Methodisch schwache Theorie
In den 1990er Jahren schieden sich akademische und andere Geister an der seinerzeit immer populärer werdenden ,Maschinenmusik‘ Techno und den damit einhergehenden sozialen Praxen. Während die Musikwissenschaft die repetitiven Patterns und neuartigen popmusikalischen Sounds nur in Ausnahmefällen überhaupt einer näheren Betrachtung für wert befand, um sie dann etwa als „reizlos“ abzutun (Jerrentrup 1992), bot die Jugendkultur Techno der Kulturwissenschaft und Soziologie ein weiteres, offensichtlich willkommenes Untersuchungsfeld (u.a. Poschardt 1995, Klein 1999, Hitzler/Pfadenhauer 2001).
Auch die Technoszene selbst zeichnete sich in Teilen durch ein hohes Maß intellektueller Reflexion aus, die zunächst zumeist in diversen szeneinternen Magazinen ihren Niederschlag fand. Mit Techno (Anz/Walder 1995) lag darüber hinaus bereits recht früh ein bemerkenswertes Kompendium vor, in dem Szene-Protagonisten die Geschichte und den seinerzeitigen Status von Techno aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen Zugängen darstellten.
Die unlängst erschienene Publikation Techno Studies: Ästhetik und Geschichte Elektronischer Musik (Feser/Pasdzierny 2016) greift nicht nur die Covergestaltung von Techno auf, sondern auch dessen zugrunde liegende Konzeption.[1] Allerdings beschäftigen sich viele der Beiträge in Techno Studies mit methodologischen Problemen bei der Erforschung und Darstellung des Phänomens Techno und stellen insofern Reflexionen bisheriger Reflexionen des Genres und seiner Protagonisten dar, was zu begrüßen ist.
Die wissenschaftliche Arbeit der Rekonstruktion und Interpretation lebensweltlicher Phänomene, aber auch die Reflexion so erarbeiteter Darstellungen, basiert notwendigerweise vielfach auf unterschiedlichsten Quellenmaterialien. Daniel Schneider, Mitarbeiter des Berliner Archivs der Jugendkulturen, erläutert in dem Artikel Party im Schuber (Schneider 2016) seine diesbezüglichen Aktivitäten. Dabei wird deutlich gemacht, dass einerseits eine Anbindung von Forschenden an die Technoszene sehr hilfreich ist, anderseits aber gerade bei kritischer Forschung eine neutrale Position gegenüber deren verschiedenen Fraktionen und entsprechenden Auseinandersetzungen geboten erscheint (92 f.).
Die akademische Beschäftigung mit Techno sowie den damit einhergehenden sozialen, kulturellen und körperlichen Praxen lassen sich unter dem Label ‚Electronic Dance Music Culture Studies‘ (EDMCS) subsumieren. Dieser Ansatz geht mit einem allgemeinen „practice turn“ der Humanwissenschaften einher, wie Rosa Reitsamer in ihrem Beitrag Die Praxis des Techno (Reitsamer 2016) betont. Die Nähe von Forschenden zum jeweils untersuchten Phänomen, etwa durch die Methode der teilnehmenden Beobachtung, bietet einerseits Chancen, immenses, teilweise internes Wissen zu erlangen, kann aber zu methodologischen und ethischen Problemen führen, was ein klassisches, aber wohl reflektiertes Dilemma der Ethnographie darstellt (Bernhard 2011: 256 ff.).
Mit Hilfe von vier Interviews mit Forschenden weist Luis-Manuel Garcia in seinem Artikel Anonym, verkörpert, anders (Garcia 2016) in Techno Studies auf weitere oder zumindest intensivierte Problematiken ethnographischer Feldarbeit in queeren Szenen hin. Deren spezifische Bedingungen erfordern teilweise neue Forschungsmethoden. Darüber hinaus plädiert Garcia, mit Bezug auf Eve Kosofsky Sedgwick (2003), überzeugend für die Anwendung eines Konzeptes der ,schwachen Theorie‘, das die jeweiligen lokalen und sozialen Kontexte beachtet und detailliert untersucht.[2]
Die Oral History stellt ebenfalls die erwünschte Nähe zum Untersuchungsgegenstand durch Interviews mit Zeitzeugen her. Mehrere Veröffentlichungen der letzten Jahre (Teipel 2001, Denk/von Thülen 2012, Esch 2014) haben diesen Ansatz publikumswirksam auf die historische Darstellung populärer Musik übertragen, wurden allerdings auch kritisch betrachtet (Kaul 2015). Die TV-Dokumentation ‚We Call It Techno!‘ rekonstruiert mit Hilfe einer Montage von Zeitzeugeninterviews den Beginn von Techno in Berlin. Julia Keilbach (2016) weist in ihrem Artikel in Techno Studies zurecht darauf hin, dass auch in diesem Film die Auswahl und Anordnung der Interviewausschnitte letztendlich lediglich ein bereits bestehendes Narrativ des ,versteckten‘ Autors illustrieren (Keilbach 2016: 97). Dieses blendet überdies die internationale Dimension von Techno und die Rolle homosexueller Akteure nahezu aus (101 f.). Durch die gewählte Form der Montage und die kurze Dauer der jeweiligen Passagen werden die methodischen Vorgaben der Oral History nicht erfüllt (97 f.), sodass eine durchaus gegebene Chance zu einer nüchterneren Rekonstruktion dieser immens wichtigen und spannenden Frühphase der Techno-Geschichte nicht genutzt worden ist.
