Eine Pop-Bestimmung
[Zuerst erschienen in der Zeitschrift »Pop. Kultur und Kritik«, Heft 1, Herbst 2012, S. 88-107]
Die Wertfrage
Seit Mitte des 20. Jahrhunderts hört man häufig den Begriff ›Pop‹. So rasch das Wörtchen ausgesprochen oder hingeschrieben werden kann, so groß seine Wirkung. Komposita wie Popmusik, Popstar, Pop-Art und Popkultur sind ein Anzeichen für die weite Verbreitung von Pop in den westlichen Gesellschaften. Die beiden letzten Begriffe zeigen zudem an, dass Pop andere Meriten erlangen konnte, als allein aufgrund weiter Verbreitung und wirtschaftlicher Profite gemeinhin zu erzielen sind.
Zweifellos ist das ein Erfolg all jener, die seit den 1950er Jahren für eine kulturelle Anerkennung von Pop gestritten haben. Ein großer Teil des allgemeinen Redens über Pop bestand genau darin, diese Anerkennung zu betreiben und zu begründen. Das geschah auf zwei Arten und Weisen: Erstens indem man dekretierte, dass Flüchtigkeit, Oberflächlichkeit, Eingängigkeit, Künstlichkeit positive (und nicht, wie zuvor üblicherweise angenommen, negative) Eigenschaften seien. Die Umwertung war nicht selten mit dem typisch modernen Argument verbunden, Pop sei zeitgemäß: Die platonische Kunstauffassung sei veraltet, an ihre Stelle müsse in der schnelllebigen Gegenwart eine Ästhetik des Flüchtigen treten; die Abwertung des Äußerlichen zugunsten des Wesens oder innerlicher Tiefe sei einer nachmetaphysischen, unchristlichen Zeit unangemessen, etc. Die zweite Verteidigung oder gar Affirmation von Pop setzte wissenschaftlicher an, in empirischen Studien wie in theoretischen Grundsatzdebatten. Hier ging es vor allem um den Nachweis, dass Pop-Phänomene nicht bloß (oder sogar wenig) zur Passivität, Verrohung, Verdummung, Stereotypenbildung, Standardisierung beitragen. Von liberalen Systemtheoretikern und Rezeptionsästheten über wohlmeinende Pädagogen bis hin zu sozialistischen oder radikaldemokratischen Vertretern der Cultural Studies haben sich viele Richtungen dabei hervorgetan.
Ich setze das alles in die Vergangenheitsform, nicht um anzudeuten, dass man auf diese Argumentationsweisen heute kaum mehr trifft, sondern um das Urteil zu unterstreichen, dass die Schlacht weitgehend geschlagen ist. Mehr als genügend Leute haben sich besagte Lobes- und Verteidigungsweisen zu eigen gemacht, um den Rang von Pop in der kulturellen Hierarchie im oberen Bereich zu behaupten. Die Argumente sind mittlerweile fest verankert, teilweise werden sie sogar institutionell beschwert, man braucht sie deshalb nicht mehr stetig wiederholen oder ausdrücklich betonen. In der Praxis von Feuilletonisten und Wissenschaftlern, sich ausführlich und differenziert zu vielen einzelnen Pop-Gegenständen zu äußern, schwingen sie häufig unausgesprochen mit.
Es soll natürlich nicht bestritten werden, dass die Auseinandersetzung weiter geführt werden könnte, um noch mehr Pop-Anteile im Schulunterricht, noch mehr Tantiemen für Pop-Komponisten, noch mehr musealen Raum für Pop-Art-Werke, noch mehr Zeit für Pop-Sendungen in öffentlich-rechtlichen Medien durchzusetzen – aber außer wenigen liberalen Anti-Etatisten will diesen Kampf wohl niemand führen. Auch der Streit um mehr Platz in den Feuilletons der privatwirtschaftlichen Zeitungen scheitert heutzutage schlicht daran, dass weitere Forderungen (wie gut begründet auch immer) fast unverschämt erscheinen würden. In beinahe allen anderen Sektoren der kapitalistischen Wirtschaft stellen sich solche Fragen ohnehin nicht, schließlich versprechen sehr viele Pop-Waren zumindest für kleine, häufig aber auch für große Firmen akzeptable Renditechancen, oftmals ganz unabhängig davon, ob die Waren als kulturell wertvoll gelten oder nicht.
Vier wichtige Pop-Konzepte
Dennoch sind die allgemeinen Debatten rund um Pop keineswegs an ihr Ende gelangt. Wenn es auch nicht mehr grundsätzlich darum gehen muss, Pop einen Kulturnimbus zu verleihen, bleiben genügend prinzipielle Fragen und Antworten übrig. Vor allem die Beantwortung der Frage zum politischen Stellenwert der Pop-Phänomene ist oft für entschieden vorgetragene, deutlich zugespitzte oder ausführlich entfaltete Pop-Konzepte gut gewesen. Vier bemerkenswerte historische Varianten, die alle in die Gegenwart hineinreichen, sind zu verzeichnen:
Erstens die Einordnung von Pop in den kulturindustriellen Komplex, verbunden mit der seit den 1960er Jahren sehr bekannten kritischen Diagnose, dass Pop als besonders standardisiertes Kommerzprodukt die Einübung ins musterhaft autoritätshörige, gedanken- wie freudlose Verhalten betreibe und zugleich die Vollendung des Niedergangs autonomer Kunst darstelle. Die Freiheitsspielräume in der Freizeit, die Pop eröffne, sowie die von vielen verspürten sinnlichen Pop-Sensationen seien bloß Scheinfreiheiten, leider erfolgreiche Konditionierungsversuche und Ablenkungen vom Ziel einer wahrhaft zwanglosen Gesellschaft.
