Diego Armando Maradona: Die Hand Gottes und der Fuß des Volkes
von Maren Lickhardt
23.12.2019

Beobachtungen nicht für Fußballfans, sondern für Freunde guter Tragödien 

Der tragische Stoff[1]

Auch unabhängig davon, dass sich Gott bekanntermaßen in der Hand Maradonas manifestiert hat, muss man glauben, es gäbe einen solchen, wenn man sich die Lebensgeschichte des Fußballers anschaut. Sie ist einfach viel zu gut konstruiert, um nicht von einem intelligiblen Wesen erdacht worden zu sein. Ließe man Hyperbolik und Metaphysik beiseite, könnte man immerhin konstatieren, dass der Zufall manchmal eben auch sehr gute Geschichten schreibt. 

Aber vermutlich war doch wenigstens ein griechischer Gott am Werk, als Maradona 1990 zu einem Spielball in einem tragischen Stoff wurde. Fast schuldlos wurde der Held einem Schicksal zugeführt, an dem er nur scheitern konnte. Nachdem er die Herzen der italienischen Underdogs oder einfach: Neapolitaner 1986 im Sturm erobert hatte, als er sich als Weltklassefußballer für den eher gurkigen SSC Neapel verpflichtet und diesen nach oben gespielt hatte, musste er im neapolitanischen Stadion als Spielführer der argentinischen Mannschaft gegen Italien antreten und kickte das Gastgeberland beim Elfmeterschießen vor ca. 60.000 Zuschauer/innen aus dem Spiel. Die Arena kochte – vor Wut. 

Und leider ist Argentinien in diesem Jahr noch nicht mal Weltmeister geworden… Warum musste auch noch irgendeine deutsche Spielerfigur auftauchen, die das Unglück komplett machte? Warum? Offensichtlich lassen sich Theodizeeprobleme am Fall Maradona ebenfalls gut erörtern. Aber da Gott ja bekanntlich nicht würfelt, müssen wir den deutschen WM-Titel als Teil eines höheren Plans akzeptieren. – Ich sage ja: Der Text adressiert nicht die Fußballfans unter Ihnen.[2]

Völlig schuldlos war Maradona nicht in die Schicksalsfalle getappt, weil es ein mediales Vorspiel gegeben hatte. Nachdem die Konstellation bekannt war, dass der wichtigste und verehrteste Spieler des SSC Neapel ausgerechnet im neapolitanischen Stadion für Argentinien antreten würde, setzte Maradona auf die Spaltung Italiens.

Der Norden Italiens hatte den Süden immer verachtet. Unfassbar beleidigend und auch recht obszön waren die Parolen und Banner, die Maradona und seiner Mannschaft in der Serie A in den 80er Jahren entgegen schlugen. Neapel gegen den Rest Italiens – und Maradona mit ihnen. Oder der Rest Italiens gegen Neapel – und damit auch gegen Maradona. Maradona vertraute auf seinen Bund mit Neapel, auf den Bund mit den Ärmeren, Schwächeren, Ausgeschlossenen, und verkündete, dass die Neapolitaner/innen zu ihm halten würden, wenn er mit Argentinien gegen Italien antreten würde. Aber die Neapolitaner/innen fühlten sich plötzlich ganz und gar als Italiener/innen. 

Nun sieht es auf den ersten Blick so aus, als habe sich Maradona selbst in die Kommunikationsfalle manövriert. Aber da hat man eben noch die strukturalistische Brille auf. Die schärft zwar fast immer das Sehen, aber manchmal stört der Rahmen das Bildfeld. Denn so sehr Gott und/oder Autor ja eigentlich tot sind, so muss man doch immer wieder mit deren instantan aufscheinender Quicklebendigkeit rechnen und die damit einhergehenden schöpferischen Intentionen zugestehen und reflektieren. Der tragische Maradona-Stoff kann nicht anders verstanden werden. 

Und vor dem Hintergrund scheint die Interpretation nahe liegend, dass der Schöpfer seinen Helden als Opferlamm aufs Schlachtfeld geführt hat, damit sich Italien für einen Moment vereinen konnte. – Aber auch nur für einen Moment, was man nicht nur an der italienischen Politik ablesen kann, sondern auch daran, dass es nicht lange gedauert hat, bis Maradona wieder in Neapel verehrt wurde und sich Norden und Süden wechselseitig verachtet haben. 