Auch in Matthias Pasdziernys hervorragendem Artikel ‚Das Nachkriegstrauma abgetanzt‘? finden sich Hinweise auf bestehende Problematiken bezüglich der Aussagen von Zeitzeugen. Pasdzierny skizziert, wie zunächst Artikel in massenmedialen Formaten die hedonistische Techno-Bewegung und das Event der Loveparade als Absage an die Traumata der deutschen Geschichte und als Beginn einer neuen, ,gereinigten‘ deutschen Identität interpretierten (Pasdzierny 2016: 115 ff.). Dieses Narrativ scheint nachfolgend jedoch auch die Erinnerung von damaligen Protagonisten erheblich beeinflusst zu haben, was mit dazu beitrug, dass Techno ein, mittlerweile selbstverständlich wirkender Bestandteil des ,Soundtracks der Wende‘ werden konnte (siehe u.a. Denk/von Thülen 2012).
Neben Trance erwies sich Minimal als weiteres Technosubgenre in Deutschland als besonders wirkungsmächtig und erscheint dadurch zugleich vielfach als ,deutsch‘ konnotiert. Diese Entwicklung und Diskurse um ,Minimal‘, als Genre-Präfix oder auch ästhetisches Paradigma jeglicher elektronischer Populärmusik, werden von Sean Nye in seinem sehr interessanten Artikel Von ,Berlin Minimal‘ zu ,Maximal EDM‘ (Nye 2016) kritisch betrachtet. Der Film Fraktus (Germany 2012) erzählt einen offensichtlich ,gefaketen‘ Mythos vom Ursprung des Techno im Kontext der experimentelleren Varianten der Neuen Deutsche Welle (NDW). Trotz des fiktionalen Charakters des Films ist diese These nicht ganz so abwegig, wie sie zunächst vielleicht erscheinen mag, zumindest aus heutiger Perspektive betrachtet. Dies wird im Gespräch der Musiker Jacques Palminger and Carsten Meyer, aka Erobique in Fraktus – ein Techno-Mythos (N.N. 2017: 139 ff.) deutlich.
Barbara Volkwein legte 2003 mit What´s Techno eine erste umfassendere deutschsprachige musikwissenschaftliche Arbeit zu diesem Genre vor. In ihrem Beitrag Klangzeitgeschehen (Volkwein 2017) beschreibt sie nun im Rahmen von Techno Studies ihr heutiges musikwissenschaftliches Konzept. Angesichts der methodologischen Probleme bei der Analyse von Techno-Tracks schlägt sie eine Kombination von traditionellen und neuen Methoden vor, wobei zu den letzteren auch die teilnehmende Beobachtung und die Beschreibung von Sounds und klanglichen Texturen gehört.[3]
Die Richtigkeit dieser Herangehensweise an das für Techno zentrale, aber für die Musikwissenschaft bisher analytisch problematisch bleibende Phänomen Sound wird von dem Artikel Boomende Bässe der Disco- und Clubkultur (Papenburg 2016) bestätigt und um zusätzliche Aspekte erweitert. Jens Gerrit Papenburg weist zunächst völlig zurecht auf die immense Bedeutung von Klub-Anlagen und anderen technische Aspekte, wie etwa das Schneiden von Maxi-Singles, für die Reproduktion und Rezeption von Dance Musik seit den 1970er Jahren hin, die sich auch in der Produktion von Tracks niederschlagen. Die,aus diesen technischen Spezifika resultierenden körperlichen Aspekte des ,Klub-Erlebnisses‘ werden im Rahmen konventioneller musikwissenschaftlicher Analyse nicht wahrgenommen, wodurch zugleich ein zentraler ästhetischer Aspekt dieser Art von Musik ignoriert wird (195).