Dagegen steht – zweitens – teilweise die linke bzw. radikaldemokratische Auffassung an, die Pop als Ausdruck oder Werkzeug von Subkulturen ansieht, die zwar nicht politisch organisiert sind, aber durch ihren Hedonismus und ihre eigenständige Aneignung kulturindustrieller Erzeugnisse der herrschenden Ordnung alltäglichen Widerstand entgegensetzen.
Aus dem Widerspruch zur Kulturindustriekritik ist auch die dritte Position entstanden. Sie kassiert die Hoffnung auf eine autonome, menschliche Kreativität allseits befördernde Kunst ein, weil sie dieses Ziel als offizielle, kulturfromme Staatsdoktrin und wichtigen Bestandteil einer depolitisierenden Alternativbewegung ausmacht und verachtet. Im radikalen Gegenzug setzt sie darum auf die Glätte, Oberflächlichkeit, Funktionalität von Pop als politisches Projekt (ein vorgeblich politischer Zug natürlich nicht im Sinne einer bestehenden Partei, sondern gespeist aus Boheme und ›Salonbolschewismus‹).
Abgesetzt von allen drei mehr oder minder linken Positionen ist – viertens – die liberale Pop-Affirmation. Sie geht über die allgemeine liberale Haltung, Aktivitäten in der Freizeit und in der Privatsphäre vor restriktiven Eingriffen zu schützen, hinaus und ist deshalb als besonderes Pop-Konzept einzustufen. Pop wird von diesen Liberalen hervorgehoben und ausdrücklich bejaht, weil sie darin einen Motor ihres Projekts sehen, moralische Einschränkungen und konservative Traditionen zugunsten einer demokratisch geöffneten Kultur und freien, entgrenzten Unternehmertums zu beseitigen.
In der Gegenwart der 2010er Jahre haben all diese Positionen ihren Platz gefunden, wenn auch in veränderter Form und Bedeutung. Die Kritik am kulturindustriellen Pop findet man nur noch selten in adornitischer Schärfe und Reichweite vor, sie hat aber überlebt in vielfältigen Ansätzen der Kritik an der Kommerzialisierung, an der Celebrity-Kultur etc. Diese Anwürfe kommen freilich in den meisten Feuilletons oder bei Geschmacksurteilen von Angehörigen der Mittelschicht derart entkräftet daher, dass nur ganz bestimmte, ohnehin von ihnen als künstlerisch minderwertig angesehene Pop-Phänomene (Dieter Bohlen und, bei härter ausgreifender Kritik, Lady Gaga) dem Kommerzialismus-Vorwurf ausgesetzt werden.
Die Cultural-Studies-Richtung (Pop als subkultureller, alltäglicher Widerstand) hat eine andere Wandlung durchlaufen. Unter ihren Vertretern haben sich die allermeisten von den (männlichen) Arbeiterjugendlichen als möglichen Verfechtern solchen Widerstands mittlerweile verabschiedet. Durch die Hinwendung zu queeren Szenen, die sich der künstlichen Objekte und Moden des Pop spielerisch bedienen, besitzt der Ansatz jedoch auch heute Zugkraft. Mit einem liberalen Projekt möchte der queere Subversionspop weiterhin nicht verwechselt werden. Bei vielen seiner Anhänger liegt die (meist recht vage) Absicht zugrunde, ein dezentriertes, deterritorialisiertes (früher hätte man gesagt: anarchistisches) Multiversum zu schaffen. Dass die queeren, als gegenkulturell gedachten Verwirrungen in liberal-kapitalistischen Staaten zumindest in großen Städten und in beachtlichen Teilen der Öffentlichkeit für keine Aufregung mehr sorgen, sondern im Gegenteil als unterhaltsame oder private Vorlieben toleriert oder gar geschätzt werden, stellt deshalb für sie ein Problem dar. Im Gegensatz zu den Kulturindustriekritikern, die sich am Schematismus von Pop stören, glauben einige von ihnen sogar, dass der Kapitalismus heutzutage vor allem fortwährende kreative Abweichungen und künstlich-modische Differenzen benötige, um seine Maschinerie am Laufen zu halten. Zumeist löst die Mehrheit der Queer-Verfechter das Dilemma aber einfach auf bzw. ignoriert es, indem sie ganz bestimmte Protagonisten und Versuche ablehnen und mehr Radikalität einfordern (etwa an die Stelle Lady Gagas Genesis P-Orridge setzen).
