Kredit und fortgesetzte Krise (Teil 2)
von Thomas Hecken
27.10.2012

Welche Krise eigentlich?

In Deutschland gab es eine Krise nur nach 2008, im Zuge des Beinahe-Kollapses des amerikanischen Finanzsystems. Ohne weltweite staatliche Maßnahmen allerdings wäre tatsächlich ein längerer Absturz erfolgt. Dieser hätte die globale Ökonomie noch stärker in die Rezession geführt, als sie ohnehin vorübergehend geriet. Staatliche Konjunkturprogramme, die Salvierung der Banken und Versicherungen bzw. die staatliche, teilweise oder ganze Übernahme ihrer Verbindlichkeiten, nicht zuletzt die Niedrigzinspolitik der wichtigsten Notenbanken – dank dieser Maßnahmen aber haben sich rasch wieder moderate Wachstumszahlen eingestellt, von einigen für die Weltwirtschaft insgesamt nicht bedeutenden Ländern abgesehen.

Dass immer noch viel von einer Krise die Rede ist, zeigt die starke Besorgnis an, all diese massiven Maßnahmen könnten mittelfristig nicht ausreichen. Trotz der öffentlich kursierenden Sorge gibt es aber nicht einmal den Ansatz einer ernsthaften Legitimationskrise. Besonders in Deutschland unterscheidet sich das Meinungsbild kaum von der Zeit vor 2008. Es handelt sich, man kann es nicht anders sagen, um einen Triumph der älteren Populärkultur. Gab und gibt es zwar immer wieder Versuche, sie spöttisch an der neueren, internationalen, ›coolen‹ Popkultur zu messen und zu blamieren, zeigt sie sich dennoch ungebrochen stark. Der Vergleich von Ökonomie und Privathaushalt, die moralisch unterfütterten Aufrufe zum Sparen, der Vorrang nationalkultureller Eigenheiten bei der Erklärung transnationaler Prozesse  – sie können an eine alte (schlechte) Tradition anknüpfen.

Zugleich bedeutet der Triumph der populärkulturellen Muster den Erfolg wirtschaftsliberaler Ansichten. Umso bemerkenswerter ist der liberale Erfolg, weil er sich trotz der populärkulturell gut befestigten Abneigung gegen die glatten Banker und ihre undurchsichtigen Transaktionen einstellt, eine Abneigung, die in den letzten Jahren reichlich Nahrung bekommen hat. Mit dem einprägsamen Kernsatz, dass der Staat sparen müsse, kann der (Neo-)Liberalismus aber wieder spielend die führende Rolle einnehmen. Mit der Spar-Botschaft kann er sich trefflich mit dem, was jedem solide wirtschaftenden Bürger und herrischen Leistungssieger populärkulturell unmittelbar einleuchtet, verbünden: Dass es gut ist, ordentlich hauszuhalten und nicht über die eigenen (eigens verdienten) Verhältnisse zu leben.

Fragen danach, weshalb staatliches Sparen und Verschulden etwas anderes ist als das, was man an Privatinsolvenzen und guten individuellen Vorsätzen bei RTL von Peter Zwegat vorgeführt bekommt, sind damit ausgeschlossen. Ebenso die Frage danach, wer denn aus welchen Gründen der Schuldner dieser Staaten ist und wem die staatlichen Ausgaben zugutekommen. Mit dem Hinweis, ›unsere Kinder‹ müssten die Schulden dereinst abbezahlen und für ›unsere‹ Sünden bluten, ist die Sache auf dem Niveau eines Märchens oder Kalenderblatts erledigt.

In diesen Kanon können die Wirtschaftsliberalen frohgemut wieder einstimmen. Genau das haben Sie ja schon höchst erfolgreich in den Jahren und Jahrzehnten vor 2008 propagiert. Dass ihre Aufrufe, die staatlichen Haushalte müssten konsolidiert und Staatsbetriebe privatisiert werden, weil der freie Markt zu besseren Lösungen komme, nicht den allerhöchsten Wahrheitsgehalt besaßen, ist bereits vergessen, wenn es wieder frohgemut ans Sparen geht. Vor allem natürlich, wenn Staaten, die in der ökonomischen Konkurrenz verloren haben, mitsamt ihren ›nichtsnutzigen‹ Einwohnern zum strikten Sparen angehalten werden.

Wer denn diese Kredite vergeben und davon profitiert hat – und wer heute von den Garantien für die nur noch eingeschränkt zahlungsfähigen Mittelmeerländer profitiert –, das muss einen dann nicht weiter bekümmern. Unwichtig ist auch die Analyse oder auch nur der Ansatz einer Aufschlüsselung, wer denn diese ›Märkte‹ sind, auf die man dauernd angehalten wird zu hören, und warum man der jeweiligen Tendenz ihrer spekulativen Bewegungen Urteilskraft zumessen sollte.

Darum kann man bei den Gewinnern der ökonomischen Konkurrenz, zumal in Deutschland, in der Öffentlichkeit sich in gewohntem politischen Fahrwasser wieder elementar wichtigen Problemen wie der schleppend vorankommenden Privatisierung griechischen Staatseigentums zuwenden. Nicht einmal der Umstand, dass Deutschland wegen des bekannten spekulativen Drangs in eine Richtung momentan kaum noch oder gar keine Zinsen für neu aufgelegte Staatsanleihen mehr zahlen muss, darf groß erwähnt oder gar gefeiert werden. In welcher Höhe die Stützprogramme für Griechenland, Spanien etc. sich in den Bilanzen deutscher Banken niederschlagen, ist sicher auch ein viel zu technisches Detail angesichts der Gewissheit, dass es sich diese Südländer auf ›unsere‹ Kosten gut gehen lassen.

Richtig ausgekostet werden kann der ökonomische Triumph deshalb nicht. Hier steht sich die Sparer-Mentalität selbst im Wege. Die Angst, das mühsam Angeeignete könnte sich dereinst bloß als ein Haufen Ziffern auf einem Kontoauszug herausstellen, lässt sich mit der populärkulturellen Entwertung, dem wirtschaftlichen Niedergang und dem politischen Souveränitätsverlust anderer Nationen und Völker nicht vollkommen beruhigen. Da ist es wahrscheinlich auch kein Trost, dass mit der ökonomischen Potenz Deutschlands zumindest eines feststeht: Wenn die Niedrigzinspolitik und die enorme Liquiditätsschöpfung der Zentralbank mitsamt der europaweiten Begrenzung der Renten- und Sozialetats nicht ausreichen sollte, um erneut in größerem Maßstab lohnende Geschäfte und Vermögensgewinne zu stiften, dann wird die nächste Krise zwar keineswegs mehr nur eine griechische, spanische, italienische, aber immerhin auch nicht nur eine europäische sein.