Der Maradona-Stoff kursiert mythenartig im Populären. Ohne den geringsten Zugang zum Substrat Maradona bzw. zum substantiellen Ursprung des Mythos zu haben, kennt man die ein oder anderen Versatzstücke. Sie wurden in den 80ern medial vermittelt und oral tradiert. Für das oder im Fernsehen wurden sie später noch einmal zu Dokumentationen zusammengeschnitten oder szenenartig eingeblendet. Auf YouTube kursieren zahlreiche Ausschnitte und Zusammenschnitte von Bildern, Aussagen, Liedern etc. Wir halten die mythischen Versatzstücke auf allen Kanälen hoch. D.h. wie das mit Mythen so ist, sind sie auf die eine oder andere Weise immer medial vermittelt. Vater und Fernsehen waren meine Medien, aber immerhin kann ich behaupten, zeitlich am Ursprung des Mythos dran gewesen zu sein. Ich habe die Übertragungen der Spiele als Kind gesehen und konnte es nicht fassen, dass der Typ, der aussah wie alle anderen Männer im Dorf, den Balletttänzer besiegt hat. 

Aber man sollte die Ränder des Geschehens nicht vernachlässigen. Erst sie geben der Sache ihren Sinn. Denn auch um die Peripetie herum oder über das tragische Element i.e.S. hinaus hat bereits der populäre, wuchernde Stoff die Form der Tragödie. So finden wir vor dem Wendepunkt die erregenden Momente Drogen, Partys, Mafia und eine ungewollte Vaterschaft. Hier sind die chorischen Elemente besonders dominant, mit denen der Schöpfer von Maradonas Leben daran erinnern wollte, dass der Ursprung der Tragödie in den Dionysien liegt. Aber noch befindet sich das Ganze auf einer aufsteigenden Linie. 

So führte Maradona seine argentinische Nationalmannschaft 1986 in Mexiko als Spielführer ins Finale und gewann gegen Deutschland. Natürlich wäre es umgekehrt effektvoller gewesen, also erst ein deutscher Sieg und dann der argentinische Racheakt, aber wer in diesem Sinne nun glaubt, besser erzählen zu können als ein griechischer Gott und/oder der Schöpfer von Maradonas Leben, der hat den Falklandkrieg vergessen, den Argentinien auf dem Platz explizit ‚rächen‘ sollte. 

Da der Schöpfer hinsichtlich dieses Projektes in der Episode um die WM 1982 in vielerlei Hinsicht geschlampt hatte – er hatte vergessen, die Diktatur rechtzeitig zur WM zu beseitigen und konnte das Land unter diesen politischen Umständen nicht gewinnen lassen –, konnte er Argentinien erst in der WM 1986 gegen England zum Sieg führen. Dabei verlor er aber kurzzeitig die Nerven oder den Überblick und griff in der 51. Minute auf eine vielleicht etwas ungeschickte Weise ex machina ein, wodurch er danach umso bemühter war, die Geschichte wieder innerlich zu motivieren und dabei seinen kleinen Eingriff zu überbieten: Zunächst musste das schönste Tor der WM-Geschichte folgen, und dann bedurfte es über den Sieg gegen England hinaus noch des Finalsiegs oder des Siegs als Finale. 

Die Rezeption seines Mythos konnte der Schöpfer aber letztlich nicht kontrollieren: Die narrativen Glättungen haben nicht dazu geführt, dass man vergessen hat, dass man die Hand, die bestenfalls nur unsichtbar die Feder führt, für einen Moment hatte sehen können. Man muss ja nun das Motiv der Hand nicht übertreiben, aber zur Ehrenrettung des Schöpfers sei gesagt, dass ihm der handwerkliche Fehler verziehen sei, weil dieser ja letztlich dazu führt, die Präsenz einer Instanz zu erkennen, die am Ende alles sinnhaft fügt. Sie ist Bedingung der Möglichkeit für die vorliegende Deutung – und damit legitimiert – von mir persönlich. 