Die Pop-Liberalen muss das nicht kümmern, solange auch diese radikalen Formen wie üblich in erster Linie ihren Platz in Clubs, Galerien und Museen suchen oder zumindest finden. Nachdem die bunte popliberale Anschauung mit der Selbstauflösung des grauen Sowjetblocks triumphieren konnte, ist ihr gegenwärtiges Problem vielmehr, dass die rasch aufstrebende illiberale Macht China die modernistische Popkultur von Cola bis Prada keineswegs für unverträglich mit ihrem Modell des staatlich organisierten Kapitalismus und der autoritären Parteiherrschaft hält. Die Sicherheit, dass Pop, Liberalismus und Kapitalismus untrennbar zusammengehören, gerät darüber ins Wanken. Im Westen allerdings ist der Zusammenhang mittlerweile derart durchgesetzt, dass sich kaum mehr wirkungsvoller konservativer Protest dagegen organisieren lässt.
Dazu beigetragen hat (aus künstlerischen und intellektuellen Kreisen heraus) nicht zuletzt die antialternative Pop-Affirmation der 1980er Jahre. Zwar ist sie als ›salonbolschewistisches‹ politisches Vorhaben rasch gescheitert, umso größer bleibt bis heute ihr Erfolg, den Kanon der Avantgarde und der Boheme (in dem sich nicht nur Baudelaire und Gertrude Stein, Varèse und Charles Mingus, sondern auch schon Grateful Dead und Zappa, Warhol und Roxy Music befanden) um Gruppen wie Chic, das Design von McDonalds, das Layout der »Bild«-Zeitung etc. zu erweitern. Im großen Publikumssegment der Mittelschichten hat sich dieses Prinzip schnell in moderater Weise geltend gemacht; dort stehen sich jetzt Disco und Rock, Picasso und Pop-Art, Tatort und Simpsons, Tom Cruise und Tarantino nicht mehr zwingend feindlich gegenüber.
Die Bilanz fällt darum in einer Hinsicht einfach aus: Alle vier groß ansetzenden Pop-Konzepte haben einen gemeinsamen Gegner weit hinter sich gelassen – den bildungsbürgerlichen Konservatismus. Aus der Konkurrenz untereinander geht der Pop-Liberalismus heute aufs Ganze gesehen als klarer Sieger hervor. Widerspruch dagegen wird jedoch keineswegs bloß von machtlosen Stellungen aus eingelegt. In den Universitäten, modernen Museen, zeitgenössischen Galerien, mit künstlerischem Anspruch operierenden Veranstaltungsstätten, Verlagen, öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehredaktionen, intellektuellen Feuilletons, in Hip-Illustrierten und auf ungezählten kleinen Internetseiten dominieren die Ansichten und Vorlieben der anderen drei Pop-Fassungen und -Deutungen. Weil sie sich aber in recht vielen Fällen distanziert gegenüberstehen und vor allem weil sie in den meisten Fällen nicht einmal versuchen, sich mit Kräften außerhalb der Boheme, der Kunstwelt und der kulturwissenschaftlichen Fakultäten zu verbünden, bleibt ihr Einfluss auf einige wichtige Sektoren der Publizistik, Pädagogik, Wissenschaft und der modernen Kunst beschränkt.
Eine Pop-Bestimmung
Aus diesen Kreisen stammen auch die meisten wichtigen Beiträge im dritten entscheidenden Bereich der Meinungsbildung zur Lage und zum Zuschnitt von Pop. Neben der ästhetisch-kulturellen Bewertung und der politischen Aufladung ist das die Definitionsfrage. Nachdem der Wertunterschied von Hoch- und Popkultur verringert oder durch manche sogar aufgehoben worden ist, zieht die Definitionsfrage zwar keine äußerst gravierenden Konsequenzen mehr nach sich – es kommt keiner Entehrung mehr gleich, als Pop-Gegenstand oder -Vertreter angesehen zu werden –, Bestimmungen, was unter Pop zu verstehen ist und was nicht, bleiben gleichwohl von Bedeutung. Sie lenken den Blick auf bestimmte Formen oder bringen diese erst hervor, sie bereiten den Boden, auf dem ästhetische Wertungen und politische Aufladungen vorgenommen werden.
Es wäre nun einfach, wenn Pop nur als Oberbegriff für alle Formen von Musik diente, die vor allem von Jugendlichen oft gehört wird. Bereits seit der Pop-Art aber kann die Beschränkung auf einen Bereich der Künste oder Kultur für Pop-Bestimmungen schwerlich das letzte Wort sein. Es wäre auch noch einfach, wenn man Pop allgemein bloß auf eine Komponente reduzieren würde, etwa auf Jugendlichkeit oder auf Schnelligkeit, auf Warenförmigkeit, auf Gegenwartsaufzeichnung, Flüchtigkeit, leichte Verständlichkeit, nicht zuletzt auf Chartstauglichkeit. Das kann man zweifelsohne tun – und tatsächlich wird nicht selten so verfahren –, allerdings mit der Folge, sich stark abzusondern, und mit dem zusätzlichen Preis, mit dem einen Faktor zwangsläufig viele unterschiedliche Phänomene zu versammeln. In den Bücherbestsellerlisten z.B. stehen Autoren wie Walser, Precht, von Schirach, die nun kaum jemand als Pop-Autoren bezeichnen möchte. Und – anderes Beispiel – mit den Jahren und der zunehmenden Ausschöpfung seiner Möglichkeiten bedeutete es für den Pop-Sektor fast das Ende der Geschichte, wenn man Pop exklusiv an Jugendlichkeit, Flüchtigkeit, Schnelligkeit und Gegenwärtigkeit binden würde.