Bei der Produktion von Techno und anderen Stilen elektronischer Populärmusik spielten Sequenzer, die repetitive Pattern (,Loops‘) erzeugen, von Anbeginn an eine zentrale Rolle, woraus sich auch ästhetische Implikationen ergeben. Mitherausgeber Kim Feser weist in seinem Beitrag Ein Sequenzer kommt selten allein (Feser 2016) darauf hin, wie etwa Moog- Synthesizer oder die Drum-Machine Roland 808 und insbesondere deren Kombination die bestehenden Unterscheidungen zwischen Musikern, Instrumenten und Maschinen sowie zwischen Komposition und technisch generierten Prozessen oder zwischen digitaler Software und analoger Hardware in Form von elektronischen Instrumenten verwischen. Die Stile der elektronischen Populärmusik sind gekennzeichnet durch ein komplexes Wechselspiel zwischen technischen Innovationen, ästhetischen Diskursen und einer musikalischen Praxis (235), die auch ,falsche‘ Verwendung von ,Geräten‘ impliziert (232).
Insofern kann dieser Art von Musikproduktion, zumindest teilweise, auch als experimentell bezeichnet werden, was im Artikel Kreuzmodulationen (Goldmann 2016: 162) deutlich wird. Goldmann unternimmt an dieser Stelle den höchst interessanten Versuch, eine Techno-Ästhetik zu skizzieren, die auf der auditiven Wahrnehmung des musikalischen Materials basiert. Dessen Ausgangsmaterial wird, im mittlerweile als ,klassisch‘ zu charakterisierenden Ansatz, vor allem durch ein jeweils gewähltes ,line-up‘ verschiedener elektronischer Instrumente erzeugt und mit Hilfe von Filtern, Effekten sowie mit Hilfe der FM-Synthese umfangreichen Sound-Manipulationen unterzogen.
Während Stefan Goldmann auf die theoretischen Konzeptionen des neuronalen Lernens Bezug nimmt, zieht Martha Brech in ihrem Beitrag Zwischen den Ohren (Brech 2016) erneut die mittlerweile wohl mehr als bekannte Verbindungslinie zwischen dem Musikstil Techno und der poststrukturalistischen Philosophie von Gilles Deleuze and Félix Guattari (Deleuze/ Guattari 1997), die explizit durch die Aktivitäten des Frankfurter Labels Mille Plateaux propagiert worden ist. Diese Art von höchst konzeptionell angelegtem Techno und die umfassende theoretische Reflexion seiner vorgeblich ,deterritorialisierenden‘ Effekte hatte ihre Hochzeit in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Heutzutage böten denn auch das Genre Glitch Hop und nachfolgende Entwicklungen sicherlich geeignetere Forschungsobjekte für derart basierte musikästhetische Überlegungen.
Diedrich Diederichsen verweist in seinem Beitrag Vom Ereignis erzählen (Diederichsen 2107) auf eine oft angenommene gegenkulturelle Dimension von Techno. Dabei sieht er insbesondere den Aspekt der körperlichen Erfahrung in einer psychedelischen, zumindest nicht explizit politischen Tradition der 1960er Jahre.
Der Kulturwissenschaftler Jochen Bonz geht in seinem Artikel Am Nullpunkt der Identifikation (Bonz 2017) der höchst interessanten Frage nach den ,Bedeutungen‘ der überwiegend instrumentalen Musik Techno nach. Dem bereits erwähnten poststrukturalistisch inspirierten Interpretationsansatz einer alternativen Identifikation des Subjektes und dessen potentieller Befreiung mittels Techno ( Gilbert/Pearson 1999) stellt er die These gegenüber, dass gerade Techno flüchtige Formen der Identifikationen anbietet, die mit seiner semantischen und semiotischen Offenheit korrespondieren (Bonz 2016: 47 ff.).
Demgegenüber ließe sich aus musiksoziologischer Sicht sicherlich einwenden, dass sich zahlreiche Protagonisten der Techno-Szene sehr wohl längerfristig mit bestimmten Künstlern, Tracks, Labels oder auch Klubs dieses Bereiches identifizieren. Dass Techno denn auch längst nicht so fernab genereller Konventionen Populärer Musik ist, wie gelegentlich behauptet und in Techno Studies teilweise wiederholt wird, macht der Artikel Kommunikative Strategien und Ideologien von Liveness bei Laptop-Performances (Butler 2016) deutlich. Dort analysiert der Musikwissenschaftler Mark Butler, wie durch die Performance von DJs die bekannte Kategorie ,Authentizität‘ auch im Bereich elektronischer Populärmusik reaktualisiert wird.