Alles in allem war dem Schöpfer an Argentinien und Italien gelegen: eine schadlose Revanche für das eine Land, ein Moment der Vergemeinschaftung für das andere. Und nachdem beides erledigt war, durften sich nach dem Fall der Mauer und rechtzeitig zur Wiedervereinigung auch die Deutschen wieder freuen, nicht etwa weil sie es sich im 20. Jahrhundert verdient hatten, aber als Akt der Gnade. Sie sehen: Der Stoff ist bereits perfekt ge- und verdichtet, auch wenn Maradona dabei geopfert werden musste. 

Seit der Peripetie 1990 erleben wir allerdings ein nicht enden wollendes retardierendes Moment. Im Grunde wird es strukturell gänzlich untragisch, denn im Gegensatz zur Tragödie können Helden in der Wirklichkeit weiterleben, nachdem sie gefallen sind. Insofern hat Maradona aufgehört, eine tragische Figur zu sein, obwohl er seither in den Medien nicht selten als ‚tragische Figur‘ bezeichnet wurde. Man könnte das bedauern, aber es zeigt letztlich, dass der Schöpfer die Figur aus seinen Fängen gelassen und der Selbstbestimmung zugeführt hat. Maradona ist als Dramaturg nicht so gut – was will man von einem Jungen aus Villa Fiorito auch erwarten? –, aber wir dürfen beobachten, dass und wie sein Leben wieder ein bisschen ihm selbst gehört. Und hey: Nobody is perfect. 

Die Tragödie in der Fassung von Asif Kapadia: Diego Maradona. Rebell. Held. Gott (2019)

Asif Kapadia inszeniert den Maradona-Stoff in seinem Film als italienische Tragödie. Das ist nahe liegend, um nicht zu sagen leicht, ist doch der Stoff bereits entsprechend präformiert. Dazu bedarf es lediglich einer Fokussierung auf dessen Peripetie und einer Selektion oder eines Zerlegens und Arrangierens, um die anderen Akte im Einzelnen zu gestalten. 

Zunächst einmal erfolgt die Exposition: Gleich zu Beginn sehen wir ein Interview, in dem Maradona einen Vergleich mit Pelé mit den Worten quittiert: „Ich bin Maradona“. Während sich die Figur dieserart vorstellt, sehen wir zwischendurch einige der unvergleichlich schönen Aufnahmen von Maradonas Tanz mit dem Ball – bei den Boca Juniors und in der Nationalmannschaft. Fast alle Maradona-Mythen werden im ersten Akt in einer schnellen Montage kurz angerissen: dass er weniger an Geld als an Ruhm interessiert sei und den Underdogs – in dem Fall den Boca Juniors – treu bleiben will, dass er schüchterne Seiten hat, aber zur Selbststilisierung neigt und außerdem gerne feiert und tanzt, dass es eine kleine Episode in Barcelona gibt und dass er in Neapel euphorisch erwartet wird. 

Dieser Akt wird durchzogen von schnell geschnittenen Aufnahmen von rasanten Autofahren und 80er Jahre-Musik aus dem Off. Kapadias Tragödie nimmt Anleihe an der Miami Vice-Ästhetik und deutet damit auch das Miami Vice-Narrativ an. Es kommen also Kokain und Mafia ins Spiel, und dadurch dass die Autofahren immer wieder einmontiert werden und die Musik das ganze Intro untermalt, wird der Eindruck erweckt, diese beide Aspekte seien als untergründiger roter Faden lange wirksam und setzten die Vorzeichen für alle anderen Elemente.  

Von der Zeit bei den Boca Juniors oder dem Zwischenspiel beim FC Barcelona macht Kapadias Film wenig Aufhebens. (Sie gehört tatsächlich zu einer anderen Stoffgruppe im Mythos Maradona.) Der zweite Akt der italienischen Tragödie inszeniert drei erregende Momente.

Erstens wird die Frage aufgeworfen, ob Maradona von Mafiageld bezahlt worden sei, und dies kann man zunächst im Rahmen von Kapadias Tragödie als nicht verschuldete Verstrickung deuten, weil Maradona im zweiten Akt durchaus noch als naiver Junge gezeigt wird. Schuldig macht sich der Held zu einem späteren Zeitpunkt aber sehr wohl im Sinne dieser Fassung/Deutung, was durch den Verweis auf die sich entwickelnde Freundschaft mit Carmine Guillano zum Ausdruck kommt (Kapadia, 0:29:00).  