Auch viele gängige Kombinationen von Merkmalsangaben sind problematisch, weil sie zu einem nicht geringen Teil Pop mit Populär- oder Massenkultur identifizieren. Spätestens seit der Pop-Art und der englischen Mod-Bewegung Anfang der sechziger Jahre liegt es aber nahe, Pop entschieden von der Populärkultur und ihren Merkmalen wie Einfachheit, Ursprünglichkeit, Ungekünsteltheit, Gemeinsinn, Verwurzelung im Regionalen, Nationalen oder im Alltagsleben der kleinen Leute zu trennen. Den anderen oft zu lesenden Ansatz, Pop im Sinne der Massenkultur an große, schichtenübergreifende Rezipientengruppen zu binden, an allgemeine Beliebtheit und Verständlichkeit, möchte ich ebenfalls streichen, weil er das Problem mit sich bringt, viele Künstler von Velvet Underground über Rolf Dieter Brinkmann und Mike Kelley bis Patrick Wolf nicht mehr als Pop-Künstler ansprechen zu dürfen.
Ich schlage deshalb sieben andere Bezugspunkte vor, die als unverzichtbare Bestandteile der Pop-Bestimmung dienen sollten: Oberflächlichkeit, Funktionalismus, Konsumismus, Äußerlichkeit, Immanenz, Künstlichkeit, Stilverbund.
Oberflächlichkeit. Pop wendet sich gegen moderne, nüchterne Prinzipien. Die Überzeugung, dass die Form dem praktischen Zweck des Gegenstands dienen müsse, wird nicht geteilt. Eine auffällige Oberfläche, die in keinem Zusammenhang zum Nutzen von technischen Geräten, Häusern, Möbeln steht, markiert das Pop-Design. Die dekorative Verpackung von Gütern weitet das Oberflächen-Prinzip über solche Objekte entscheidend aus; die Ablösung des braunen Umschlags durch das Schallplattencover ist ein bedeutsames Beispiel dafür. Dennoch ist Pop der modernen, asketischen Auffassung »weniger ist mehr« nicht vollkommen untreu. Die Oberflächen des Pop sind vorzugsweise geschlossen, selten verläuft oder vermischt sich etwas. In der Pop-Werbung wie in der Pop-Art sind die Farben nicht nur bunt, sondern vor allem unmoduliert und weisen harte Grenzen zueinander auf.
Funktionalismus. Funktional soll Pop in einer anderen Hinsicht sein, als von der puristischen Moderne gefordert. Pop ist zwar moralisch weitgehend desinteressiert, tritt aber nicht mit dem Anspruch ästhetischer Interesselosigkeit auf. Es gibt hier mehr als einen Zweck: für Belebung sorgen, angenehm erregen, den Körper in Bewegung setzen, Attraktivität erhöhen und eine nette, heitere Stimmung oder eine coole Haltung bewirken.
Konsumismus. Pop tritt dafür ein, dass nicht nur dem tätigen Leben ein hoher Rang zukommt. Sich berieseln, erregen, unterhalten lassen steht ebenso hoch im Kurs. Konsumieren, also verzehren, ist zudem ein Pop-Kennzeichen, weil es den Gegensatz dazu bildet, sich verzehren zu lassen. Bewusstseinsverlust, Aus-Sich-Selbst-Heraustreten, Rausch zählen allenfalls vorübergehend einmal zur Pop-Welt – als Samstagnachtphänomen. Die Grundhaltung von Pop ist anti-ekstatisch.
Äußerlichkeit. Pop hält sich strikt an das sinnlich Gegebene. Auch Ableitungen werden nicht vorgenommen. An Innerlichkeit ist Pop ebenso wenig interessiert wie an psychologischer Umdeutung des Manifesten. In den Augen erkennen Pop-Anhänger einen schönen Glanz, nicht die Seele.
Immanenz. Anders pointiert, bedeutet das: Pop kann mit der Werbung oder den großen Bühnenshows, die sich aus dem historisch-literarischen, mythologischen Fundus bedienen, etwas anfangen, weil es manchmal deren Gestaltung schätzt, nicht deren Bestreben, etwas über das Hör- und Sichtbare Hinausgehendes zu behaupten. Dann muss z.B. das Auto und vor allem dessen sinnliche Präsentation in der Werbung gefallen, die Einprägsamkeit, die Rhetorik, der Klang des Slogans, nicht die ausdrückliche oder nahegelegte Aussage, dass das Auto für Freiheit und Abenteuer stehe. Letzteres ist kein Pop-Bestandteil, sondern gehört der Populärkultur an. Pop kann sich solchen Mythen oder konventionellen Konnotationen nur nähern, indem es deren Zeichengrundlage um des Schauwerts willen aufgreift oder ironisch zitiert.
Künstlichkeit. Im Gegensatz zur Populärkultur steht auch, dass Pop mit dem Natürlichen nichts anfangen kann, außer es zu elektrifizieren, im Studio bewusst aufzusplitten, digital zu modellieren. Plastik, Aufnahme- und Abspielgeräte, Schneideraum, Mischpult, Scheinwerfer, Schminke, Silikon, Dildos, Photoshop, Syntheziser- und Sampler-Software, Spraydosen, Keyboards zählen zu den wichtigsten Instrumenten und Materialien des Pop. Die enge Verbindung von Künstlichkeit und technischen Neuerungen macht es möglich, dass der Popkonsum – selbst bei großem Bemühen um Distinktion – kein Luxuskonsum sein muss. Poster, Haarspray, synthetische Stoffe, elektrische Nähmaschinen, Bleichmittel, bedruckte T-Shirts, Illustrierte, billige Fernseher und Laptops, Flatrates reichen aus, um für Glamour und modische Abwechslung zu sorgen.
