Band in ihrem Buch Retro: The Culture of Revival genauer untersucht. London: Reaktion Books 2006. Sie macht darauf aufmerksam, dass bereits dieses vermeintlich rückwärtsgewandte, nur-nostalgische Retro-Phänomen mit Gegenwartsbezügen aufgeladen war und die 50er Jahre nicht etwa re-, sondern konstruierte: Busby Berkeley statt Joe McCarthy. Es ging demnach weniger um ein Bedienen sentimentaler Bedürfnisse nach der guten alten Zeit als vielmehr um eine vom Camp inspirierte Überpointierung bestimmter formaler Aspekte der Ära – kurzum: um ebenjene von den Retrologen geforderte reflexive Nostalgie.
[55] Vgl. Edmund Husserl. Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. Hrsg. v. Martin Heidegger. Tübingen: Niemeyer 1980, S. 410f.
[56] Paul Hartnoll von Orbital über Kraftwerks Computer World: „Zu der Zeit, als ich das hörte, kamen mir Platte und Song noch kühl und schroff vor. Nach heutigen Soundstandards klingt der Track aber warm und reichhaltig. Verrückt, wie sich die Perspektive gewandelt hat.“ Z.n. Intro # 202 Mai 2012, S. 34.
[57] Vgl. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 210.
[58] Vgl. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 481. Und auch die Neuheit des Neuen ist ja redundant, „da man aus der Erfahrung mit Neuheiten immer schon weiß, um was es sich handelt … “ Vgl. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1007.
[59] Paul Valéry: „Das wirklich Neue wäre vollständig unausdrückbar.“ Ich grase meine Gehirnwiese ab. Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers. Ausgewählt und mit einem Essay von Thomas Stölzel. Frankfurt am Main: Eichborn 2011, S. 165.
[60] Stellt sich nur die Frage, wie ein Song unter diesen Bedingungen noch seine eigene Einheit behaupten, sich gegen die eigene requisite variety durchsetzen kann. „Kann man“, fragt Rikus Hillmann in der Debug, „durch Hommagen, Zitate einen Style prägen?“ Vgl. www.de-bug.de/share/debug50.pdf [Link mittlerweile erloschen]. Die Grenze setzt auch hier die Funktion. Vgl. Heidingsfelder, System Pop, S. 63 ff. Genau deshalb kommt es auch zu keinem Anything-goes. Bestimmte Kombinationen sind einfach nicht ‚drin‘. Anders als in der Kunst kann Reflexivität im Pop deshalb auch nicht heißen: dass der Hörer sich einen Song nur vorstellen soll.
[61] Vgl. Luhmann, Kunst der Gesellschaft, S. 480. Siehe auch Ennis, der vom Rock’n’Roll als „seventh stream“ spricht. Philip H. Ennis. The Seventh Stream. The Emergence of Rock’n’Roll in American Popular Music. Hanover: Wesleyan University Press 1992. Musikritiker Joachim Hentschel empfindet das ‚Ozeanische‘ des neuen Zustands nicht als beunruhigend: „Früher mussten verschiedene Musiken sich um eine sehr beschränkte Zahl von Kanälen mit beschränkten Kapazitäten prügeln. Heute besteht diese Konkurrenz nicht mehr. Auf vielen verschiedenen Kanälen werden Erkennungszeichen und tribale Verhaltensmuster gepflegt, parallel, ohne Wettbewerb, trotzdem mit maximaler Präsenz.” (Email vom 10.12.11 an mich, M.H.) Von einer Umkehrung der evolutionären Prozesse, die ja das Verschwinden bestimmter – ‚kulturell-ökologischer’ – Nischen voraussetzen würde, kann also im Pop nicht gesprochen werden.
[62] Vgl. Luhmann. Gesellschaft der Gesellschaft, S. 569.
[63] Vgl. Luhmann. Ökologische Kommunikation, S. 26.
[64] Ob sich die Popmusik des 21. Jahrhunderts deshalb nicht mehr in eine funktionale Sachordnung bringen lässt – und man in Bezug auf die Gesamtgesellschaft von einer neuen Kulturform sprechen muss – ist eine offene Frage. Vgl. Baecker, Studien, S. 9f. Niklas Luhmann ging davon aus, dass die wichtigen Strukturen der Gesellschaft kontinuieren, so dass man trotz Computer und Internet von Postmoderne im Sinne einer epochalen Zäsur bisher nur mit Bezug auf die gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen sprechen könne. Vgl. Luhmann, Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1143. Wie bereits angedeutet scheint das Gleiche für Pop zu gelten, denn auch hier sind die wesentlichen Strukturen dieselben geblieben.
[65] Arzt, z.n. Volker Faust. Manie. Eine allgemeinverständliche Einführung in Diagnose, Therapie und Prophylaxe der krankhaften Hochstimmung. Stuttgart: Ferdinand Enke 1997, S. 40. Siehe auch Endnote 2.
[66] Die Krankheitssystematik von Dörner / Plog ordnet jeder Altersstufe bestimmte Lebensaufgaben zu. Manie wird begriffen als Reaktion auf die Probleme, die sich uns am Anfang des dritten Lebensjahrzehnts stellen: „Das ist die Welt der immer wieder anderen Jugendbewegung, des Wandervogels, der anti-autoritären Bewegung, der Hippies, Rocker und Punker … “ Klaus Dörner / Ursula Plog, Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie, Psychotherapie. Bonn: Psychiatrie Verlag 1996. S. 179.
[67] Vgl. Fritz B. Simon. Meine Psychose, mein Fahrrad und ich. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme Verlag 2006, S. 226.
[68] Vgl. www.de-bug.de/share/debug50.pdf [Link mittlerweile erloschen]
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Valéry, Paul. Ich grase meine Gehirnwiese ab. Paul Valéry und seine verborgenen Cahiers. Ausgewählt und mit einem Essay von Thomas Stölzel. Frankfurt am Main: Eichborn 2011.