Zweitens hatte Maradona außereheliche Affären, die von Kapadia aber verharmlost werden, indem aus dem Off Maradonas Aussage aus einem späteren Interview hineingeschnitten wird, mit der er bekundet, er habe seine Frau Claudia Villafaňe geliebt, aber er sei kein Heiliger gewesen. Die von Kapadia gewählten Ausschnitte legen die Sichtweise nahe, der arme Maradona sei der Verfügbarkeit von Frauen erlegen. Als er 1986 unfreiwillig Vater wird, will Kapadias Film Maradonas Bedrückung zeigen (37:48), so als sei er mehr zu bedauern als Christina Sinagra, die im Italien der 80er Jahre als alleinerziehende Mutter weiter machen musste, oder als der Junge, der viele Jahre von seinem Vater nicht anerkannt wurde. 

Dass Frauen Machismus bestätigen können und Männer diesen über die Bestätigung seitens der Frauen legitimieren, enthüllt sich in Kapadias Film dadurch, dass die verständnisvollen und entschuldigenden Worte der Geliebten aus einem zeitgenössischen Interview eingespielt werden: Sie sei sicher, dass auch Maradona tief im Innersten unglücklich sei, und dass er aus Unreife nicht besser handeln könne, als er eben handele. 

Die Verfügbarkeit von Drogen gepaart mit einer als fast unerträglich ausgewiesenen Heldenverehrung und vielleicht so etwas wie einer latenten Depression führen drittens zu ausschweifenden Partys. Erregend daran sind zwei Aspekte: 1.) Kokain macht nicht unbedingt klüger oder sensibler im Umgang mit komplexen Situationen, was dadurch verschlimmert wird, dass ja immer Medien zur Stelle sind, die jeden kleinen Fehltritt konservieren und verbreiten. 2.) Es ist schlicht illegal, wodurch der Konsum im falschen oder schwachen Moment stets gegen den/die Konsumenten/in gerichtet werden kann. – Das hat sich im Fußball dann ja noch mal mit Christoph Daum wiederholt. – Aber auf keinen Fall ist es schlimmer als Steuerhinterziehung!

Natürlich hat die Steigerung auch ihre guten Momente. Genießen dürfen wir auch in Kapadias Tragödien-Fassung den größten Sieg in Maradonas Karriere: die Meisterschaft Neapels im Mai 1987. Dass Maradona diesen Pokal selbst als seinen wichtigsten deklariert, ist angesichts der argentinischen Weltmeisterschaft bemerkenswert, indiziert dies doch seine Verbundenheit mit Neapel (1:03:15ff). Aber auch ohne diesen Kommentar erscheint der Sieg im besten Licht. Die dionysische Atmosphäre der Masseneuphorie, die Verschmelzung von Fans und Maradona, die wechselseitige Projektion zwischen Volk und Gott als summum bonum, und die schönste Szene überhaupt:

Ekstatischer Gesang in der Kabine desjenigen Liedes, das die Epiphanie im Angesicht Maradonas besingt: „Oh mama mama mama / oh mama mama mama / sai perche‘ mi batte il corazon? / Ho visto Maradona / Ho visto Maradona / eh, mama‘, innamorato son.“[3] Mama, mein Herz schlägt. Ich habe Maradona gesehen und nun bin ich verliebt. Dass Maradona das Lied zu seinen Ehren selbst singt und dirigiert, mag wie Hybris erscheinen, aber der Junge ist eben im Überschwang… 

Es folgt die Peripetie, die ziemlich nah am mythischen Stoff inszeniert wird, aber dann wird es leise und melancholisch, bevor es ziemlich schnell zu Ende geht in Kapadias Fassung. Dramaturgisch passt das, denn wird die Tragödie als solche geformt, verträgt sie nicht die ewige Retardation des tragischen Stoffs: Der Gott wird zum Teufel. Maradona kann den Hass der Neapolitaner/innen nicht verkraften, intensiviert seine Exzesse, gerät in Sachen Substanzen in den Fokus von Strafermittlern, muss sich plötzlich eines Dopingtests unterziehen lassen, als sei man plötzlich auf die Idee gekommen, er könne…, und verlässt Neapel explizit einsam und allein. Ende der Tragödie. 