Stilverbund. Ein Pop-Gegenstand kommt niemals allein. Nicht nur gehören zum Pop-Objekt der Aufdruck und die Verpackung bindend dazu, ein spezieller Gegenstand steht auch in einer Reihe mit Dingen aus anderen Bereichen. Der Musikstil z.B. ist mit einer Frisur, einer Hose, einem Auto, einer Attitüde verbunden. Auf dieser Ebene endet oftmals die Künstlichkeit des Pop: solche Zusammenstellungen erscheinen dem Pop-Anhänger fast immer unaufhebbar zu sein. Wenn auch nicht durch Transzendenz, Hingabe ans Natürliche oder Glaube an eine tiefe, verborgene Kraft, ersteht zumindest durch das Stilbewusstsein eine konservative Bindung.
Soweit die Liste der Pop-Charakteristika. Zustimmung oder Widerspruch zu diesen Aussagen – als positiver oder negativer Bescheid zur gerne gestellten Frage, ob das denn wirklich so sei, ob Pop oberflächlich sei, konsumistisch etc. – ist erst einmal unsinnig. Das gilt ebenfalls für alle anders ansetzenden Definitionen. Hält man sich an die umherlaufenden Reden über Pop, ist Pop ja weit herumgekommen. Nicht nur nette Liedchen aus dem Radio gehören dazu. Schon seit längerem meint man Pop einerseits an abseitigeren, andererseits an hochoffiziellen Orten anzutreffen, an dunklen Ecken oder in gut ausgeleuchteten Kulturstätten. Pop hat sich aber auch im Londoner Bankendistrikt heimisch gemacht, ebenfalls zählt Pop zur Grundausstattung erfolgreicher politischer Führung. Zumindest ist das alles so, wenn man den Ausführungen verschiedener respektabler Organe folgt. Im Feuilleton ist seit der Finanzkrise 2008 öfter zu lesen, dass entfesselter Finanzkapitalismus und Pop-Hedonismus miteinander verwandt seien. Die unterlegene Kandidatin einer aufstrebenden Partei sieht bei der Berliner Wahl 2011 den siegreichen Bürgermeister im Banne des »Popstar-Populismus«. Pop-Underground und Pop-Avantgarde sind bereits wesentlich ältere Wortzusammenfügungen, die im Bereich der Kultur zum Populismus gegenläufige Phänomene in den Blick nehmen sollen. Aber auch wer Pop als Bestandteil des Mainstream oder der Subversion, als kulturelle Avantgarde oder kommerziellen Populismus, als hübsche Melodie, aufregenden Krach oder beides gleichzeitig bestimmt, hat nichts anderes getan, als seinen Sprachgebrauch zu dokumentieren und festzulegen. Den kann man nicht widerlegen, sondern nur verwerfen – und im zweiten Schritt versuchen, eine andere Definition geltend zu machen, die sich allgemein durchsetzt und somit andere Bestimmungen in Vergessenheit geraten lässt.
Genau das ist die Absicht dieses Essays. Der erste Beweggrund dafür ist, Pop schärfer und präziser als üblich von Populärkultur und Massenkultur zu trennen. Ginge Pop in diesen auf, bräuchte man den Begriff nicht. Das soll natürlich nicht heißen, Pop sei immer elitär oder ein seltenes Produkt manueller Arbeit. Es bedeutet aber, dass Pop nicht zwangsläufig aus den niederen Schichten hervorgehen oder in hoch reproduzierter und rezipierter Zahl vorliegen muss. Nach dem hier vorgeschlagenen Sprachgebrauch gehört ein Lichtenstein-Gemälde ebenso zum Pop-Bereich wie ein Marvel-Comic, Deep Freeze Mice ebenso wie die Bee Gees, James Bond wie die frühen Filme von Jean-Luc Godard, Cecily von Ziegesar wie Richard Meltzer. Die Trennung von Pop, Populärkultur, Massenkultur beruht freilich keineswegs auf einer strikten Abneigung gegen Letztere. Damit soll auch nicht zum Ausdruck gebracht werden, Letztere gehörten der Vergangenheit an. Im Gegenteil, die stärkere Trennung der Begriffe macht es erst möglich, sie einzeln herauszuheben. Bei jedem Pop-Phänomen im hier vorgeschlagenen Sinne kann man nun untersuchen, ob es (teilweise) auch der Populär- oder Massenkultur angehört.
Fasst man etwa Massenkultur als eine Kultur auf, die aus gemeinschafts- und schichtenübergreifenden Publika gebildet wird, werden sich fraglos einige Pop-Gegenstände finden, die dieser Massenkultur angehören. Definiert man Populärkultur als eine Kultur der beherrschten Klassen, in der das als natürlich und einfach Erachtete bevorzugt wird, kann man allenfalls Überschneidungen zu Pop feststellen. Solche Mischformen gibt es allerdings in reicher Zahl. Ohne Künstlichkeit, Funktionalismus, Stilverbund, Oberflächlichkeit (vom Konsumismus ganz zu schweigen) kommt in einzelner oder zusammenhängender Weise schon seit längerem weder der Boulevardjournalismus noch der volksmusikalische Schlager, weder die Fernsehkrimiserie noch die biederste Werbung aus (nur Äußerlichkeit und Immanenz – und offen ausgestellte Künstlichkeit – bleiben der Populärkultur verschlossen).