Rosa Reitsamer weist in ihrem Artikel, dies ergänzend, völlig zurecht darauf hin, dass das körperliche Agieren von DJs im Klub ebenso Teil ihres subkulturellen Kapitals (Thornton 1995) ist wie etwa ihr Wissen um das jeweilige Genre oder die ,Selection’ ihrer Sets. All dies muss im Kontext bestehender Szene-Hierarchien sicherlich kritisch gesehen werden, die insbesondere mit der Kategorie ‚Gender‘ einhergehen (Reitsamer 2016: 32 ff.).
Schon früh etablierte und gelegentlich noch immer anklingende ,Techno-Ideologien‘ einer egalitären und prinzipiell widerständigen Szene erscheinen als vor allem durch den jeweiligen politischen Standpunkt geprägte Projektionen von Protagonisten, die gerade durch szeneinterne Medien verbreitet worden sind (u.a. Laarmann 1994) und wohl auch von manchem Analysten allzu unkritisch aufgegriffen wurden. Des Weiteren führt eine leider ebenfalls nicht selten anzutreffende, unzureichende Wahrnehmung und Reflexion des afro-amerikanischen Ursprungs von House und Techno zu Fehlinterpretationen. Bei Beachtung dieser Traditionslinie erscheinen denn auch musikalische Charakteristika, wie repetitive Patterns oder intensive Soundmanipulationen, weder als reines Ergebnis neuer technischer Möglichkeiten oder gar als plötzlicher Bruch in der Musikgeschichte, sondern vielmehr als zentrale stilistische Merkmale, die auch in Genres wie etwa Rhythm’n’Blues, Funk, Disco oder Hip-Hop zu finden sind.
Trotz dieser kritischen Anmerkungen zur bisherigen Reflexion über Techno, stellt die Publikation Techno Studies: Ästhetik und Geschichte Elektronischer Musik (Feser/ Pasdzierny 2016) sicherlich einen sehr wichtigen neuen Beitrag zu einem kritischen Diskurs rund um Genres dar, die auch unter dem – mittlerweile nicht mehr unproblematischen (Rietvield 2013: 2 f.) – umbrella term EDM (Electronic Dance Music) subsumiert werden.[4]
Anmerkungen
[1] Der DJ, Journalist und langjähriger Herausgeber der De:Bug Sascha Kösch ist überdies als Autor in beiden Veröffentlichungen vertreten.
[2] Dieser Ansatz erscheint allerdings nicht nur im Zusammenhang mit der ethnographischen Forschung in queeren Szenen sinnvoll.
[3] Irritierend wirkt allerdings, dass der Untertitel von Volkweins Artikel „Werkanalyse elektronischer Clubmusik“ (Volkwein 2016: 171) lautet. Hier mag der Begriff der Werkanalyse in rhetorischer Absicht verwendet worden sein, allerdings geht ja auch aus dem Beitrag hervor, dass die traditionellen Analysekriterien der Musikwissenschaft, die eben an ,Werke‘’ wie etwa Symphonien entwickelt wurden, unzureichend sind. Daher scheint es geboten, auch terminologisch die Eigenständigkeit popmusikalischer Analytik zu betonen und in diesem Zusammenhang den ideologisch überfrachteten Begriff des ,Werkes‘ außen vor zu lassen, zumal sowohl Produktion und Rezeption elektronischer Clubmusik denn auch erhebliche Unterschiede zu der von ,Werken‘ aufweist. Interessanterweise spricht dann auch Martha Brech im Untertitel ihres Artikels von „konzertante[m] und hörorientierte[m] Techno“ (Brech 2016: 183). Auch dies ist missverständlich, da Techno auch als ,reine’ Tanz- und Clubmusik zweifelsohne auditiv wahrgenommen wird. Darüber hinaus haben die Veröffentlichungen des Labels Mille Plateaux, auf die Brech sich bezieht, nur höchst bedingt jenen ,konzertanten‘ Charakter, den die Neue Musik von Karlheinz Stockhausen und anderen, in der europäischen Kunstmusiktradition stehenden Komponisten, auszeichnet.
[4] Hillegonda Rietvield weist völlig zurecht darauf hin, dass der Begriff EDM mittlerweile eine kommerziell motivierten stilistischen Verengung erfahren musste (Rietvield 2013: 2 f.).
Literatur
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Bibliografischer Nachweis:
Kim Feser/Matthias Pasdzierny
Techno Studies. Ästhetik und Geschichte elektronischer Tanzmusik
Berlin 2016
b_books
ISBN 978-3-942214-25-4
248 Seiten
Timor Kaul promoviert mit seinem Vorhaben „Lebenswelt House / Techno: DJs und ihre Musik“ am Institut für Europäische Musikethnologie der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Darüber hinaus betätigt er sich als freier Autor und Referent vor allem zu Themen der elektronischen Populärmusik.