Eigentlich, denn Kapadia will doch noch einen versöhnlichen Nachtrag liefern und außerdem zeigen, dass man als Mensch hin und wieder den tragischen Verstrickungen entkommen kann. Jahrzehnte nach der Geburt des Sohnes scheint es in den 10er Jahren keinen Anlass zu geben, auf den Maradona reagieren muss, als er sich mit dem Sohn versöhnt. So will es jedenfalls der Film, der keinen Hinweis auf eine zwingende Konstellation liefert. Damit will der Film ein Moment der Freiheit beschwören. Wo Maradona nicht getrieben wird, ist er nicht der schnellste – war er auch nicht auf dem Platz –, aber dafür ist dieser Moment umso wichtiger.

Kapadias Dokumentation will gar nicht erst authentisch, sondern Kunst sein, indem sie sich die Form der antiken Tragödie gibt. Der Vorteil dieser Form ist, dass man sich einem Stoff wohltuend wenig psychologisierend und moralisierend nähern muss. Sie ist geschaffen für Figuren, die larger than life sind und daher geschaffen für Pop-Ikonen. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass die künstlerische Formung beim Maradona-Stoff wirklich nur eine Frage von Reduktion und Verdichtung ist, die lediglich die bereits göttlich präformierte Aspekte abzugreifen braucht.

Im Fall von Kapadias Fassung mag man da einige Aspekte vermissen. Vor allem vereinfacht die Dokumentation den tragischen Stoff – der zwar schon tragisch, aber eben nicht glatt ist – insofern, als er die Peripetie mit WM-Spiel und einsame Flucht als solche verabsolutiert. Der Stoff selbst beinhaltet dagegen, dass nicht ganz Neapel Maradona gehasst hat, dass Neapel Maradona nicht lange gehasst hat, dass Maradona in Neapel immer noch verehrt wird und dass Maradona seither wieder im Neapolitanischen Stadion empfangen wurde. So simpel ist der Stoff nicht, als dass man ihm mit einer Fassung gerecht würde, die im Wesentlichen mit einer einsamen Flucht aus Neapel endet.

Die Novellenfassung von Jean-Christophe Rosé: Maradona, der Goldjunge (2006)

Es mag wohl kaum verwundern, dass Ausschnitte aus Kapadias Film bereits aus vielen anderen Zusammenschnitten bekannt waren, so z.B. aus der filmischen Novellenfassung des Maradona-Stoffes von Jean-Christophe Rosé. Auch die Novelle hat eine recht strenge Form – zumindest verglichen mit dem Roman –, und vor allem beinhaltet sie üblicherweise einen Wendepunkt, sodass die Peripetie aus dem Stoffkreis leicht in die Novellenform integriert werden kann. Aber im Vergleich mit der Tragödie verträgt die Novelle ein wenig mehr an Stofffülle, die wiederholend und mäandrierend von Rosé vor allem zu dem Narrativ aufgebaut wird, dass es sich bei Maradona um einen Jungen aus einem armen Viertel in einem gebeutelten Land handelt, der seine Herkunft nie vergessen hat. 

Der Film setzt im Jahr 2001 mit dem Abschiedsspiel Maradonas ein, um in diesem Kontext darauf zu verweisen, dass Maradona mit Herzblut für den Verein der Rang- und Namenlosen gespielt hat, den Lieblingsverein seines Vaters, den Boca Juniors. Als eine der ersten Einstellungen sehen wir Maradona weinen – aus Liebe zum Verein, zum Fußball und seinen Fans (0:01:47).

Nun wird chronologisch erzählt: die Kindheit, die Armut, die Diktatur, der kindergelähmte Jugendfreund und spätere Manager Jorge Cyterszpiler, die erste große Liebe Claudia Villafaňe… Während Rosé Claudia als selbstverständlichen, wichtigen Teil in Maradonas Leben zeigt, legt Kapadia sein Augenmerk auf eine dramatische heimliche Verlobung der beiden, die dieserart geschlossen wurde, um Maradonas eifersüchtige Mutter zu schonen. 