Experimentell-avantgardistische Varianten von Pop liegen ebenfalls in beachtlicher Zahl vor. Zeichnet sich Pop bereits dadurch aus, dass einzelne Effekte, Sounds, Gags, Schockfarben, sexuelle Reize, schnelle Schnitte und/oder lang anhaltende rhythmische Wiederholungen eine große Beachtung erfahren, steigert die Pop-Avantgarde das noch, indem sie es wesentlich stärker aus seinem narrativen Zusammenhang löst. Fehlt bei Pop nie eine Geschichte, eine Legende, eine Melodienfolge, möchten die avantgardistischen Freunde oder Feinde die Pop-Reize ihres Sinns und ihres Kontextes radikal entkleiden. Warhols Serien und Screen Tests, Burroughs Cut-Up-Texte, äußerst minimalistische Techno-Stücke geben dafür nur einige Beispiele ab.
Wenn man Rock – um eine letzte Scheidung vorzunehmen – identifiziert mit grotesker Körperlichkeit, Rausch, Energie, tiefem Gefühl, gewolltem (natürlich erscheinendem) Primitivismus, Expression, dann tritt der Abstand zu Pop – zum sterileren, äußerlichen, anti-ekstatischen, ganz und gar künstlichen Pop – noch stärker hervor als in der üblichen Trennung von Rock- und Popmusik. Deren gängige Zuordnungen geraten darüber manchmal sogar in Verwirrung: Frank Zappa, Crass und Napalm Death gehören nach der hier vorgeschlagenen Unterscheidung stärker in den Pop-Sektor; Nirvana bleiben trotz ihrer mitunter poppigen Harmonien vollends im Rock-Lager; selbst wenn sie gemeinhin als Ikonen des Rock firmieren, stellen die Rolling Stones wegen Mick Jaggers Ironie eine Mischform dar; gegen ihren Ruf ist Madonna wegen ihres Faibles für ehrliche Botschaften, Mystizismus und orgasmische Sexualität keinesfalls ein reiner Popstar; viele ihrer Singles und einige Videos erfüllen die Pop-Anforderungen allerdings durchweg.
Das Spiel kann nun unendlich weitergehen, nicht nur mit eindeutigen Alternativen (Warhol vs. Böll), sondern auch in allen Schattierungen. Welcher Film fällt eher unter Pop, »Rebel Without A Cause« oder »Psycho«? Ist, gemessen am Gesamtwerk, Nick Hornby ein Pop-Autor oder Bret Easton Ellis? Wen kann man häufiger als Pop-Designer einordnen: Lagerfeld oder Galliano? Was ist die eindeutigere Pop-Marke: McDonald’s oder Starbucks? Weil das Spiel über erklärte Regeln – die sieben Bezugspunkte – verfügt, sollten die Auflösungen klar sein (»Psycho«, Ellis, Lagerfeld, McDonald’s).
Es bleibt die Frage, was der Sinn des Spiels ist. Gibt es einen Grund über die Freude am Spiel mit den Unterscheidungen hinaus (wobei Spiel natürlich auch Machtspiel bedeutet)? Dass man Nominaldefinitionen nicht widerlegen, sondern nur ignorieren oder ablösen kann, war unser Ausgangspunkt. Man kann sie aber auf ihre Nützlichkeit hin prüfen. Die zwei anerkannten wissenschaftlichen Kriterien dafür lauten: Beseitigung von Vagheit und von Wertungen. Zumindest Letzteres ist erreicht: »Oberflächlichkeit«, »Künstlichkeit« etc. sind hier deskriptive, keine negativen (aber auch keine positiven) Begriffe. Ob man die mit Hilfe der Bestandteile Künstlichkeit, Oberflächlichkeit etc. gefassten Pop-Phänomene gut oder schlecht findet, bleibt einer weiteren, anderen Aussage überlassen. Vagheit und Mehrdeutigkeit ist immerhin insofern angegriffen worden, als die sieben Elemente der Pop-Definition nicht nur benannt, sondern näher erläutert wurden. Ob der Versuch erfolgreich war, werden allerdings erst die Reaktionen Dritter deutlich zeigen.
Gewisse Chancen sind dem Versuch jedoch von vornherein einzuräumen, weil er in einigen Punkten an gut eingeführte Konzeptionen anschließt, z.B. an Susan Sontags Essaysammlung »Against Interpretation« (1966) oder an Mary Harrons »McRock. Pop as a Commodity« (Harrons Aufsatz, der 1988 in dem von Simon Frith herausgegebenen Sammelband »Facing the Music« veröffentlich wurde, ist zwar nur wenigen bekannt, ihm kommt aber, weil er Pop-Standpunkte ausformuliert, die etwa von George Melly, Simon Frith, Paul Morley, aus später »Sounds« und früher »Spex« geläufig sind, beinahe Allgemeingültigkeit zu).
