Das ist kein Thema, über das man gerne schreibt. Ist es auch ein Thema, zu dem man besser in der medialen Öffentlichkeit nichts sagen sollte? In einer Hinsicht schon, zu groß ist der Abstand zwischen dem Elend dort und dem Wohlergehen hier. Einschätzungen, gar Ratschläge besitzen vom sicheren, befriedeten deutschen Boden darum leicht (wahrscheinlich sogar unvermeidlich) etwas Anmaßendes und Obszönes.
Fraglos ist es so, dass dem Schritt, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, in den meisten Fällen ein hoher Leidensdruck vorausgegangen sein muss, wenn es sich um ältere Akteure außerhalb von Armeen handelt (die sich in den niederen Rängen nicht von ungefähr aus frühzeitig gedrillten, jungen Menschen zusammensetzen).
Wenn dieser Schritt nicht nur von einzelnen vollzogen wird, darf er als untrüglicher Indikator dafür genommen werden, dass die Verhältnisse für ganze Bevölkerungsgruppen unerträglich geworden sind. Dies ist erst einmal anzuerkennen und in politischen Kommentaren nicht sofort durch Begriffe wie ›Terrorismus‹ oder ›Realpolitik‹ so oder so zu überdecken und abzuwerten. Auch gilt es wie gesagt zu bedenken, dass der Abstand vom bequemen deutschen Schreibtischstuhl zu den schrecklichen Zuständen dort einfach zu groß ist, um zu Urteilen gelangen zu können, die den Betroffenen angemessen erscheinen.
Dennoch soll das in anderer Hinsicht gerade kein Argument gegen das Bequeme sein (und prinzipiell keins für den Vorrang existenzieller Beglaubigung). Im Gegenteil, allen Argumenten, die bei ihren kritischen Betrachtungen ärmlicher Länder (in denen es neben den reichen Machthabern nur eine vergleichsweise kleine Mittelschicht gibt) vom Fortschritt hin zu allgemein größerem materiellen Wohlergehen (hin zu größerer ›Bequemlichkeit‹) absehen und stattdessen – wie das in der Berichterstattung oft geschieht – allein Freiheitsrechte in den Mittelpunkt stellen, ist zu misstrauen.
Nicht, weil ihr Anliegen grundsätzlich falsch wäre. Viel stärkerer Schutz des Einzelnen vor staatlicher (exekutiver wie juristischer) Gewalt, vergrößerte Meinungs- und Pressefreiheit – das sind hoch berechtigte Forderungen. Zu beschränkt ist diese Forderung aber, weil sie an den drängenden Bedürfnissen weiter Teile der Bevölkerung vorbeigeht. Eine Folge der Art, dass größere individuelle Freiheitsrechte zwingend zu höherem Lebensstandard führten, gibt es leider nicht.
Deshalb liegen nun einmal bestimmte liberale Rechte Schriftstellern, Journalisten, Geisteswissenschaftlern, oppositionellen Politikern näher am Herzen als dem großen Rest der Bevölkerung, die in ihrem täglichen Dasein viel weniger von den Einschränkungen solcher Rechte betroffen ist als von anderen Mangelerfahrungen.
Demokratische Wahlen führen unter solchen Bedingungen recht häufig nur dazu, dass die (regionalen, religiösen usw.) Unterschiede innerhalb des Staatsvolks neu dokumentiert oder sogar vertieft werden – falls auf die Wahl nicht eine Regierungskoalition ›nationaler Einheit‹ folgt (für die im Regelfall Aushandlungen unabhängig vom Wahlakt ohnehin wichtiger sind), sondern die diskriminierende Machtausübung der Vertreter einer (relativen) Mehrheit über die Wahlverlierer.
Die Frage, ob es sich dafür lohnt, ins Gefängnis zu gehen oder die Waffe in die Hand zu nehmen, ist deshalb selbst aus westlich-demokratischer Sicht nicht zwangsläufig zu bejahen. Umso dringlicher ist es, die Beweggründe für die Gewalthandlungen zu überprüfen, auch aus der Distanz heraus. Denn in einer Hinsicht besteht gar kein Abstand vom westlichen Alltag hier zu den blutigen Kämpfen dort: Fast kein Aufstand in den ärmlichen Ländern kommt ohne Betreiben westlicher Diplomatie, Geheimdienst- und Militäraktionen entscheidend voran.
Die westlichen Massenmedien, besonders die TV-Anstalten und großen Presseorgane, fungieren dabei für gewöhnlich auf breiter Front als Parteigänger der jeweiligen nationalen Regierungen und/oder der westlichen Bündnisorganisationen. Dadurch gehören Revolution und Krieg auch zur Alltagsroutine all der Leute, die gemütlich zu Hause oder bei Reisen, deren größte Gefahr darin liegt, dass sich Verspätungen von ein paar Minuten ergeben, Nachrichtensendungen sehen und Tageszeitungen lesen.
Jedes Jahr liefert dafür neue Beispiele. In den nächsten beiden Folgen dieser kleinen Artikelserie geht es um Libyen als den schon wieder vergessenen und um Syrien als den aktuellen Berichtsort solch internationaler Bemühungen um einen gewaltsam herbeigeführten Regimewechsel.