Dass Maradona für die Boca Juniors auch noch weiter gespielt hat, als er bei anderen Vereinen hätte mehr verdienen können, und dass dies für nicht weniger als ein unterdrücktes Land und eine leidende Klasse eine Trost spendende Funktion hatte, wird wenige Minuten nach dem ähnlich lautenden Beginn noch einmal wiederholt (0:08:45, 0:11:28). Diese Deutung, die auf der Ebene des discours ohnehin permanent mitläuft, wird auf der Ebene der histoire dann noch einmal aufgegriffen, indem der Barcelona-Stoff integriert wird. Beim FC Barcelona fühlt sich der proletarische Junge nicht wohl, weil Fußball in diesem Verein sichtbar kapitalistisch und kommerziell gefasst ist und sowieso alle viel zu posh seien (0:15:22).

In dem Kontext kulminiert in Rosés Fassung, dass Maradona aufgrund seiner überragenden spielerischen Fähigkeiten von seinen Gegnern besonders hart angegangen wird. Der eher kleine Spieler, von dem gesagt wird, er habe immer fair gespielt, wird von einem Gegner ins Krankenhaus gefoult – Beinbruch. Verdichtungen und Übertreibungen, die der Stoff gar nicht nötig hat, fallen viel mehr in Kapadias als in Rosés Fassung auf, aber an dieser Stelle ist es Rosé, der dick aufträgt: Maradona wird wiederholt alleine im Bild verletzt auf der Bahre liegend gezeigt, und seine Einsamkeit wird explizit betont (0:08:30). Was ohne Kommentierung nach gewöhnlichem Unfallmanagement aussieht und vermutlich nur kurze Augenblicke dauerte, macht in Rosés Fassung einen herzerweichenden Eindruck.   

Nach der Barcelona-Episode engagiert endlich wieder ein weiterer Outsider-Club Maradona, so als hätte dieser nur darauf gewartet, der Erlöser zu werden, auf den die Armen und Schwachen ja in fast jedem Mythos immer schon warten. Er geht zum SSC Neapel. Nach einem frenetischen Empfang und einer kleinen Weile der Orientierung kickt Maradona den Underdog quasi im Alleingang – aber doch als guter Teamspieler, möchte ich hinzufügen – zur Meisterschaft, und das in einer erstklassigen europäischen Fußball-Liga. 

Es wird in Rosés Fassung nicht versäumt zu betonen, dass es einen wichtigen Sieg gegen den AC Mailand gegeben hat. Da es der Siege mehrere gegeben hatte, ist die Auswahl bezeichnet. Sie begründet sich durch die erzählerische Kommentierung: Der AC Mailand gehörte dem ‚steinreichen‘ Silvio Berlusconi. Es scheint fast ein politisches Statement gewesen zu sein, dass Maradona diesen Verein besiegt hat, als hätte er nicht sowieso fast jeden Verein besiegt. 

Die ‚Hand Gottes‘ sowie ‚das Tor der sechs Gegner, der siebenunddreißig Schritte und der elf Ballkontakte‘ (0:34:00) in Argentinien erscheinen fast wie eine Nebensächlichkeit gegen das brodelnde Neapolitanische Stadion, die dionysische Atmosphäre, den Personen-Kult, die – narzisstische und/oder kokainbasierte – Spiegelung zwischen Fans und Star. All dies wird eindrucksvoll mittels zahlreicher emotionaler und emotionalisierender Aufnahmen erzählt. 

Privates bleibt nicht unerwähnt, aber überraschend ist die Fokussierung auf die Hochzeit mit Claudia (0:52:00), die in anderen Fassungen zumeist hinter den Skandalen ansteht. Sie wird als Konzession an die Konvention interpretiert, aber unter den 1.500 geladenen Gästen findet sich dann doch wieder die Halbwelt ein, unter der sich der einfache Junge wohler fühlt als im gesitteten Establishment. Maradona, so will es die Novellen-Fassung, war eben immer alles andere als ein Spießer. 