Man braucht jedoch nicht einmal Theoretiker und Feuilletonisten bemühen, um die hier vorgestellte Pop-Auffassung, die sich vom Verweis auf je einzelne Gattungen, auf die Charts, auf bestimmte soziale Schichten, auf alltäglichen Widerstand, auf die manipulative Kulturindustrie abhebt, in Umrissen an vielen historischen Orten wiederzufinden. In einem der ersten Nachrichtenmagazinartikel (»Newsweek«, 14. Mai 1956) zu Elvis Presley etwa wird nicht nur ein Wort zur Musik (»rhythmic rock ’n’ roll«, »a coarsened version of what a ›jump‹ band like Count Basie’s does with refinement«) und zum Habitus verloren (»impressive bodily contortions«), sondern auch über sein Aussehen, wie es die Zuschauer beurteilen: »Girls describe Presley as a combination of Marlon Brando and James Dean. […] A local reviewer (adult and male) was less impressed: ›Presley is more of a male burlesque queen than anything else‹«. Denselben Raum nimmt sogar ein Abschnitt über seine Auto-Vorlieben ein: Elvis besitze drei Cadillacs und ein »Messerschmitt tricycle car«; bis vor kurzem sei auch deren Farbgebung klar gewesen: »›I used to be on a pink-and-black kick‹, he says. ›Pink-and-black shirts, even a pink-and-black Cad.‹«
Oder nehmen wir Chris Stamp, Co-Manager von The Who, einen der frühen Mods. In »Stoned« (2000) von Andrew Oldham, einem weiteren Modernist (und Nouvelle-Vague-Anhänger), kurzzeitigem Schaufensterdekorateur von Mary Quant sowie langjährigem Manager der Rolling Stones, berichtet Stamp über die Vorliebe der Mods Anfang der 1960er Jahre: »Elvis, doo-wop, American, but not black stuff particularly.« Es bleibt aber nicht bei musikalischen Angaben, vor allem die Begeisterung für Protagonisten des Modern Jazz verdankt sich stärker den Covern von Blue Note, Columbia und Prestige als den Platten: »We sorta liked Gerry Mulligan, Jimmy Smith and John Coltrane; we weren’t that into Jazz – it was the look.« Von der Mode zur Haltung; die Begeisterung für das Design ist ebenso wenig wie das für die Musik von ästhetischer Interesselosigkeit geprägt: »Subconsciously we knew that blacks had no real power in the States, any more than we did, but their clothes made them look in control, on top, not to be messed with.« Zu Funktionalismus, Oberflächlichkeit, Äußerlichkeit, Konsumismus, Stilverbund kommt mit den Amphetaminen noch Immanenz und Künstlichkeit hinzu: »That attitude was why clothes were part of the triad with music and pills for mods.«
Ob nicht nur die Mods und die New Yorker Entourage Andy Warhols, sondern auch geisteswissenschaftliche Theoretiker diese Partydroge genommen haben, ist nicht bekannt. Offen auf der Hand liegt aber, dass die Vorliebe für Look, Haltung, Oberfläche sich gut mit dem antihermeneutischen Affekt verbinden lässt (gegen die Sinnsuche und psychologische, theologische, ganzheitliche Ausdeutung, für eine »Erotik der Kunst«, wie das Susan Sontag nannte). Dass einige der bekanntesten Strukturalisten und Poststrukturalisten lobende Worte für Pop-Art, Hyperrealismus, Disco-Repetition übrig hatten, passt ins Bild. Mit dieser Vorliebe verträgt sich auch das hier vertretene Pop-Konzept sehr gut.
Dennoch gibt es keinen zwingenden Grund, weshalb so bestimmte Pop-Phänomene bloß mit (post-)strukturalistischen Methoden untersucht werden sollten. Was zweifellos zur Hochwertung von Pop beigetragen hat – der antihermeneutische Angang –, muss die wissenschaftlichen Disziplinen nicht kümmern oder gar binden. Die Wissenschaft, die Pop-Gegenstände betrachtet, braucht keine Pop-Wissenschaft zu sein. Für die wissenschaftliche Analyse ist nicht einmal entscheidend, mit der hier vorgenommenen Unterscheidung von Pop und Populär- bzw. Massenkultur (oder auch mit einer anderen) zu operieren. Noch wichtiger ist, dass die Untersuchung sich anderen gängigen Fragen widmet: Wie ist das Produkt, das Ereignis genau beschaffen? Wer stellt es her, in welchen Medien erscheint es? Wie kann man auf es aufmerksam werden, wie wird es beworben? Wer kauft oder rezipiert es? Wie wird es von Produzenten und Rezipienten klassifiziert? Welche Reaktionen ruft es bei wem hervor? Wie wird es benutzt? In welche Zusammenhänge wird es hineingestellt? Ob man den Gegenstand, die Produktion, die Aufnahme etc. dann als Pop verbucht oder nicht, ist im wissenschaftlichen Zusammenhang eher zweitrangig.