Dass Halbwelt und Mafia zwar verurteilenswert sind, aber doch immer auch eine Befreiung aus der zivilen Ordnung und zivilisatorischen Zwängen bedeuten, wird in Rosés Fassung immer mal wieder ausgestellt. Die Novelle ringt dem Stoff Verständnis hinsichtlich dieser Verstrickungen des Helden ab, weil Halbweltler/innen wenigstens keine steifen, verlogenen bourgeoisen Ausbeuter/innen seien. Rosé akzentuiert hier die Aspekte des Stoffes, die Maradona als archaische – kulturkritische – Figur zeigen, z.B. auch indem er darauf hinweist, dass Maradona treu zu seinem zweiten Manager hält, nachdem dieser wegen Drogenbesitzes verhaftet wurde: persönliche Freundschaft geht über zivile Ordnung; Zuneigung über ein Drogendelikt (1:10:58)

Dass Maradona wegen Kokainbesitzes einsitzen musste, setzt die Novellenfassung dazu in Bezug, dass der Massenmörder und Ex-Diktator Jorge Rafael Videla etwa zeitgleich aus dem Gefängnis entlassen wurde (1:02:20). Die Novelle folgt dem Deutungs- und Narrativierungsmuster, dass es Schlimmeres gibt als von Spießern verteufelte Spaßrituale. Der Maradona-Stoff wird zu einer Allegorie auf politische Ungerechtigkeit und Unverhältnismäßigkeit verdichtet, wodurch Maradona wiederum als Erlöserfigur erscheint, der leiblich auf sich nimmt, was ein ganzes Volk durchleidet.

Dass im Zuge von Kokainherstellung und -vertieb nicht wenige Menschen ermordet werden, blendet die Novelle aus, denn sie möchte den persönlichen Helden mit seinen persönlichen Schwächen gegen die Verhältnisse stellen, und dabei muss unter den Tisch fallen, dass Kokain eine gänzlich unpersönliche, für Südamerika sozio-ökonomisch und politisch gefährliche Dimension birgt, die mit der Konsumseite überhaupt nichts zu tun hat. 

Dass Maradonas Sympathiebekundungen für Fidel Castro sowie der Entzug auf Kuba thematisiert werden, passt zu der zumindest unterstellten stetig linken politischen Haltung des Fußballers. Insgesamt lässt der Stoff kaum Rückschlüsse darauf zu, wie reflektiert die Figur dies vertreten hat. Die Novellenfassung lässt die Kuba-Episoden als folgerichtige vor dem Hintergrund einer immer schon da gewesenen sozialistischen Gesinnung erscheinen. Auch hier kann ich mich eindrücklich an die zeitgenössischen Inszenierungen erinnern, die kritischen Medienurteile. Ich konnte mich der Kritik im Herzen nicht anschließen, auch wenn ich wusste, dass es sich um einen dramaturgischen Fehler Maradonas handelte. Wie gesagt: Maradona mag ein Künstler am Ball gewesen sein, den Stoff seines Lebens beherrscht er nicht. Vielmehr beherrscht dieser ganz und gar ihn. 

Kurz vor dem Ende der Erzählung, die nach dem Wendepunkt vielleicht ein wenig zu lang geraten ist, macht das Erzählmedium noch einmal klar – falls es nicht vielfach klar geworden ist –, dass Maradona die Inkarnation seines Volkes ist (1:24:50). Zwar wird dies auf Argentinien bezogen, aber eigentlich gilt es auch für Neapel: „Und wenn die Hand Gottes […] mehr wäre als naive Phrasendrescherei, sondern nichts anderes bedeutete als die Treue zu einer Welt, die die Begüterten immer übersehen wollen, in denen die Armen zu Hause sind? Maradona hat diese Welt nicht vergessen.“ (1:25:59) Danach folgen Aufnahmen von Maradonas Bädern in der Masse.

Rosé Erzählung ist letztlich ein bisschen formlos geraten, aber immerhin gibt das Underdog-Narrativ insofern einen gelungenen Falken her, als es an ein Ding-Symbol, nämlich an Maradonas Körper geknüpft wird. Ebenso durchgängig, wie auf die Probleme der Unterprivilegierten verwiesen wird, werden kranke und schmerzende Körperteile Maradonas wiederholt in Szene gesetzt. Wiederholung ist insgesamt ein wesentliches Strukturelement dieser Erzählung, die dadurch ganz wunderbar sentimental und gelungen ist. Nun bin ich ja ohnehin keine Freundin der Tragödie, sondern der Prosa, sodass ich den tragischen Stoff selbst und Rosés Film-Novelle der Tragödien-Fassung jederzeit vorziehen würde.