Anders sieht das im alltäglichen und journalistischen Bereich aus. Bestimmte Begriffe, die wichtig sind – und Pop, Populärkultur, Masse, Volk zählen dazu –, stehen dort immer gleich als Kürzel für bedeutsame Einstellungen, starke Wertungen, ganze Weltanschauungen. Die Gebrauchsweise des Pop-Begriffs in den letzten fünfzig Jahren zeigt deutlich einen kulturellen Umschwung an. Was fern humanistischer Bildung, aber auch fern volkskultureller oder rockiger Vorlieben und Auffassungen liegt, genießt mittlerweile einen beträchtlichen Ruf, das geht über die anerkennenden Worte des gymnasialen Kunst- oder Musiklehrers für Jasper Johns oder die Beatles heute weit hinaus. Daran können auch die zitierten, abfällig gemeinten Worte vom Popstar-Populismus oder von der beschleunigten Pop-Ökonomie der Börsenmakler momentan nichts ändern. Sie zeigen allerdings deutlich an, dass die Auseinandersetzung um die Vor- oder Nachteile des Pop-Prinzips längst nicht abgeschlossen ist. Immer noch großer Beliebtheit erfreuen sich vor allem (gerade unter Studenten) die Hinweise darauf, dass ein Produkt kommerziell oder Bestandteil des Mainstreams sei, auch wenn die Sprecher kaum anzugeben vermögen, wieso denn ihre Kauffavoriten weniger kommerziell seien oder wodurch sich der Mainstream heutzutage auszeichne. Selbst das abfällige Wort von der Unterschichtenkultur kann wieder Anhänger finden, als habe es Rock ’n’ Roll und Beat, Doo-Wop und Hip-Hop nie gegeben und stünde die Minderwertigkeit von Werken, wenn sie nicht rein den Mittel- oder gar Oberschichten entspringen, nach wie vor fest.
Als beendet gelten darf die Diskussion wohl bloß in Reihen der Anhänger der Pop-Subversion; ihre Hoffnung, dass Warhol, Zappa, Throbbing Gristle, David Bowie, Underground-Pornografie, queere Geschlechterverwirrung etc. den Bestand einer liberal-kapitalistischen Gesellschaft gefährden könnten, hat sich, wie bereits angedeutet, als wenig tragfähig erwiesen. Das Gegenteil ist der Fall, sie alle zählen heute zum Kanon der (post-)modernen, universitären, musealisierten, im Feuilleton der angesehenen überregionalen Zeitungen ausgebreiteten Kultur. Sie alle gehören zu den möglichen Vorlieben der Angehörigen der Mittel- und Führungsschichten, zumindest vereinzelt tauchen sie im breit gestreuten Kreis der jeweiligen Favoriten dieser Leute auf. Was für einen intellektuellen Mod(ernist), dessen Pop-Begeisterung sich nicht zuletzt daraus speist, dass in der Pop-Welt weder Handke noch Franzen, weder Bach noch Wagner, weder Jauch noch Schirrmacher auftauchen, undenkbar ist, bildet hier den guten Ton: Sich Mangas anschauen, aber auch Filme von Lars von Trier, in eine Impressionismus-Ausstellung gehen und in eine über Modefotografie, eine Single von Carla Bruni anhören und eine CD von Anna Netrebko kaufen. Nicht immer geht es freilich derart pluralistisch zu, besonders unter Doktoranden geisteswissenschaftlicher Fächer, jüngeren Kulturjournalisten, Lektoren, Kuratoren etc. gibt es eine ganze Reihe an Leuten, die sich zwar nicht ausschließlich, aber in konzentrierterer Form für David Foster Wallace, James Blake, Mike Kelley, Rainald Goetz usf. interessieren.
Diesen akademisch, museal, feuilletonistisch erfolgreichen Sektor möchte ich mit dem Begriff Avant-Pop belegen. Zum Avant-Pop zählen jene Künstler, die im Pop-Bereich als besonders kreativ, originell, experimentell oder radikal angesehen werden, da stehen Talking Heads neben Jeff Koons, Quentin Tarantino neben Sonic Youth; in weniger großer Zahl können hier auch gefälligere Vertreter Platz finden, die Supremes oder die Pet Shop Boys. Hervorgebracht wird der Avant-Pop durch eine bestens vertraute Verfahrensweise: Man beurteilt einzelne Artefakte nicht kurz hinsichtlich einer bestimmten Funktion und Wirkung (zum Tanzen bringen, für gute oder angespannte Stimmung sorgen usf.), sondern stellt Werke und Künstler-Persönlichkeiten heraus, die man mit einigem theoretischen und interpretatorischen Aufwand einordnet und beschreibt.
Dadurch ergibt sich eine Teilung innerhalb des Pop-Bereichs, die zuvor häufiger zwischen Pop und anderen Richtungen existierte, etwa zwischen Pop und Rock, Pop und zeitgenössischer Musik oder kurzzeitig auch zwischen Pop-Art und abstrakter Malerei. Diese Teilung ist oftmals weniger eine der Sache als der Bewertung nach. Vom hier vertretenen Pop-Begriff wird sie jedoch nicht gefordert. Mit ihm bleibt der Weg zu einer Hochwertung von Pop-Phänomenen ohne Lob des Kreativen und Experimentellen sowie nach Maßgabe knapper Funktionsangaben und isolierter Betrachtung offen.
Wer den Aufsatz im wissenschaftlichen Zusammenhang zitieren möchte, benutze bitte die mit Seitenzahlen versehene Heftveröffentlichung (»Pop. Kultur und Kritik«, Heft 1, Herbst 2012, S. 88-107).