Der Leib des Maradona

Ohne dies an die beiden diskutierten Fassungen binden zu wollen, sei der Leib Maradonas noch einmal eigens reflektiert. Es sollte nicht erstaunen, dass es bei einem Fußballspieler in großem Maß um dessen Körperlichkeit geht. Natürlich muss an die zahlreichen Szenen erinnert werden, in denen Maradona seine Gegner mit dem Ball gekonnt umspielt. Man denke außerdem an die vielen Aufnahmen, in denen er Tennis- und Golfbälle ebenso geschickt in der Luft hält wie den Fußball. Unbedingt erwähnenswert ist aber auch, dass Maradona ein phantastischer Tänzer war. Auch dieser Eindruck ergibt sich nicht zufällig, sondern seine Tänze wurden oft gefilmt und gezeigt. Singen konnte er ganz ostentativ außerdem auch. Wie gesagt: Dem Stoff selbst haftet das Dionysische an. 

Man könnte auch vom Karnevalesken sprechen, weil die Verschmelzung des ‚niederen‘ Volkes im Medium Maradona so deutlich zum Ausdruck kommt. Und dabei verschmelzen auch leibliches und metaphysisches Dasein, inkarniert Maradona doch als Kippfigur die Hand Gottes und den Fuß des Volkes.[4] Im Personenkult um Maradona konvergieren archaisch-mythische, katholische und sozialistische Züge. 

Dass mit Maradona wirklich nicht weniger als eine Erlöserfigur im Spiel ist, wird daran deutlich, dass er in bildlichen Inszenierungen und narrativen Stilisierungen immer wieder leiblich für das Fan-Volk herhalten muss. Das Training wird gefilmt. Maradona schwitzt und zieht Grimassen. Sein Fuß bricht, und wir sehen ihn mit Schmerzen auf der Bahre liegen sowie die Bilder von seiner OP. Nach dem Drogentest wird sein getrübter Urin der Welt vorgeführt. Angeblich hat eine Krankenschwester sein Blut in eine Kirche gebracht, nachdem sie es ihm abgenommen hatte. Usw. usf. 

Die Exegese des Stoffes sowie seiner künstlerischen Bearbeitungen neigt sich im Jahresendstress einem kontingenten Ende zu, denn es gibt noch so viele Fassungen – und einige davon in Gänze auf YouTube –, die einer näheren Betrachtung würdig wären, aber hiermit sei die Untersuchung des mythischen Stoffkreises eingeleitet und anderen überlassen. Vielleicht wären minimale Kompetenzen auf dem Gebiet des Fußballs für eine folgende Erörterung nötig. Staffelübergabe…

 

Anmerkungen

[1] Hartwig Tegeler: Doku über Diego Maradona. Ein Leben wie eine griechische Tragödie. In: Deutschlandfunk Kultur.

[2] Die möchten vielleicht fundiertere Texte zum Fußball aus literaturwissenschaftlicher Sicht lesen: Nikolas Pethes: Rhetorik des Fußballs. In: SportZeiten 12/2 (2012), S. 7-17; Torsten Hahn / Nikolas Pethes: Weiße Brasilianer oder das Wunder von Yokohama. In: Susanne Catrein / Christof Hamann (Hg.): Was Fussball Macht. Zur Kultur unseres Lieblingsspiels. Göttingen 2014, S. 245-258; Nikolas Pethes: Wir, die Tore – Vorüberlegungen zu einer Literaturgeschichte des Fußballs. In: Eva Kreisky / Georg Spitaler (Hg.): Arena der Männlichkeit. Über das Verhältnis von Fußball und Geschlecht. Frankfurt a.M./New York 2006, S. 66-82; Nicolas Pethes: WM 2018 in Russland – ein Videobeweis. In: Pop. Kultur und Kritik 13 (2018), S. 10-16.

[3] Die Textfassungen divergieren übrigens, und ich bin nicht in der Lage aus dem Gesang die entscheidende Stelle exakt herauszuhören.

[4] Außerdem muss man in dem Kontext noch einmal Moritz Baßlers zu Ausführungen von Elvis Presley gegenlesen (Moritz Baßler: Leitkultur Pop? Populäre Kultur als Kultur der Rückkopplung.)

 

Maren Lickhardt ist Assistenzprofessorin am Institut für Germanistik der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck.